PiD - Psychotherapie im Dialog 2012; 13(1): 1
DOI: 10.1055/s-0031-1277008
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Diagnostik und Evaluation – zähneknirschend oder neugierig?

Henning  Schauenburg, Volker  Köllner
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Publication Date:
08 March 2012 (online)

Die PiD hat sich diesmal ein auf den ersten Blick etwas trockenes Thema ausgesucht. Und noch dazu eines, das in Psychotherapeutenkreisen hochgradig ambivalent besetzt ist. Diagnostik? „Machen wir, weil wir müssen.“ „ICD ist doch für unser Feld kaum relevant“, „ist trivial und haben wir doch alle in der Ausbildung schon gelernt“. Oder: „verzerrt nur den therapeutischen Kontakt und engt uns ein“. Das ist nur ein Teil der typischen Reaktionen auf das Thema standardisierte Diagnostik. Diese hat also im Feld der Psychotherapie einen zwiespältigen Ruf.

Und Evaluation, also die normierte Erhebung von Veränderungen durch Psychotherapie, sei es im Verlauf, sei es zum Ende einer Therapie? Obwohl jeder im Prinzip den Sinn anerkennt, therapeutische Ergebnisse zu dokumentieren, ist angesichts des Wissens um die Komplexität von Veränderungen und deren Dynamik und Dauerhaftigkeit die Skepsis gegenüber standardisierten Erhebungen groß.

Wie können wir Sie also für unser neues Heft erwärmen?

Es ist richtig, Diagnostik ist einerseits Grundlage unseres Handelns, insofern wir erst dann sinnvoll therapeutisch tätig werden können, wenn wir die Probleme unseres Gegenübers, wenn nicht verstanden, so doch wenigstens eingeordnet haben. Aber dann ist es mit der Akzeptanz auch schon schnell vorbei. Die von den Krankenkassen geforderte Vergabe von ICD-Ziffern hängt nicht unbedingt mit den lebens- und alltagsnahen Belastungen und Symptomen unserer Patienten zusammen – geschweige denn, dass sie deren Hintergrund erhellen. Viele von uns sehen die Vergabe solcher Ziffern als notwendigen, ungeliebten und ein wenig kränkenden (uns und die Patienten!) Akt an. Und schwierig ist das allemal nicht. Auf der anderen Seite: Wie genau ist unser durch die Routine beeinflusster Blick wirklich, wie tief dringen wir in die Begleitsymptome, Folgeerscheinungen einer Symptomatik wirklich systematisch ein?

Könnte es nicht sein, dass es uns mit einem solchen Selbstbild des routinierten diagnostischen Blicks so geht wie den bekanntlich 85 % aller Autofahrer, die fest der Überzeugung sind, besser als der Durchschnitt zu fahren? Vielleicht ist unsere Perspektive manchmal doch ein wenig begrenzt und wir können von standardisierten diagnostischen Verfahren durchaus Nutzen im Interesse unserer Patienten ziehen.

Und Evaluation? Wir als Therapeuten wissen doch, wie es unserem Patienten und Klienten geht und wie erfolgreich oder auch begrenzt die gemeinsamen therapeutischen Bemühungen ggf. sind. Dafür brauchen wir keine Fragebögen mit ihrer problematischen Validität und begrenzten Reichweite – oder?

Aber vielleicht entgehen uns trotz unserer Erfahrungen manche unterschwelligen therapeutischen Prozesse oder auch sogar gelegentlich gravierende Dinge, die das tatsächliche Endergebnis eines therapeutischen Prozesses in anderem Licht erscheinen lassen können.

Systematische Evaluationen mit einer großen Zahl von Therapeuten ergaben, dass es den perfekten Therapeuten nicht gibt, dass sich bei genauerem Hinschauen bei jedem Bereiche finden lassen, in denen wir unseren Patienten nicht so gut helfen können, wie andere. Es gibt also immer etwas zu tun und zu lernen und Evaluationsverfahren können uns, wenn wir möchten, evtl. sogar genau sagen, wo. Ein spannendes Feld.

Sie merken, die Diskussion um Sinn und Zweck von Diagnostik und Evaluation berührt den Kern unseres Selbstverständnisses. Es könnte sein, dass wir hier niemals zufrieden sein dürfen, weil uns dies in trügerischer Sicherheit wägen und uns auch unsere Aufgabe vergessen lassen würde, gemeinsam mit unseren Patienten sowohl nach einem immer tieferen Verständnis als auch nach immer umfassenderen „Lösungen“ zu suchen.

Gleichzeitig stellt die Gesellschaft in Gestalt der Kostenträger zunehmend durchaus nachvollziehbare Fragen nach der Legitimität und dem Ergebnis unseres Handelns. Auch wenn wir uns der Wirksamkeit unseres Handelns einigermaßen sicher sein können, sind dennoch im Bereich der Versorgung nicht alle Fragen beantwortet. Wir finden deshalb, dass das ungeliebte Thema ausgezeichnet gerade jetzt in die PiD passt.

Wir haben uns bemüht, sowohl die spannungsreiche Dialektik von Nutzen und Begrenzung diagnostischer und bewertender Prozesse zu beschreiben als auch praktische Handlungsanleitungen, z. T. für Krankheitsbilder, z. T. für therapeutische Settings zu geben. Die hilfreichen Möglichkeiten des Internets werden ebenso beschrieben wie die grundsätzlichen Möglichkeiten, die uns die EDV in diesem Bereich bietet. Zuletzt sprechen wir mit Hans-Jochen Weidhaas, der als erfahrener Standesfunktionär und inzwischen Vorsitzender der Vertreterversammlung der KBV einen guten Einblick in die gesamtgesellschaftlichen und standespolitischen Aspekte der Legitimierung von Psychotherapie hat.

Wenn wir also trotz der Ambivalenz gegenüber dem Thema den einen oder die andere mit diesem Heft anregen, sich der Auseinandersetzung zu stellen, vielleicht tatsächlich mit der Möglichkeit und Chance der Diagnostik und vor allem der Evaluation eigener Therapien etwas zu spielen, ohne dies deshalb gleich zu absolut zu setzen, dann würde uns das freuen.

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