Zeitschrift für Palliativmedizin 2012; 13 - FV29
DOI: 10.1055/s-0032-1322985

Die Vertreterverfügung für den Notfall: beharrlich beschwiegen – aber ethisch geboten, medizinisch sinnvoll, rechtlich möglich und praktisch Realität

J in der Schmitten 1, S Sommer 1, C Mellert 1, S Rothärmel 2, K Wegscheider 3, S Rixen 4, G Marckmann 5
  • 1Institut für Allgemeinmedizin, Medizinische Fakultät der Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf, Germany
  • 2Lehrstuhl für Deutsches, Europäisches und Internationales Straf- und Strafprozessrecht, Medizin- und Biorecht, Juristische Fakultät der Universität, Augsburg, Germany
  • 3Abteilung für Medizinische Biometrie und Epidemiologie, Universitätsklinikum, Hamburg, Germany
  • 4Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sozialwirtschafts- und Gesundheitsrecht, Juristische Fakultät der Universität, Bayreuth, Germany
  • 5Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin, Ludwig-Maximilians-Universität, München, Germany

Hintergrund: Wie ist zu verfahren, wenn bei einem dauerhaft nicht-einwilligungsfähigen Patienten keine Patientenverfügung vorliegt und im Notfall eine Behandlungsentscheidung ohne Beteiligung des Vertreters getroffen werden muss? Das „Patientenverfügungsgesetz“ regelt diese – in Altenheimen alltägliche – Frage nicht explizit, weist dem Vertreter jedoch implizit die Verantwortung zu, auch diesen Fall im Sinne des Betroffenen zu klären. Das dafür erforderliche Instrument, die Vertreterverfügung, wird in Deutschland bisher nicht als solche bezeichnet und nicht öffentlich diskutiert. Wir wollten wissen, ob die Praxis der Diskussion voraus ist.

Methoden: Als Vertreterverfügungen (VV) definierten wir medizinische Vorausverfügungen, die von Dritten für eine dauerhaft nicht-einwilligungsfähige Person erstellt wurden. In zwei Erhebungen wurde das Vorkommen von VV untersucht: (1) im Rahmen einer Querschnitts-Vollerhebung aller in den 11 Altenheimen einer Großstadt aufzufindenden Vorausverfügungen und (2) als Baseline-Querschnittserhebung in 14 Heimen aus drei Mittelstädten im Rahmen einer kontrollierten Interventionsstudie.

Ergebnisse: Die 11 Altenheime einer Großstadt (insgesamt 1089 Bewohnerplätze) meldeten uns das Vorliegen von 135 Vorausverfügungen (12,4%). 109 der betreffenden Bewohner bzw. ihrer Vertreter stimmten einer Analyse dieser Verfügungen zu; dabei fand sich in 13 (11%) Fällen eine Vertreterverfügung (VV). In den 14 Heimen dreier Mittelstädte stimmten 575 Bewohner der Teilnahme an unserer Studie zu; von diesen hatten 97 (16,9%) eine Vorausverfügung, 24 (25%) dieser Verfügungen waren VV.

Schlussfolgerung: Vertreterverfügungen (VV) sind eine verbreitete Realität in deutschen Altenheimen; in unseren beiden Erhebungen stellten sie ein Zehntel bzw. ein Viertel aller Vorausverfügungen. Es ist dringend erforderlich, VV öffentlich zu diskutieren, allen Betroffenen zugänglich zu machen und gleichzeitig auf die Einhaltung ethischer und rechtlicher Standards zu achten.