Gesundheitswesen 2011; 73(1): 1-2
DOI: 10.1055/s-0031-1271640
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Vor allem Gesundheit

M. Wildner
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Publication Date:
31 January 2011 (online)

Nicht nur zum Geburtstag, auch zum Jahreswechsel und zu einer Vielzahl anderer Anlässe wünschen wir uns Glück, meist verbunden mit den Wünschen einer guten Gesundheit. „,Vor allem Gesundheit!‘, so schließen fast alle Geburtstagsgrüße, die mir alle Jahre wieder ins Haus flattern. Aber wieso? Ich kenne unglückliche Gesunde und kranke Glückliche. Wahrscheinlich ist die abendländische Kulturgeschichte mehr durch bedeutsame Kranke als durch kraftstrotzende Gesunde bewegt worden. Homer war blind, Beethoven taub, Kant ein krankes Königsberger Männlein, und von Thomas Mann wissen wir aus den Tagebüchern mehr über seine Blähungen als von seinen Produktionen, mit denen er die Weltliteratur bereicherte.” [Norbert Blüm, Bundesminister a. D. (10.03.2005)]. Ist diese Verbindung von Glück und Gesundheit zutreffend, oder andersherum gesagt: ist Krankheit tatsächlich das Gegenteil von Glück? Eine Art Lebensrisiko, welches uns schicksalhaft treffen kann? Ein Anlass, uns den Begriff „Risiko” näher anzuschauen.

Etymologisch wird die Bezeichnung Risiko auf das lateinische resecum („Felsklippe”) zurückgeführt. Laut Duden wurde die Bezeichnung im 16. Jahrhundert als kaufmännischer Terminus in die deutsche Sprache aufgenommen [1] – offenbar aus der Seeschifffahrt, für welche Klippen und Riffe eine ständige Gefahr auf den Handelsrouten entlang den Küsten darstellen. Es ist anzunehmen, dass nicht abstrakte Überlegungen, sondern konkrete Erfahrungen zu dieser zumindest sprachlichen Bereicherung geführt haben. Doch, um mit Kurt Lewin, dem Begründer der Sozialpsychologie zu sprechen: „Nichts ist so praktisch wie ein gute Theorie” [2].

Wie steht es um die Theorie des Risikobegriffs, speziell in seinem Zusammenhang mit Gesundheit? In den Gesundheitswissenschaften wird mit Risiko im Allgemeinen die Eintrittswahrscheinlichkeit eines unerwünschten Ereignisses bezeichnet. So lässt sich das Erkrankungs- oder Sterberisiko als Wahrscheinlichkeitswert ausdrücken, welcher zwischen 0 (ausgeschlossen) und 1 bzw. 100% (sicheres Eintreten) liegt. Bisweilen wird auch mit Raten gerechnet, d. h. der Eintrittswahrscheinlichkeit in einem bestimmten Zeitraum, oder Wettschätzern („Odds”). Schon in den Ingenieurs- und Umweltwissenschaften ist dies anders: hier kommt zur Eintrittswahrscheinlichkeit noch die Folgenschwere, also das Schadensausmaß hinzu: erst beide Größen gemeinsam – Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß – bestimmen das Risiko. In den Finanz- und Versicherungswissenschaften wird als Einheit für das Schadensausmaß eine monetäre Größe gewählt, z. B. Euro und Cent. Daraus lassen sich dann die risikoäquivalenten Versicherungsprämien kalkulieren, z. B. für die private Krankenversicherung.

Einflussgrößen auf das Schadensrisiko der Krankenversicherung sind vor allem Alter und Geschlecht – bei Frauen gilt es, das Schwangerschafts „risiko” zu berücksichtigen sowie deren längere Lebenserwartung – , zudem auch chronische Vorerkrankungen. Im Mittelpunkt stehen hier traditionell Risiken für die Gesundheit. Und natürlich hat der sich im Schadensfall ergebende Leistungsanspruch Einfluss auf den möglichen Entscheidungsumfang: weltweite oder nur regionale Gültigkeit des Versicherungsschutzes, Kranken(haus)tagegeld, Vollversicherung, spezielle medizinische oder Komfortleistungen usw.. Eine Besonderheit ist, dass genetische Prädiktoren in der Versicherungswirtschaft nicht ohne Weiteres in die Risikokalkulation einfließen dürfen. § 18 des Gesetzes über genetische Untersuchungen bei Menschen (Gendiagnostikgesetz – GenDG) von 2009 bestimmt [3]: (1) Der Versicherer darf von Versicherten weder vor noch nach Abschluss des Versicherungsvertrages 1. die Vornahme genetischer Untersuchungen oder Analysen verlangen oder 2. die Mitteilung von Ergebnissen oder Daten aus bereits vorgenommenen genetischen Untersuchungen oder Analysen verlangen oder solche Ergebnisse oder Daten entgegennehmen oder verwenden. Allerdings wird direkt im Anschluss diese Regelung eingeschränkt: Für die Lebensversicherung, die Berufsunfähigkeitsversicherung, die Erwerbsunfähigkeitsversicherung und die Pflegerentenversicherung gilt Satz 1 Nr. 2 nicht, wenn eine Leistung von mehr als 300 000 Euro oder mehr als 30 000 Euro Jahresrente vereinbart wird.

Eine interessante Wendung dürfte dieser Passus durch die individualisierte Medizin und Prävention erfahren: nicht mehr nur das Risiko der Erkrankung wird bald im Fokus des versicherungsmathematischen Interesses stehen, sondern auch die genetisch mitbestimmte individuelle Chance zur Therapie – und die damit verbundenen Kosten. So kann die gleiche Erkrankung bei verschiedenen Personen mit unterschiedlichen, vorhersagbaren therapeutischen Optionen und Chancen verbunden sein. Im einen Fall können die Heilungschancen hoch und die damit verbundenen Therapiekosten hoch oder niedrig sein, im anderen Fall die Heilungschancen niedrig und die zuzuordnenden Therapiekosten ebenfalls entweder hoch, z. B. bei chronischem Verlauf, oder niedrig, z. B. bei infauster Prognose und kurzer Restlebenserwartung. Eine Wendung also von Risiko zu Chance – die 2 Seiten der „genetisch geprägten” Medaille. Und auch eine zweite Wendung zeichnet sich ab, nämlich die potenzielle Dissoziation der Interessen von Versicherer und Versichertem. „Salus aegroti suprema lex [Die Gesundheit des Kranken ist oberstes Gesetz]” – diese Maxime könnte zwar weiterhin Arzt/Ärztin und Patient/Patientin vereinen, nicht aber die zugehörige Versicherungswirtschaft. Im Fokus des versicherungsmathematischen Interesses könnte bald abhängig von der individuellen Krankheitsprognose die Gesundungschance als finanzielles Risiko stehen.

Solche risikobezogenen Überlegungen sind keine Eigenheit privater Krankenversicherungen. Seit Einführung marktwirtschaftlich-wettbewerblicher Elemente in den Bereich der gesetzlichen Krankenkassen werden auch hier Risikokalkulationen vorgenommen, z. B. in Form des „Risikostrukturausgleichs” [4]. Im herkömmlichen Risikostrukturausgleich wurden das Einkommen der Mitglieder (Grundlöhne), die Zahl der beitragsfrei mitversicherten Familienangehörigen, das Geschlecht der Versicherten, das Alter der Versicherten und die Tatsache, ob eine Erwerbsminderungsrente bezogen wird, für einen Finanzausgleich zwischen den Krankenkassen berücksichtigt. Das Bundesversicherungsamt hat im Rahmen der Einführung des Gesundheitsfonds für einen morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich 80 zu berücksichtigenden Krankheiten festgelegt – von HIV bis zu Komplikationen nach Organtransplantationen.

Sind genetische Prädiktoren tatsächlich die großen Stellschrauben der Gesundheit? Noch 1890 gab der amerikanische Arzt und Schriftsteller Oliver Wendell Holmes denjenigen, welche ein langes Leben erstrebten, den Rat: „The first thing to be done is, some years before birth, to advertise for a couple of parents both belonging to long-lived families.” [dt: Die wichtigste Maßnahme, die schon einige Jahre vor der Geburt ergriffen werden sollte, ist, eine Anzeige nach einem Elternpaar aufzugeben, welche beide aus langlebigen Familien stammen] [5]. Heute wird dieser Ansicht zunehmend widersprochen: der Einfluss der Gene auf die erstaunliche bevölkerungsweite Langlebigkeit in modernen Gesellschaften wird von kenntnisreicher Seite auf unter ein Viertel der zu beobachtenden interindividuellen Variabilität geschätzt [6]. Im Vordergrund stehen Maßnahmen im Bereich Öffentliche Gesundheit, (Individual-)Medizin, Lebensstandard, Bildung, gesunde Ernährung und gesunde Lebensstile. Allesamt Faktoren, welche zumindest nicht direkt genetisch determiniert sind und häufig auf der überindividuellen Ebene angesiedelt sind: die Entwicklung moderner Therapien in modernen Gesellschaften oder Fragen der Arzneimittelzulassung liegen außerhalb der Einflussmöglichkeit einzelner Versicherter bzw. Patienten.

Damit sind wir soziologischen Risikokonzeptionen nähergerückt. Dort wird die These einer „Risikogesellschaft” seit den 1980er Jahren stark thematisiert. Kernthese von Ulrich Becks gleichnamigem Bestseller ist, dass die modernen Gesellschaften gerade vermittelt über ihre Fortschrittsleistungen, durch ihre selbsterzeugten Risiken charakterisiert sind. Diese Risiken bestimmen den gesellschaftlichen Diskurs und werden zugleich durch diesen Diskurs und die verfügbare Expertise bestimmt. Sie sind im Gegensatz zu den Nutzen und Risiken in früheren Gesellschaftsstrukturen nicht mehr einzelnen Bevölkerungsgruppen zuzuordnen bzw. zuzuschieben: atomarer Holocaust und Endlager für radioaktiven Müll, Börsencrash und Klimawandel gehen uns alle an [7]. Becks Ideen finden sich inzwischen auf eine Weltrisikogesellschaft ausgedehnt, mit globalen sicherheitspolitischen, wirtschaftlichen und ökologischen Themen [8] [9].

Der Soziologe Niklas Luhmann illustriert darüber hinaus mit seinem Regenschirmbeispiel den Unterschied zwischen Gefahr und Risiko: die (natur-)gegebene Gefahr, bei Regen nass zu werden, wird zum individuell und gesellschaftlich mitbestimmten Risiko, weil es Regenschirme gibt und wir somit die Möglichkeit haben, die negativen Folgen zu mildern oder ganz zu vermeiden – solange wir als neues Risiko den Regenschirm nicht irgendwo liegenlassen [10]. Damit beginnt der schwierige Prozess der Risikoabwägung, denn sowohl strategisches Handeln als auch Nichthandeln ist mit Risiken verknüpft. Gerd Gigerenzer greift die Thematik der Risikokommunikation in diesem Zusammenhang auf. Er hat – a propos Regenschirm – untersucht, wie verschiedene Bevölkerungen die Aussage verstehen: „Morgen besteht ein 30%-iges Risiko für Regen”. Die Antworten schwankten nach Nationalität erheblich und reichten von hundertprozentigem Risiko für Regen während eines Drittels des Tages über hundertprozentiges Risiko über einem Drittel des Territoriums bis zur (intendierten) Antwort einer Chance für Regen am morgigen Tag von 30 % [11]. Brauchen wir eine Risiko-Alphabetisierung (s. a.www.harding-center.de)?

Risikoanalyse, Risikokommunikation, Risikoabwehr – alle 3 Aspekte zusammen sind elementar für eine effektive Risikobeherrschung. Diese Ausgabe von Das Gesundheitswesen widmet sich der Risikobeherrschung im Gesundheitswesen mit vielfältigen Beiträgen: zur Adipositas bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland und in der Schweiz, zu Risiken durch Chemikalien in unserer zivilisatorischen Umwelt, zur Versorgungsqualität, ihren Prädiktoren und ihrer Messung, zu Führungsverhalten und Patientenverfügung und manches anderes mehr. Was sich von all diesen Überlegungen mitnehmen lässt? Vielleicht sollten wir uns zu den Jahreswechseln und Geburtstagen nicht nur „Glück” wünschen, insbesondere wenn es um die Gesundheit geht. Wir könnten auch an den bekannten Slogan der Gesundheitsförderung und Prävention denken: „Make healthy choices easy choices, make safe choices the norm!”. Und uns zu Jahreswechseln und Geburtstagsfeiern gute und gesunde Entscheidungen und (Aus-)Wahlen wünschen: individuell und als Gesellschaft(en).

Literatur

  • 1 Duden . Das Fremdwörterbuch, Bd. 5 2007; 
  • 2 Lewin K. Field theory in social science; selected theoretical papers. Cartwright D, Hrsg.Studies in Social Power New York: Harper & Row; 1951. S. 169. [ engl.: there is nothing more practical than a good theory.]
  • 3 Gendiagnostikgesetz vom 31 . Juli 2009;  (BGBl. I S. 2529, 3672)
  • 4 Risikostrukturausgleich . 2008;  http://www.der-gesundheitsfonds.de Zugriff am 03.01.2011
  • 5 Holmes OW. Over the Teacups VIII, 1890.  http://www.gutenberg.org/ebooks/2689 Zugriff am 10.12.2010
  • 6 Vaupel JW. Biodemography of human ageing.  Nature. 2010;  464 536-542
  • 7 Beck U. Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp; 1986
  • 8 Beck U. Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp; 2007
  • 9 Friedman T. Hot, flat and crowded. New York: Farrar, Straus and Giroux; 2008
  • 10 Luhmann N. Die Moral des Risikos und das Risiko der Moral. In: Gotthard Bechmann, Hrsg. Risiko und Gesellschaft – Grundlagen und Ergebnisse interdisziplinärer Risikoforschung, Opladen 1993
  • 11 Gigerenzer G, Hertwig R, van den Broek E. et al . A 30% chance of rain tomorrow: how does the public understand probabilistic weather forecasts.  Risk Anal. 2005;  25 623-629

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. M. Wildner

Bayerisches Landesamt

für Gesundheit und

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Email: Manfred.Wildner@lgl.bayern.de

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