Sportverletz Sportschaden 2010; 24(3): 123-128
DOI: 10.1055/s-0030-1267402
Sportphysiotherapie aktuell

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Posturale Kontrolle als situationsabhängige Fertigkeit

Stephan Turbanski1 , Ditmar Schmidtbleicher1
  • 1Abteilung Bewegungs- und Trainingswissenschaften am Institut für Sportwissenschaften, Goethe Universität Frankfurt am Main
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Publication Date:
23 September 2010 (online)

 

Einleitung

Unter posturaler Kontrolle versteht man die kontinuierliche Aufrechterhaltung und die Wiedererlangung des motorischen Gleichgewichts, wenn durch einen Störimpuls kurzfristig die posturale Stabilität gefährdet ist oder verloren geht. Selbst bei vermeintlich simplen Aufgaben wie das Stehen und Gehen gehören zur erfolgreichen Realisierung immer die komplexe sensorische Erfassung der Körperlage und -bewegung sowie motorische Aktionen und Reaktionen, wobei sich die sensorischen und motorischen Prozesse permanent gegenseitig bedingen und in der Regel unbewusst ablaufen. Zusammengefasst spricht man auch von sensomotorischer Gleichgewichtsregulation.

Die Evaluation und das Training der sensomotorischen Leistungsfähigkeit spielt eine große Rolle hinsichtlich des erhöhten Sturzrisikos bei älteren Personen bzw. bei Patienten mir neurologischen Krankheiten, z.B. bei Morbus Parkinson (Turbanski 2008), da die posturale Instabilität zu den Hauptrisikofaktoren für Stürze zählt (Thapa et al. 1996). Ferner wird zunehmend die Bedeutung der posturale Kontrolle hinsichtlich des Verletzungsrisikos von Sportlern erkannt [12], [13].

Die Evaluation erfolgt, v. a. bei älteren Personen, mit klinischen Tests, wie sie oftmals bei ärztlichen Routineuntersuchungen Verwendung finden. Hierzu gehören z.B. der "Romberg Test" [16], der "Timed Up- and Go-Test" [15], der "Tinetti Balance Test" [18] und der "Berg Balance Test" [1]. Zum anderen werden, v.a. in wissenschaftlichen Studien und bei Untersuchungen von Sportlern, biomechanische Messsysteme eingesetzt. In der Regel kommt hier die Posturografie zur Anwendung, die über sensible Kraftsensoren in den Eckpunkten der Standfläche den Verlauf des Druckmittelpunktes (COP=Center Of Pressure) auf der Unterstützungsfläche registriert. Im klinischen und therapeutischen Alltag sowie in zahlreichen Studien und Publikationen erfolgt somit die Quantifizierung der posturalen Kontrolle über die Analyse in einer statischen Messbedingung, in der die Probanden über einen definierten Zeitraum ohne externe Störgrößen so ruhig wie möglich in einer standardisierten Standposition (ein- oder beidbeinig) verharren. Aus diesen Ergebnissen werden dann z.T. Rückschlüsse gezogen auf das individuelle Sturzrisiko von älteren Personen oder das Verletzungsrisiko von Sportlern. Dies beruht auf der Annahme, dass die posturale Kontrolle bzw. die sensomotorische Gleichgewichtsregulation eine Fähigkeit ist, die generalisierbar bzw. auf verschiedene Situationen übertragbar ist. Zum prognostischen Wert der Posturografie, z.B. hinsichtlich des Sturzrisikos, gibt es aber widersprüchliche Studienergebnisse und zunehmend kritische Stimmen [14].

Das Ziel der vorliegenden Studie war daher der Vergleich von statischen und dynamischen Messbedingungen, um Korrelationen und Unterschiede zu analysieren und die Aussagekraft statischer Messbedingungen im Hinblick auf dynamische Situationen zu überprüfen.

Literatur

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  • 15 Podsiadlo D , Richardson S . The timed "Up & Go": a test of basic functional mobility for frail elderly persons.  J Am Geriatr Soc.. 1991;  39 142-148
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  • 17 Thapa P B, Gideon P , Brockman K G, Fought R L, Ray W A. Clinical and biomechanical measures of balance as fall predictors in ambulatory nursing home residents.  J Gerontol A Biol Sci Med Sci.. 1996;  51 M239-46
  • 18 Tinetti M E. Performance-oriented assessment of mobility problems in elderly patients.  J Am Geriatr Soc. 1989;  119-126
  • 19 Turbanski S . Zur posturalen Kontrolle bei Morbus Parkinson – Biomechanische Untersuchungen und Training. Dissertationsschrift, Frankfurt/ Main 2006
  • 20 Turbanski S  Postural control in Parkinson’s disease. In: Hong Y , Bartlett R , Hrsg. Routledge Handbook of Biomechanics and Human Movement Science. Oxford: Taylor and Francis; 2008: 510-521
  • 21 Turbanski S , Schmidtbleicher D . Gleichgewicht – eine koordinative Fähigkeit? Konsequenzen aus aktuellen Untersuchungen für die Sport- und Physiotherapie.  manuelle therapie. 2008;  4 147-52

01 In dieser Arbeit beziehen sich die Begriffe "statisch" und "dynamisch" nur auf die Messbedingung, wobei "statisch" das Fehlen externer Störgrößen impliziert! Natürlich ist auch die Regulation des ruhigen Stands auf einer unbeweglichen Kraftplatte für den Probanden ein dynamischer Prozess des neuromuskulären Systems, der zahlreiche sensorische Rückmeldungen und verschiedene motorische Aktionen, sowohl bewusste als auch unbewusste, einschließt.

02 Die EMG-Ableitungen wurden bei allen Probanden nur einseitig am rechten Bein registriert.

03 Bei der Messbedingung zur posturalen Reaktionen auf einen standardisierten Störreiz wurde nur das rechte Standbein gemessen.

04 Ein (quantitativer) Vergleich der EMG-Aktivität zwischen den beiden Messbedingungen zur posturalen Stabilität über 32 Sek. mit der posturalen Reaktion auf einen standardisierten Störreiz ist nicht möglich.

Korrespodenzadresse:

Dr. Stephan Turbanski

Institut für Sportwissenschaften

Ginnheimer Landstraße 39

60487 Frankfurt/Main

Email: turbanski@sport.uni-frankfurt.de

Phone: 069/ 798245-33

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