Dtsch Med Wochenschr 2001; 126(24): 737-738
DOI: 10.1055/s-2001-15029
Fragen aus der Praxis
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Klassifizierung des Diabetes mellitus

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Publication Date:
31 December 2001 (online)

Frage: Bei der Klassifizierung des Diabetes mellitus soll es neue Richtlinien gegeben haben.

- Wie ist dabei der Stand der Diskussion und welche Rolle spielen noch Begriffe wie „latenter” oder „subklinischer Diabetes”? Darüber hinaus interessiert, was es mit dem LADA-Diabetes auf sich hat und ob ein frühzeitiger Insulineinsatz beim klassischen Typ-2-Diabetes sinnvoll ist.

Antwort: Der Einfachheit halber seien die neuen Kriterien, wie sie von der American Diabetes Association (ADA) erarbeitet wurden und weitgehend Anerkennung gefunden haben, in einer Tabelle wiedergegeben [Tab. 1]. Am wichtigsten ist dabei die definitive Einführung der Begriffe Typ-1- und Typ-2-Diabetes und die Neuordnung anderer spezifischer Typen, genetischer Defekte, Erkrankungen des exokrinen Pankreas, Endokrinopathien und weiterer Besonderheiten einer notwendig gewordenen neuen Klassifikation. Die Eliminierung der überfälligen, irreführenden Begriffe IDDM (insulin-dependent diabetes mellitus) und NIDDM (non-insulin-dependent diabetes mellitus) zugunsten der Bezeichnung Typ-1- bzw. Typ-2-Diabetes ist vernünftig. Schon bisher war es wenig hilfreich, wenn einer der vielen insulinbedürftigen Typ-2-Diabetiker als „nicht-insulinabhängig” bezeichnet wurde. Die ADA hat keine Unterscheidung mehr in Typ-2a- und Typ-2b-Diabetiker vorgenommen, was aber nicht von allen Autoren befolgt wird. Im ganzen ist es nämlich ganz nützlich, jene ca. 85 % übergewichtige Typ-2b-Diabetiker abzugrenzen von jenen Typ-2a-Diabetikern, die normal- oder untergewichtig sind. Sicherlich hat sich aber die ADA bei der fehlenden Betonung dieser beiden Diabetestypen etwas gedacht. So ist in der Tat anzumerken, dass der Begriff des Typ-2a-Diabetes „verschleiernd” wirksam werden kann, indem die Situation, die als LADA bezeichnet wird, nicht erkannt wird. Durch die zunehmende Verbreitung der Immundiagnostik wurden ja immer mehr Fälle von Autoimmundiabetes nach dem 40. Lebensjahr diagnostiziert, also in dem Bereich, in dem sich vornehmlich Typ-2-Diabetiker finden. Diese Form des Typ-1-Diabetes wird als LADA (late onset autoimmunity diabetes in the adult) bezeichnet. Die Patienten weisen häufig positive Immunmarker auf und werden eben leider klinisch meist als Typ-2a-Diabetiker betrachtet und erfahrungsgemäß innerhalb weniger Monate oder Jahre insulinpflichtig. Deshalb raten wir [1] unbedingt dazu, diese Patienten, selbst wenn es sich nicht um LADA-Diabetiker, sondern um normal- oder untergewichtige Typ-2-Diabetiker handelt, von vornherein mit Insulin zu behandeln.

Die Begriffe latenter oder subklinischer Diabetes sind schon vor vielen Jahren fallengelassen worden zugunsten des Begriffes einer „gestörten Glukosetoleranz”. Die Begründung hierfür war die Überlegung, dass viele Patienten mit einer solchen Stoffwechselstörung keinen manifesten Diabetes entwickeln und deshalb nur als in ihrer Glukosetoleranz gestört bezeichnet und nicht verängstigt werden sollen. Hier ist ein entscheidender Sinneswandel eingetreten: Man hat erkennen müssen, dass die Phase der gestörten Glukosetoleranz gemäß den Parametern des oralen Glukostetoleranztests durchaus bereits mit erheblichen Gefäßrisiken einhergeht und deshalb als krankhafter Zustand bezeichnet werden muss. Es ist dabei unerheblich, ob bei solchen Patienten früher oder später eine Manifestation des Diabetes mit höheren Blutzuckerwerten eintritt. Entscheidend ist, dass z. B. übergewichtige Patienten mit dieser gestörten Glukosetoleranz frühzeitig, d. h. rechtzeitig einer Ernährungs- und Bewegungstherapie zugeführt werden [2]. Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die ADA zur Diagnostik des Diabetes mellitus die Phase der „gestörten Glukosehomöostase” mit pathologischem Nüchternblutzucker von 100 mg/dl (Vollblut) und mehr eingeführt hat, sofern noch kein manifester Diabetes besteht [3]. Um diese neuen Diagnostikempfehlungen gibt es aber derzeit viele Diskussionen. Besonders von englischen Autoren wird darauf hingewiesen, dass die Kombination von Nüchtern- und Belastungsblutzucker sicher besser ist als die alleinige Betrachtung des Nüchternwertes. Zusammenfassend beschreibt Davies [4] die Situation im Hinblick auf die Diagnostik wie folgt: Die Absenkung des Nüchternblutzuckerwertes als Kriterium sollte in jedem Fall gemäß den ADA-Werten erfolgen. Man muss aber leider erwarten, dass der Wegfall des Zwei-Stunden-Wertes im oralen Glukosetoleranztest als diagnostisches Kriterium zu einer Senkung der Diabetikerzahlen führen würde, die durch die zusätzliche Untersuchung im OGTT entsprechend höher wäre. Ferner - so Davies - sei zu bedenken, dass Patienten mit „gestörter Glukosetoleranz” und Patienten mit „gestörter Nüchternglukose” keine absolut vergleichbaren Gruppen bilden. Dabei scheint diesem Autor als Prädiktor für die Entwicklung eines Diabetes der Begriff der gestörten Glukosetoleranz nach wie vor wertvoller zu sein. Es sollte also nach Davies an den alten Kriterien von 1985 festgehalten werden, die in der Tat dem oralen Glukosetoleranztest die größte Bedeutung bei der Diagnose einräumen. Unserer Ansicht nach bedarf es aber nicht in jedem Falle dieses Tests für die Diagnose. Wenn postprandial ein oder zwei Stunden nach dem Frühstück Blutzuckerwerte von 160-180 überschritten werden bzw. wenn der Nüchternblutzucker über 110 mg/dl liegt, kann man sicherlich auch ohne oralen Glukosetoleranztest von einem manifesten Diabetes sprechen. Inzwischen hat sich - wie erwartet - die WHO in allen wesentlichen Punkten hinsichtlich Definition, Diagnose und Klassifikation des Diabetes und seiner Komplikationen den obigen Ausführungen (basierend auf den Kriterien der ADA und der beschriebenen Ergänzungen) angeschlossen.

Die letzte Frage, die aufgeworfen wurde, bezieht sich auf den frühzeitigen Insulineinsatz beim klassischen Typ-2-Diabetes. Wie schon erwähnt, ist bei der Sonderform des „Typ-2a-Diabetes” ein frühzeitiger Einsatz von Insulin meist erforderlich. Ganz anders liegen die Verhältnisse beim übergewichtigen Typ-2-Diabetiker. Wie die große britische UKPDS-Studie [1, 2] gezeigt hat, gilt auch für den Typ-2-Diabetes, dass eine weitgehende Normalisierung des Blutzuckers bzw. HbA1c-Wertes die Prognose der vaskulären und neuropathischen Schäden entscheidend verbessert. Dabei ist es gleichgültig, welche Medikamente zur Erreichung dieser Therapieziele verwendet werden, wenn nur der Blutzucker (sowie der Blutdruck und die Lipide) dauerhaft gesenkt und an die normalen Werten herangeführt werden. Die UKPDS hat gelehrt - und dies wird von den englischen Autoren ausdrücklich hervorgehoben -, dass der Beginn der medikamentösen Therapie des Typ-2-Diabetes in der Regel mit oralen Antidiabetika stattzufinden hat. Wenngleich der Insulintherapie keine atherogenen Eigenschaften zuzuschreiben sind, sind doch die fast stets induzierte erhebliche Gewichtszunahme und die vermehrten Hypoglykämien im Vergleich zur Therapie mit oralen Antidiabetika als Nachteil anzusehen. Die ärztliche Erfahrung lässt erkennen, dass die Forderung der englischen UKPDS-Autoren berechtigt ist, die Möglichkeiten einer Polypharmacy auszuschöpfen und dabei entsprechende Kombinationen oraler Antidiabetika zu verwenden. Trotz der allgemein schlechten Erfahrung im Hinblick auf die Diät-Compliance der Diabetiker ist es jedoch fast als Kunstfehler anzusehen, wenn man bei übergewichtigen Typ-2-Diabetikern vorher nicht den Versuch einer alleinigen diätetischen Behandlung macht. Unter den nicht-insulinotropen Antidiabetika bieten sich bei stark übergewichtigen, insulinresistenten, hypertriglyzeridämischen und frisch manifestierten Typ-2-Diabetikern Alpha-Glukosidasehemmer sowie Metformin und die Glitazone (Rosiglitazon und Pioglitazon) an. Metformin hat von allen geprüften Antidiabetika bei der UKPDS besonders gut abgeschnitten. Aber auch für die anderen Medikamente ist in der Differentialtherapie Platz. Dies gilt im weiteren Verlauf auch für die stark verbreiteten Sulfonylharnstoffe sowie für den insulinotropen Benzoesäureabkömmling Repaglinide und für das Phenylalaninderivat Nateglinide. Das viel verwendete Glibenclamid sollte trotz der nicht ungünstigen Ergebnisse in der UKPDS z. B. durch Glimepirid abgelöst werden. Der Grund hierfür ist darin zu sehen, dass Glimepirid nur einmal am Tag verabreicht wird, extrapankreatische Wirkungen hat und vor allem in quantitativer und qualitativer Hinsicht bei den durch Sulfonylharnstoffe induzierten Hypoglykämien wesentlich besser abschneidet als Glibenclamid. Letzteres gilt auch für die erwähnten Glinide. Insulin - bei sicherlich mehr als 800 000 deutschen Typ-2-Diabetikern angewendet - kann in Kombination mit oralen Antidiabetika oder als Monotherapie eingesetzt werden. Bei allen Vorzügen der oralen antidiabetika hat zu gelten, dass diese Substanzen nur dann in der Therapie des Typ-2-Diabetes eine Berechtigung haben, wenn mit ihrem Einsatz optimale Blutzuckerverhältnisse erzielt werden können. Andernfalls ist unverzüglich auf Insulin überzugehen.

Literatur

  • 1 Mehnert H. Typ-2-Diabetes. München; Medikon-Verlag 2000 2. Auflage
  • 2 Mehnert H, Standl E, Usadel K -H. Diabetologie in Klinik und Praxis. Stuttgart, New York; Thieme Verlag 1999 4. Auflage
  • 3 American Diabetes Association . New recommendations about the diagnosis and classification of diabetes mellitus.  Diabetes Care. 1997;  20 1183-1195
  • 4 Davies M J. A change in the diagnostic criteria for diabetes mellitus: What will the impact be?.  Pract Diab Int. 1998;  15 227-229
  • 5 Definition, Diagnosis and Classification of Diabetes Mellitus and its Complications. Report of a WHO Consultation Geneva; World Health Organization (WHO/NCD/NCS/99: Geneva, 1999) 1999 Part 1

Professor Dr H Mehnert

Institut für Diabetesforschung am Krankenhaus Schwabing

Kölner Platz 1

80804 München

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