PPH 2010; 16(2): 68
DOI: 10.1055/s-0030-1253477
PPH Szene
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Bruno’s Welt

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Publication Date:
09 April 2010 (online)

Was macht eigentlich Schwester Nelly?

Schwester Nelly hat noch vier Jahre bis zur Rente, sie ist etwa 150 cm klein und sehr zierlich, und heute hat sie mal wieder Nachtdienst auf ihrer Station. Eine psychiatrische Aufnahmestation mit 22 Betten. Es ist 21 Uhr, Schwester Nelly ist seit einer Stunde im Dienst, hat nach der Übergabe alle Patienten begrüßt und einige Kannen Tee für die Nacht gekocht, als eine Neuaufnahme angekündigt wird, der 23. Patient, der auch schon wenige Minuten später von zwei Polizisten „angeliefert” wird, gut verpackt mit Kabelbindern an Händen und Füßen. Herr Müller ist groß, sehr kräftig und völlig außer sich, er beschimpft die Polizisten und zerrt an seinen Fesseln, die dadurch nur immer tiefer in seine Haut einschneiden. Schwester Nelly bittet die Polizisten, Herrn Müller die Fessel abzunehmen: „Die brauchen wir hier nicht, und so kann ich Herrn Müller auch nicht die Hand geben.” Die zwei Polizisten finden, das sei keine gute Idee, aber Schwester Nelly besteht darauf. Sie begrüßt Herrn Müller nun mit Handschlag und meint: „Kommen Sie erst einmal mit mir in die Küche, dort trinken wir einen Tee und dann kümmere ich mich um ihre wunden Arme und Beine.” Die Polizeibeamten beobachten skeptisch, wie Herr Müller lammfromm der um drei Köpfe kleineren Krankenschwester in die Küche folgt.

Eine halbe Stunde später kommt der Arzt vom Dienst, um Herrn Müller aufzunehmen, und es dauert keine fünf Minuten, da tobt dieser wieder. Schwester Nelly geht nun mit in das Aufnahmegespräch und erklärt Herrn Müller, was für ein erfahrener und guter Arzt hier vor ihm sitze. Den AvD bittet sie, Medikamente für die Nacht zu verordnen, um den Rest werde sie sich kümmern. Und wieder hat es funktioniert.

Die Nacht ist ohne Zwischenfälle verlaufen. Für drei Patienten hat Schwester Nelly Wärmflaschen gemacht, weil das die Beruhigungsmittel erspart. Gesprochen hat sie mit allen, und alle sind in einem Ausnahmezustand, sonst müssten sie nicht auf einer psychiatrischen Akutstation sein. Und bei dem neuen jungen Kollegen, der mit ihr die Nachtwache teilt, konnte sie ganz viele Ängste zerstreuen.

Was macht eigentlich Schwester Nelly? Mir fällt es schwer, das zu benennen, aber es ist exzellente psychiatrische Pflege, und es ist höchst komplex.

Ich habe Angst, dass das, was sie tut, in Vergessenheit gerät, von den Pflegewissenschaften nicht erfasst wird, weil wir es so schlecht benennen können. Es lässt sich kaum in Ziffern kodieren und schwer evaluieren, obwohl es extrem effektiv und eigentlich unbezahlbar ist.

Ich glaube, es ist sehr wichtig, dass wir uns gegenseitig die Geschichten erzählen, bei denen Kolleginnen und Kollegen mit außergewöhnlicher Kreativität oder mit selbstverständlicher Normalität scheinbar aussichtslose Situationen gemeistert haben. Diese Geschichten erweitern den eigenen Handlungsspielraum und geben Mut, auf die eigene Kreativität zu vertrauen.

Ich hoffe, dass wir lernen, das zu benennen, was Nelly macht, und es in den Mittelpunkt psychiatrischer Pflege zu stellen – bevor Schwester Nelly in Rente geht.

Bruno Hemkendreis

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