Psychiatr Prax 2011; 38(8): 366-368
DOI: 10.1055/s-0031-1276938
Debatte: Pro & Kontra
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die Einheitsdemenz

Unitary DementiaPro: Hans  Förstl Kontra: Martin  Haupt
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Publication Date:
02 November 2011 (online)

Pro

Vor nicht sehr langer Zeit wurde mir von diesem Organ bereits Gelegenheit gegeben, als Agnostiker in Erscheinung zu treten [1]. Dies ist nota bene eine Aufgabe, die in krassem Widerspruch zum Rollenmodell eines Medizinprofessors steht und ich habe sie dennoch mutig geschultert, nur um von einem rhetorisch raffinierten und mit vielen Referenzen bewaffneten Akademiker klassischer Prägung intellektuell gedemütigt zu werden. Was veranlasst mich – außer Martin Hambrecht – erneut eine schier aussichtslose Position zu vertreten, wo doch die neuropsychiatrische Welt ihren Stolz darein setzt, Litaneien von Diagnosen herunterzubeten, um mit funkelnden Erkenntnisschätzen zu brillieren? Schließlich widerspreche ich mir selbst, da ich an vielen anderen Stellen die Seiten schwärze und die Stunden fülle mit den Konzepten von Alzheimer, Lewy-Körperchen, frontotemporalen, posterioren usw. Demenzen. Das lässt sich alles wunderbar durchdeklinieren und in dem Moment, da ein Begriff gefallen ist, steht er auch schon so in der Welt, als würde er eine wichtige Sache repräsentieren – realiter handelt es sich aber halt nur um eine solche verbalisierte Vorstellung von der Welt, ein Flatus vocis der oft in die Irre leitet. Aber das Problem ist uns seit dem Universalienstreit gut vertraut.

So jetzt aber die wichtigsten Argumente für die Wiedervereinigung der Demenzen aus allen Territorien beteiligter Disziplinen:

Historisch: es hat lange genug gedauert, bis die Demenz-Welt für wissenschaftliche Zwecke (z. B. Diagnose, Therapie, Grundlagenforschung, …) hinreichend vereinfacht war. Vorher tummelten sich Presbyophrenie, Greisenblödsinn, Amentia u. v. a. immer im Verbund mit etwas frühreifen Annahmen über die wahren Ursachen der jeweils von den mit seherischen Kräften begabten Lehrstuhlinhaber in den Vordergrund gerückten Symptome. Besonders bemerkenswert, dass gerade der legendäre Splitter Kraepelin wesentlich dazu beigetragen hat. Der kleine gemeinsame Nenner der Demenz ist tatsächlich ein sehr kleiner, ein Verlust der geistigen Leistungsfähigkeit von solcher Schwere, dass die Alltagsbewältigung beeinträchtigt wird.

Logisch: entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem [2]. Die Welt ist schon kompliziert genug; auf wissenschaftliche Angeber und auf Chaoten die noch zur Entropie beitragen muss in Zeiten des Klimawandels verzichtet werden. Leute, die nicht klar zwischen klinisch deskriptivem Merkmalen (Demenz), Lokalisation, und anderen biologischen Parametern differenzieren können und deren Engstirnigkeit zu hausgemachten Problemen führt, braucht man nicht länger zuhören.

Etymo-logisch: die Demenz ist ein klinisches Syndrom. Genauer – die Demenz ist EIN klinisches Syndrom. Da „läuft etwas zusammen“ (griech. „syn“ zusammen, und „dromos“ Lauf). Man kann also in den gängigen Klassifikationssystemen nachschauen, was alles dazugehört und das ist dann das EINE Demenzsyndrom.

Psycho-logisch: bedeutet die Diagnose einer „A“-Demenz (z. B. „Alzheimer Demenz“), dass der Patient keine „B“-Demenz hat (z. B. „Boxer-Demenz“) [3] und darunter wird dann nicht nur der klinische Phänotyp, sondern gleich die Krankheit, die Ursache verstanden. Das ist der große Irrtum zum Nachteil vieler Patienten (bei denen zumeist recht vielfältige Ursachen recht vielgestaltige Hirnveränderungen mit insgesamt recht buntem Ergebnis in ein- und derselben Person hervorbringen).

Epidemio-logisch: Hauptrisikofaktor für die Mehrzahl der „Fälle“ ist das Alter; daneben gibt es eine Reihe von Risiko- und Schutzfaktoren, die von Bildung und Beruf bis zu Sport, Diät und den großen Volkskrankheiten Depression, Hypertonie, Hypercholesterinämie, Diabetes mellitus u. v. a. reichen – ohne Ansehen der Demenzform [4] [5].

Pragmatisch: ebenso wie man diese Risikofaktoren präventiv beeinflussen kann um neurodegenerativen, vaskulären und anderen Hirnveränderungen Paroli zu bieten, kann man auch den meisten alten dementen Patienten mit mehr als einer Pathologie durch den Einsatz von verträglichen Medikamenten symptomatisch helfen, die sich bei der ein oder anderen prototypischen Demenzform bewährt haben [4] [5]. Schon schade, dass heute den meisten dementen Patienten die Therapien gegen Alzheimer vorenthalten bleiben, nur weil sie z. B. zusätzlich ein paar vaskuläre Problemchen haben.

Neuropatho-logisch: auch die eingefleischten Sezierer und Sektierer beugen sich neuerdings der Wahrheit, die ihnen aus dem Mikroskop entgegenleuchtet: wie zu Alzheimer’s Zeiten ist es schwer, den Wald vor lauter Bäumen zu sehen, so dicht und verwickelt sind die Veränderungen, die sich in den Gehirnen alter Menschen finden – bei den dementen ein wenig mehr als bei den noch nicht dementen. Fast alle weisen nicht nur eine Art der neurodegenerativen, vaskulären, entzündlichen, traumatischen usw. Hirnveränderungen auf [6].

Radio-logisch etc.: dadurch hat ja die Pathologie gerade ihr diktatorisches Privileg verloren und ist eher bereit nochmals genauer hinzusehen. Bereits zu Lebzeiten eines Menschen lässt sich immer besser erkennen, wie viele Läuse, Flöhe und andere Parasiten an seiner Substanz zehren. Und viele zeigen demenzrelevante Befunde: Amyloidablagerungen [7], funktionelle Hirnveränderungen [8], veränderte Rezeptorbindungen, oft sogar eine Schrumpfung und kleine Löcher im Zentralorgan.

Molekularbio-logisch: manche Marker lassen sich lange im Liquor bestimmen ehe die Leistung nachlässt und auch der vermeintlich typische ältere Schlaganfallpatient mit einer Demenz leidet labormedizinisch zusätzlich unter Alzheimer [9]. Die Genetik lasse ich hier mal ganz beiseite.

Thanato-logisch: ist die klinische Endstrecke bei vielen zugrunde liegenden Erkrankungen gleich [10], aber natürlich sollte man das Pferd nicht von hinten her aufzäumen.

Diplomatisch: zugegeben (a) es gibt bei jüngeren Patienten prototypisch reine Erkrankungen, die ausnahmsweise auch einmal zu einer raren Demenzform führen können; (b) letztlich können einige 100 zerebrale und somatische Erkrankungen eine Demenz verursachen und dies prinzipiell ohne Alzheimer plus andere neurodegenerative plus vaskuläre plus andere Hirnveränderungen; das ist aber selten so.

Jetzt noch schnell ein paar gute Gründe weshalb man die Welt mit offenen Augen ansehen und die wichtigen Probleme nicht voreilig in ein paar Schubladen verräumen sollte, solange man noch gar nicht die ausreichenden Kenntnisse hat, um diese vernünftig zu etikettieren:

Reiner „Alzheimer“, rein vaskuläre Demenzen sind im Alter selten. Was nützen also Erkenntnisse, die an handverlesenen Stichproben gewonnen wurden, der weit überwiegenden Mehrheit der Patienten. Oder wird da sowieso ein wenig geschummelt, ganz so wie es die Studie erfordert? Hatten die Patienten mit der „wahrscheinlichen primär degenerativen Alzheimerdemenz“ doch ein paar vaskuläre Stippchen im Kopf, die geflissentlich unterschlagen wurden?

Meinetwegen möge man den flapsigen klinischen Jargon mit Alzheimer (als Demenzform!), subkortikale arteriosklerotische – bzw. jetzt sehr viel verbessert: – vaskuläre kognitive Störung, semantische Demenz, alpha-Synukleopathie usw. undiszipliniert zwischen Eponym, Symptomatik, Lokalisation, Ätiologie, Genetik usw. mäandernd beibehalten. Für eine einheitliche und saubere dimensionale Dokumentation der Befunde auf den unterschiedlichen Untersuchungsebenen müsste man sich mehr Mühe geben.

Literatur

  • 1 Förstl H, Hoff P. Theoriefreie Klassifikation psychischer Störungen.  Psychiat Prax. 2009;  36 55-57
  • 2 Ockham W v. Texte zur Theorie der Erkenntnis und der Wissenschaft. Stuttgart: Reclam; 1984
  • 3 Förstl H, Haass C, Hemmer B et al. Boxen – akute Komplikationen und Spätfolgen; von der Gehirnerschütterung zur Demenz.  Deutsches Ärzteblatt. 2010;  107 835-839
  • 4 Langa K M, Foster N L, Larson E B. Mixed dementia, emerging concepts and therapeutic implications.  J Am Med Assoc. 2004;  292 2901-2908
  • 5 Etgen T, Sander D, Bickel H et al. Leichte kognitive Störungen und Demenz – der Stellenwert modifizierbarer Risikofaktoren.  Deutsches Ärzteblatt. (angenommen)
  • 6 Wharton S B, Brayne C, Savva G M et al. Epidemiological neuropathology: the MRC Cognitive Function and Aging Study experience.  J Alz Dis. 2011;  25 359-372
  • 7 Grimmer T, Tholen S, Yousefi B H et al. Progression of cerebral amyloid load is associated with the apolipoprotein E4 genotype in Alzheimer’s disease.  Biol Psychiatry. 2010;  68 879-884
  • 8 Förster S, Grimmer T, Miederer I et al. Regional Expansion of Hypometabolism in Alzheimer’s Disease Follows Amyloid Deposition with Temporal Delay.  Biol Psychiatry. 14.6.2011 (Epub ahead of print)
  • 9 Perneczky R, Tsolakidou A, Arnold A et al. CSF soluble amyloid precursor proteins in the diagnosis of incipient Alzheimer disease.  Neurology. 2011;  77 35-38
  • 10 Förstl H, Bickel H, Kurz A, Borasio G D. Sterben mit Demenz.  Fortschr Neurol Psychiatr. 2010;  78 203-212
  • 11 Hansson O, Zetterberg H, Buchhave P et al. Association between CSF biomarkers and incipient Alzheimer's disease in patients with mild cognitive impairment: a follow-up study.  Lancet Neurol. 2006;  5 228-234
  • 12 Vermuri P, Wiste H J, Weigand S D et al. MRI and CSF biomarkers in normal, MCI, and AD subjects: predicting future clinical change.  Neurology. 2009;  73 294-301
  • 13 Hachinski V, Iadecola C, Petersen R C et al. National Institute of Neurological Disorders and Stroke – Canadian Stroke Networks: vascular cognitive impairment harmonization standards.  Stroke. 2006;  37 2220-241
  • 14 Stephan B C, Matthews F E, Khaw K T et al. Beyond mild cognitive impairment: vascular cognitive impairment, no dementia (VCIND).  Arthritis Res Ther. 2009;  1 4
  • 15 Peters N, Dichgans M. Vaskuläre Demenz.  Nervenarzt. 2010;  81 1245-1255
  • 16 Bibl M. Mollenhauer B, Esselmann H et al. Cerebrospinal fluid neurochemical phenotypes in vascular dementias: original data and mini-review.  Dement Geriatr Cogn Disord. 2008;  25 256-265
  • 17 Pendlebury S T, Rothwell P M. Prevalence, incidence, and factors associated with pre-stroke and post-stroke dementia: a systematic reviewer and meta-analysis.  Lancet Neurol. 2009;  8 1006-1018
  • 18 Dubois B, Feldman H H, Jacova C et al. Research criteria for the diagnosis of Alzheimer's disease: revising the NINCDS-ADRDA criteria.  Lancet Neurol. 207;  6 734-764
  • 19 Neuropathology of the Medical Research Council Cognitive Function and Ageing Study (MRC CFAS) . Pathology correlates of late-onset dementia in a multicentre, community-based population in England and Wales.  Lancet. 2001;  357 169-75

Prof. Dr. Hans Förstl

Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der TU München, Klinikum rechts der Isar

Ismaningerstraße 22

81675 München

Email: hans.foerstl@lrz.tu-muenchen.de

PD Dr. Martin Haupt

Schwerpunktpraxis Hirnleistungsstörungen im Neuro-Centrum Düsseldorf

Hohenzollernstr. 1–5

40211 Düsseldorf

Email: m.haupt@alzheimer-praxis-duesseldorf.de

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