Psychother Psychosom Med Psychol 2011; 61(5): 199
DOI: 10.1055/s-0031-1276828
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Hat sich der störungsspezifische Ansatz in der Psychotherapie „zu Tode gesiegt”?

Is the Disorder Specific Approach at Risk of Being Wiped out by its own Success?Franz  Caspar1
  • 1Universität Bern, Klinische Psychologie und Psychotherapie
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Publication Date:
12 May 2011 (online)

Prof. Dr. Franz Caspar

Klaus Grawe hat einmal gesagt, „der störungsspezifische Ansatz wird sich zu Tode siegen”; dies, als vor einigen Jahren die störungsspezifischen Ansätze zur vollen Blüte ansetzten. Für viele, die diese Aussage lasen oder hörten, war sie schwer verständlich. Was hat er wohl damit gemeint?

Wir wissen, dass allgemeine Aussagen über die Wirkung von Psychotherapie zu kurz greifen: Wer genau ist behandelt worden? Viele Patientenmerkmale können relevant sein, wie sozioökonomischer Status, interpersonale Merkmale, Verbalisierungsfähigkeit, und natürlich die Diagnose(n). Wir wissen auch, dass es Störungen gibt, die erst mit einem spezifischen Vorgehen behandelbar werden.

Konsequenterweise wurden in den letzten 2 Dekaden immer mehr störungsspezifische Vorgehensweisen entwickelt. Diese Entwicklung wurde vorangetrieben von Vorgaben der Task Force on the „Promotion and Dissemination of Psychological Procedures” der APA Division 12. Sie trat nicht zuletzt mit dem Ziel an, der Dominanz pharmakologischer Behandlungen mit dem Anbieten qualitätsgeprüfter, standardisierter psychotherapeutischer Produkte Paroli zu bieten. Die Entwicklung störungsspezifischer Vorgehensweisen ist wohl der wichtigste Trend in der Psychotherapie.

Was haben wir erreicht? 2004 stellte Beutler fest, dass für rund 1 / 8 der Problem- und Störungsgruppen ein oder mehrere manualisierte, wirksamkeitsüberprüfte Ansätze vorliegen. Inzwischen sind es mehr geworden, die häufigsten Störungen wurden natürlich besonders gut bedient. Dennoch: Vor allem, wenn wir Komorbidität berücksichtigen, müssen wir heute noch nach der Logik der „empirisch unterstützten Behandlungsverfahren” den meisten Patienten sagen „Psychotherapie ist eine wunderbare Sache und in vielen Fällen nachweislich sehr, sehr wirksam, nur leider gerade nicht für das Problem, das Sie haben, zumindest wissen wir’s nicht so genau”. Natürlich läuft das nicht wirklich so: Wir kennen als Praktiker Prinzipien, die wir auch anwenden können, wenn das Problem des Patienten gar nicht offiziell als Störung definiert und abgegrenzt ist. Es gab neben Norcross' APA-Task-Force zur Therapiebeziehung auch eine weitere Task Force der APA Division 12, die initiiert von Castonguay und Beutler empirisch validierte therapeutische Prinzipien aus der Forschungsliteratur herausdestillierte. Parallel lief das weitere Entwickeln von immer mehr störungsspezifischen Vorgehensweisen.

Warum nicht einfach auf diesen „Königsweg” setzen? Dafür gibt es viele Gründe. Beutler argumentiert, dass man Komorbiditäten berücksichtigen muss. Eine soziale Phobie mit oder ohne Borderline-Persönlichkeitsstörung oder -akzentuierung im Hintergrund ist nicht dasselbe, eine Major Depression mit oder ohne Agoraphobie ebenfalls nicht usw. So entsteht aus den oben genannten 400 Problemgruppen schnell einmal ein mehrdimensionales Netz mit Millionen von Zellen, von denen zumindest die wichtigsten mit randomisierten, kontrollierten Studien belegt werden müssten, und zwar nach APA-Regeln mindestens 2 aus unabhängigen Forschergruppen. Nun kostet aber jede solche Studie enorm, selbst erfolgreiche Forscher bekommen in ihrem aktiven Berufsleben maximal 5–6 größere Studien dieser Art hin. Im erforderlichen Umfang nicht machbar! Und: Wenn mit dem neuen DSM- und dann ICD-System die Diagnosen neu definiert werden, müssen wir dann mit der Entwicklung bzw. Überprüfung störungsspezifischer Manuale von vorne anfangen? Streng genommen ja, weil bereits kleinere Verschiebungen von Grenzen zwischen Störungen unabsehbare Folgen haben können. Ein Spiel, das kaum zu gewinnen ist.

Wie viele Vorgehensweisen mit Gütesiegel kann man in einer Psychotherapieausbildung auf dem hohen Niveau erlernen, auf dem die Studientherapeuten ihre guten Therapieergebnisse erzielt haben? Beutler meint: 1–2, und er hat wohl recht. Spezialisierung kann helfen, ist aber nicht die Ultima Ratio: Komorbidität kann diese Lösung durchkreuzen, v. a. zeigen sich weitere Probleme oft erst im Lauf einer Therapie, und da will man ja nicht immer den Therapeuten wechseln. „Zu Tode siegen” war wohl etwas übertrieben, aber gerade der Erfolg des störungsspezifischen Ansatzes hat besonders schnell die Grenzen aufgezeigt: Man kann nicht wie bei anderen Ideen sagen, „wenn man nur genügend Mittel investieren würde, würde sich zeigen, wie leistungsfähig der Ansatz ist!”. Siegreich insofern, als enorm viele Mittel investiert, und dadurch auch die Grenzen schneller sichtbar wurden.

Ein früher vehementer Vertreter störungsspezifischer Angsttherapie, Barlow, setzt seit einigen Jahren auf ein „unified treatment” für Angst und Depression gemeinsam, und zwar nicht mehr klein-klein algorithmisch manualisiert, sondern heuristischer modularisiert. Seine Bücher (für Therapeuten und Patienten) sind seit Ende 2010 auf dem US-Markt. Es bleibt spannend, was die Weiterentwicklung bei den „unspezifischen” Faktoren, wie der Therapiebeziehung, den störungsübergreifenden Prinzipien und solchen konkreteren störungsübergreifenden Anleitungen bringen, wird. Die (einseitig) störungsspezifischen Ansätze werden nicht der letzte Punkt der Entwicklung bleiben.

Prof. Dr. Franz Caspar

Universität Bern
Klinische Psychologie und Psychotherapie

Gesellschaftsstraße 49

3012 Bern, Schweiz

Email: caspar@psy.unibe.ch

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