Geburtshilfe Frauenheilkd 2012; 72(7): 583-584
DOI: 10.1055/s-0032-1315029
Aktuell diskutiert
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Diskussion. Kommentar zu „Kinderwunschbehandlung – hier in Deutschland oder doch besser im Ausland?“

Geburtsh Frauenheilk 2012; 72: 275–277
Dietmar Spitzer
,
Nicolas H. Zech
,
Herbert Zech
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Publication History

Publication Date:
31 July 2012 (online)

In seiner Darstellung der derzeitigen Praxis der Kinderwunschbehandlung in Deutschland kommt S. Kissler zu dem Schluss, dass sich in der Vergangenheit „der Vorteil einer herkömmlichen IVF- oder ICSI-Behandlung – z. B. in Österreich – in offiziellen Statistiken nie eindeutig belegen ließ und die durchschnittlichen Schwangerschaftsraten bei Frauen bis zum 35. Lebensjahr bei 35–40 % pro Embryotransfer (ET) lagen. Auch bei älteren Patientinnen waren die Ergebnisse vergleichbar, obwohl einige Zentren anderes behaupten“ [1]. Nun mag man dem Autor diese „Tatsachen“ glauben, untermauert durch eine Literaturangabe wurden sie allerdings nicht. Vergleicht man dazu die Zahlen der beiden nationalen Register (DIR und IVF-Fonds-Register), jeweils aus den Jahren 2010, bei Frauen < 40 Jahren, so stellen sich die Fakten folgendermaßen dar ([Tab. 1]). Tatsächlich lag die Schwangerschaftsrate (SSR) pro ET in Österreich nur um 4,8 % höher als in Deutschland (36,7 gegenüber 31,9 %) [2, 3]. Zwei Gründe sind dafür verantwortlich:

Tab. 1 IVF-/ICSI-Behandlungen bei Frauen < 40 Jahren (DIR = Deutsches IVF-Register, Österreichisches IVF-Fonds-Register).

IVF/ICSI

Follikel-Punktionen

Embryo-Transfers

klinische Schwangerschaften

klinische SSR pro Punktion

klinische SSR pro ET

DIR, 2010 [3]

34 090

31 557

10 071

29,6 %

31,9 %

IVF-Fonds-Register, 2010 [2]

5 876

5 428

1 993

33,9 %

36,7 %

  1. Als klinische Schwangerschaft gilt in Österreich der Nachweis der positiven Herzaktion in der frühestens 6 + 1. Schwangerschaftswoche (ET + 4 Wochen + 1 Tag). Diese muss mit einem Ultraschallbild dokumentiert sein. In Deutschland reicht dagegen schon der sonografisch gesicherte (aber nicht mit Bild dokumentierte) Nachweis des Gestationssacks.

  2. Zwischen 2007 und 2010 wurde in Österreich nur in 40 % bis maximal 46,3 % der Zyklen ein Blastozysten-(BZ-)ET durchgeführt [2]! Das heißt, dass auch in Österreich bei Weitem noch nicht alle 28 Zentren die Blastozystenkultur beherrschen, obwohl sie jahrelang Gelegenheit hatten, sie zu etablieren. Blastozystenkultivierung erfordert nämlich eine ausgezeichnete Laborqualität, viel Erfahrung und eine 7-Tage-Woche.

Für die Zukunft sieht nach Ansicht des Autors die Prognose in Deutschland noch wesentlich günstiger aus, weil „im Laufe des Jahres 2011 sich die neue Interpretation des Embryonenschutzgesetzes (ESchG) ‚deutscher Mittelweg‘ flächendeckend durchgesetzt hat und dadurch eine Auslandsbehandlung in keiner Weise Erfolg versprechender als eine Behandlung in Deutschland ist“ [1]. Ausgehend von den österreichischen Erfahrungen sollte man aber auch in Deutschland eine mehrjährige Lernkurve bis zur Perfektionierung der BZ-Kultur nicht ausschließen.

Auch im DIR wird 2010 bestätigt, dass sich in vielen Regionen Deutschlands eine liberale Auslegung des ESchG, der sogenannte „deutsche Mittelweg“ etabliert hat [3]. Die in den vergangenen Jahren vor allem in Bayern durchgeführte Praxis der Embryonenselektion hat sich offensichtlich in den letzten Jahren bundesweit ausgebreitet, und nach Meinung des Autors entspricht dies auch den Vorgaben des ESchG. Diese Meinung wird von R. Riedl dagegen nicht geteilt, wenn sie schreibt: „Diese Auslegung, die den elektiven Single Embryo Transfer (eSET) bzw. elektiven Double Embryo Transfer (eDET) bereits heute für zulässig hält, widerspricht jedoch sowohl dem eindeutigen Wortlaut und Wortsinn des Gesetzes, als auch dem systematischen Zusammenhang der Nr. 3 und Nr. 5 und dem Willen des Gesetzgebers und den ethisch-rechtlichen Motiven des ESchG, bei denen der grundrechtlich erforderliche Lebensschutz des Embryos in vitro und damit zusammenhängend die Vermeidung der Entstehung überzähliger Embryonen und die Verhinderung einer Befruchtung auf Vorrat bestimmend waren. Der Arzt nimmt es beim eSET/eDET-Verfahren demgegenüber in Kauf, mehr Embryonen zu erzeugen als in einem Zyklus auf die Frau übertragen werden sollen.“ [4].

Hinsichtlich Vorratsbefruchtung widerlegen die Daten der Register von 2010 auch das Vorurteil, in Österreich würde deshalb höher stimuliert. Pro Follikelpunktion war die Zahl der gewonnenen Eizellen mit 10,1 in Deutschland praktisch identisch mit den 9,9 in Österreich durchschnittlich gewonnenen Eizellen [2, 3].

Auch in der (Muster-)Richtlinie zur Durchführung der assistierten Reproduktion (Novelle 2006) wird die Problematik der Gesetzeskonformität medizinrechtlich kontrovers diskutiert. In Zusammenschau der Bestimmungen in § 1 Abs. 1 Nr. 5 und Nr. 3 ESchG kommt man aber auch hier zur Schlussfolgerung, dass es gegenwärtig nicht zulässig ist, mehr als 3 Eizellen zu befruchten und in einem Zyklus dann nur einen oder allenfalls 2 dieser Embryonen zu übertragen [5]. Insgesamt sieht man es als „ethisch wünschenswert“ an, dass „der Gesetzgeber eine Klarstellung vornimmt“, der zufolge die morphologische Beobachtung von Embryonen vor der Implantation mit nachfolgendem Single-Embryo-Transfer zukünftig statthaft ist. Diese „Klarstellung“ ist allerdings bis heute nicht erfolgt.

Über viele Jahre wurde von zahlreichen deutschen Reproduktionsmedizinern bestritten, dass mit der BZ-Kultivierung höhere Schwangerschaftsraten erreichbar sind (IVF-Fonds-Register 2010: SSR pro ET bei BZ-ET 41,6 % gegenüber„klassischer“ ET 30,7 %) [2, 6, 7]. Endlich wird nun, wie auch in dieser Publikation, die BZ-Kultur als „Goldstandard“ bestätigt, und zudem darauf hingewiesen, dass die Embryonenselektion notwendig ist, „da im Durchschnitt nur 20–30 % der gebildeten Embryonen ein Blastozysten-Stadium erreichen.“ Es wird betont, dass: „Ärzte, die so vorgehen, gewissenhaft und nach höchstem wissenschaftlichem Standard handeln“.

Zwei Fragen drängen sich nach der vorangegangenen Darstellung auf:

  1. Wie ist es möglich, dass eine Vielzahl von deutschen Gynäkologen einer staatsanwaltschaftlichen Untersuchung unterzogen werden (mit dem Vorwurf: Beihilfe bei der Umgehung des Deutschen ESchG bei einer Behandlung im Ausland geleistet zu haben), wenn die von ihnen betreuten Patientinnen in Deutschland de facto die gleiche Behandlung bekommen und dies dann als vorbildlich (gewissenhaft und wissenschaftlich) beurteilt wird?

  2. Wie ist es zu rechtfertigen, dass deutsche Patientinnen die Behandlung im Ausland nicht bezahlt bekommen, weil das Deutsche ESchG nicht eingehalten wird, innerhalb Deutschlands aber die Frage, ob der „deutsche Mittelweg“ (noch) dem ESchG entspricht, weiterhin unbeantwortet ist?

Es wäre im Sinne der Patientinnen und der betroffenen Kollegen höchste Zeit, klare und für alle gültige Richtlinien zu schaffen.

Literatur beim Autor.