Z Sex Forsch 2011; 24(3): 279-291
DOI: 10.1055/s-0031-128708
DEBATTE

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Kritik evolutionspsychologischer Sexualforschung

Volkmar Sigusch
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Publication Date:
15 September 2011 (online)

Ungern folge ich der Aufforderung, die Aussagen des Schwerpunktheftes „Evolutionspsychologie der Sexualität“ zu diskutieren, das Reinhard Maß im Juni 2011 als Gast herausgegeben hat. Ich fürchte jedoch, es muss sein, damit sich dieses Denken nicht in der „Zeitschrift für Sexualforschung“ übermäßig ausbreitet, zumal der Verlag Elsevier inzwischen die Zeitschrift „Sexuologie“ aufgegeben hat. 

Hören wir zunächst einmal, mit welchen Aussagen uns der Gast-Herausgeber für die evolutionspsychologische Sexualforschung in seinem Editorial zu begeistern sucht. Er sagt: „Wir sind mit all unseren körperlichen und psychischen Ausstattungen Kinder des Pleistozäns und optimiert dafür, in kleineren Gemeinschaften als Jäger und Sammler durch die Savanne zu ziehen […]. Viele unserer Bedürfnisse, Vorlieben und Abneigungen […] lassen sich aus der stammesgeschichtlichen Entwicklung des Menschen als genetisch manifestierte Anpassungen an frühere Lebensbedingungen erklären. […] Auch die menschliche Sexualität ist durch eine Vielzahl genetisch vererbter, evolvierter, psychologischer Mechanismen gekennzeichnet, welche Einfluss auf unsere Vorlieben und Bedürfnisse sowie auf unser Verhalten haben. […] Ein häufig angeführtes Beispiel zur Veranschaulichung ist die Fähigkeit der Fußhaut, Horn zu bilden“ (Maß 2011: 105 f.). 

Bei weiteren, aus der Sicht des Herausgebers überaus erhellenden Forschungsergebnissen geht es um die Interpretation eines Lächelns zwischen Mann und Frau, um die Diskrepanz zwischen dem Wunsch nach Treue und dem tatsächlichen Verhalten sowie im Fortgang des Heftes um „sexuellen Zwang bei Primaten“, weil der Mensch „eine von mehreren hundert Primatenarten“ sei, „die es derzeit (noch) gibt“ (ebd.: 107), um den Vergleich von „Sexualdimorphismus und Hodengröße“, der darauf schließen lasse, „dass Menschen in ihrer Entwicklungsgeschichte vermutlich überwiegend in Partnerschaftsformen gelebt haben, die meist monogam, aber teilweise auch polygyn und tendenziell exklusiv waren“, um „Eifersucht in Liebesbeziehungen“ (ebd.: 108) usw. 

An dieser Stelle war meine Geduld bereits erschöpft. Liebe, Eifersucht, Beziehungen, sexuelles Lächeln, sexuelle Gewalt, ja Sexualität katexochen gegenwärtiger Menschen in einer bestimmten gegenwärtigen Kultur und Gesellschaft werden auf mehr oder weniger genetisch verankerte stammesgeschichtliche Adaptationen zurückgeführt, deren Basis im Pleistozän gelegt worden sei, das vor etwa 2,5 Millionen Jahren begann. Greifbare Spuren der Emotionen haben sich natürlich nicht niederschlagen können in Fossilien. Alle Aussagen über das sog. Liebes- und Sexualleben der Jäger und Sammler sind logischerweise Spekulationen. Dabei übersehen die Spekulanten, dass es bei all dem, was sie zu erörtern suchen, nicht um etwas Sexuelles im heutigen kulturellen Sinne und damit um Sexual-Subjekte geht, sondern um Fortpflanzung und Arterhaltung im biologischen Sinne. Bei Greenstein (1993: U4) heißt es zusammenfassend zum Beispiel: „First and foremost, man is a fertilizer of women. His need to inject genes into a female is so strong that it dominates his life from puberty to death. This need is even stronger than the urge to kill. […] It could even be said that production and supply of sperm is his only raison d’être“. Auch nehmen Evolutionspsychologen generell nicht zur Kenntnis, was es bedeutet, wenn sie über biotische Vorgänge wie Mitglieder einer kapitalistischen Gesellschaft sprechen (beispielsweise ist die Rede von „reproduktiver Investition“ und „elterlichem Investment“) oder wenn sie Gene als „egoistisch“ durchschaut haben wollen (Dawkins 1978). 

Wie irritierend müssen akute Sexual- und Geschlechtsverhältnisse, wie ratlos müssen sog. Experten sein, wenn sie in derartige Spekulationen flüchten, die niemand überprüfen kann, wenn sie komplexe Verhältnisse auf einfachste Formeln bringen wollen, denen zufolge Männer promiske Frauenbefruchter sind, Frauen sich dagegen genetisch nach Monogamie sehnen, während unsere in der Steinzeit erprobten Gene jetzt zu Zeiten des Kapitalismus unser selbstmütiges Gefühlsleben dirigieren. Unglaublich ist diese Sicht der Dinge, doch offenbar wundersam beruhigend ist dieser anachronistische Reduktionismus. Die dritte sexuelle Revolution unserer Gegenwart, die ich die neosexuelle genannt habe (vgl. z. B. Sigusch 1996, 1998, 2000, 2004, 2005 b, 2008 a, 2011), verwirrt offenbar mit ihren Neoallianzen, Neogeschlechtern und Neosexualitäten ganz enorm. Jedenfalls geriert sich die Evolutionspsychologie seither als eigenständige Disziplin und versucht, eine ebenso feststehende wie klare Ordnung zu insinuieren. Angesichts der einschneidenden Veränderungen könnte manfrau die Ängste und die Verwirrtheit verstehen. Schließlich hat die neosexuelle Revolu­tion der letzten Jahrzehnte die Vertreterinnen und Vertreter vordem verpönter oder gar nicht bekannter Sexual- und Geschlechtsformen, vom Casual Sex bis zur Neozoophilie und von der Polyamorie bis hin zur Asexualität und Objektophilie zu Wort kommen lassen, mehr oder weniger toleriert oder sogar staatsrechtlich anerkannt. Die neosexuelle Revolution hat aber Sexuelles und Geschlechtliches nicht nur in die Performativität getrieben, sondern in die Emergenz (oder treffender gesagt: in die Fulguration), indem eine kollektive, elektronisch erfasste und zu beobachtende Sexualform entstanden ist, die es historisch zuvor nicht geben konnte, weil die zugrunde liegende Technologie gar nicht existierte. Mit anderen Worten: Die Internetsexualität im weitesten Sinne, die vielleicht passender E-Sex genannt werden sollte, ist eine emergente bzw. fulgurative Neosexualität. Ihre Erforschung wird zukünftig im Zentrum kritischer Sexualwissenschaft stehen. 

Literatur

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1 Objektiv (und nicht Dispositiv) nenne ich eine gesellschaftliche Installation, in der sich materiell-diskursive Kulturtechniken, Symbole, Lebenspraktiken, Wirtschafts- und Wissensformen auf eine Weise vernetzen, die eine historisch neuartige Konstruktion von Wirklichkeit entstehen lässt. Da sich diese Installationen, einmal etabliert, aus sich selbst heraus generieren, imponieren sie in eher alltagssoziologischer Betrachtung als Sachzwänge, denen nichts Wirksames entgegengesetzt werden kann, und in eher alltagspsychologischer und ethisch-rechtlicher Betrachtung erscheinen sie als Normalität und Normativität, die einzig in der Lage sind, Ordnung, Ruhe und Sicherheit zu garantieren. Beim mittleren Foucault tritt an die Theoriestelle des diskursiven Ereignisses („événement discoursiv“) oder Diskurses, der bereits transsubjektiv, das heißt subjektüberschreitend ist, in der Genealogie und Analytik der Macht das „dispositif“ (z. B. 1976 / 1977: 35; 1978: 119 ff.). Darunter ist eine jeweils historisch spezifische Machtstrategie zur Integration von diskursiven (Aussageformationen) und nichtdiskursiven Praktiken (Inhaltsformationen institutioneller, ökonomischer, sozialer, politischer usw. Art) zu verstehen, eine Integration von Innen (das Gleiche) und Außen (das Andere, das Schweigen). Die konkrete Gestalt des Dispositivs wird nicht philosophisch, sondern sozialgeschichtlich bestimmt. Soll die hinter diesem Theorem stehende Philosophie der Macht, die nicht zuletzt den Faden der Kritik der Politischen Ökonomie abreißen lässt, nicht mittransportiert werden, bietet es sich an, statt von Dispositiven von Objektiven zu sprechen.

Prof. em. Dr. med. habil. V. Sigusch

Institut für Sexualwissenschaft, Klinikum der Universität Frankfurt am Main, jetzt: Praxisklinik Vitalicum am Opernplatz

Neue Mainzer Straße 84

60311 Frankfurt am Main

Email: Sigusch@em.uni-frankfurt.de

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