Rehabilitation (Stuttg) 2010; 49(3): 138-146
DOI: 10.1055/s-0030-1249669
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Erfolgsfaktoren integrierter Versorgungsprozesse in der Endoprothetik: Ergebnisse einer qualitativen Prozessanalyse

Factors of Successful Integrated Care Settings for Total Knee and Hip Arthroplasty: Findings of a Qualitative Process AnalysisS. Bartel1 , M. Bethge1 , M. Streibelt1 , K. Thren2 , C. Lassahn3
  • 1Charité – Universitätsmedizin Berlin
  • 2Klinik Niedersachsen Bad Nenndorf
  • 3Annastift, Hannover
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Publication History

Publication Date:
08 June 2010 (online)

Zusammenfassung

Zielsetzung: Charakteristisch für das deutsche Gesundheitssystem ist eine Desintegration der verschiedenen Leistungsbereiche im medizinischen und pflegerischen Behandlungsprozess. Mit der „integrierten Versorgung” (IV) hat der Gesetzgeber die Möglichkeit einer sektorenübergreifenden Leistungs- und Vergütungsform eröffnet (GKV-Gesundheitsmodernisierungsgesetz, § 140a–d SGB V) und damit die Voraussetzungen für eine engere Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Leistungserbringern der Gesundheitsversorgung geschaffen. Organisationsübergreifende und interdisziplinäre Arbeitszusammenhänge erfordern den Aufbau neuer Strukturen, um die unterschiedlichen Kompetenzen, Ressourcen und Interessen der beteiligten Kooperationspartner effektiv zu koordinieren. Ziel der Studie war die Identifizierung von Faktoren erfolgreicher Kooperationsbeziehungen im Rahmen integrierter Versorgungsleistungen bei Knie- und Hüftgelenkersatz. Am Beispiel des integrierten Versorgungsvertrages eines orthopädischen Fachkrankenhauses und einer Rehabilitationsklinik wurde untersucht, welche Faktoren eine erfolgreiche Implementierung der konzipierten Instrumente bedingen.

Methodik: Für die Analyse wurde ein qualitatives Forschungsdesign entwickelt. Es wurden unterschiedliche qualitative Erhebungsverfahren (teilnehmende Beobachtungen, leitfadengestützte Experteninterviews, Dokumentenanalysen) eingesetzt, die eine umfassende Untersuchung ermöglichten. Insgesamt wurden sechs Erstberatungen von IV-Patienten sowie zwei Informationsveranstaltungen, sieben Experteninterviews und unterschiedliche Dokumente analysiert (17 Patientenakten, IV-Patientenpässe, Informationsmaterialien für Patienten, Patienten- und Visitenlisten).

Ergebnisse: Zunächst wurden die unterschiedlichen Phasen der Entwicklung und Implementierung der IV beschrieben, und es wurde gezeigt, dass für eine optimale langfristige Kooperation von Anfang an klar definierte Ziele, Strukturen und geeignete Instrumente definiert werden müssen. Des Weiteren konnte die Mitarbeitersicht auf die den Arbeitsalltag betreffenden Auswirkungen des IV-Programms als wichtige Perspektive für die Prozessrekonstruktion genutzt werden. Die Mitarbeiter sahen die IV dabei vor allem durch vier Aspekte gekennzeichnet: Imagegewinn, Wissenszuwachs, vertiefte Beziehungsintensität, Arbeitszuwachs/-entlastung. Vor diesem Hintergrund konnten Erfolgsfaktoren, wie die Notwendigkeit einer zentralen Koordination, regelmäßige Mitarbeiterinformationen sowie ein begleitendes Prozessmonitoring identifiziert werden, die eine erfolgreiche Kooperationsbeziehung gewährleisten.

Schlussfolgerung: Anhand der Prozessanalyse konnten zentrale Faktoren erfolgreicher Kooperationsbeziehungen in der Endoprothetik generiert werden, die wichtige Ansätze für die Ausgestaltung zukünftiger interdisziplinärer und sektorenübergreifender Kooperationsbeziehungen liefern.

Abstract

Aims: In Germany, introduction of the law on Integrated Health Care (IC) (§ 140a–d SGB V) opened up the possibility of cross-sectoral health care settings and new forms of remuneration, and improved the conditions for a closer cooperation between health care providers. However, cross-institutional and interdisciplinary work contexts demand new organizational structures in order to assure the coordination of different competences, resources and interests. This study aims at identifying factors of successful integrated care settings for total hip and knee arthroplasty. Using the example of an integrated care setting between an orthopaedic hospital and a rehabilitation clinic it will be examined which factors lead to successful implementation of the services and measures designed.

Method: A qualitative research design was developed comprising different methods of data assessment (participant observation, guided expert interviews, document analyses) enabling a comprehensive exploration. Overall, data were derived from six consultations with patients, two integrated care information sessions and various documents (17 patient files, information material, patient lists, etc.).

Results: First of all, the different phases of development and implementation of integrated care settings were described. In this context, clearly defined aims, structures and appropriate measures seem to be crucial for an ideal long-term cooperation. Furthermore, the staff perspective on the effects of the IC programme on their daily routines proved an essential basis for process reconstruction. The staff members pointed out four main aspects regarding IC settings, i. e., improved image, increased knowledge, intensity of relationship, and less and more work effort. Against this background, factors of successful IC settings could be generated such as the need for central coordination, a regular staff information systems as well as accompanying process monitoring.

Conclusion: Several key factors of successful integrated care settings in arthroplasty could be generated which provide important clues for shaping future interdisciplinary and cross-sectoral cooperation settings in health care services in general.

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1 Die Mitarbeiterin der IV-Zentrale ist als Sekretärin angestellt. Sie verfügt über die Qualifikation „Arzthelferin” und über langjährige Berufserfahrung im Krankenhaus, speziell in der Orthopädie.

2 Für die hier dargestellte Prozessevaluation wurde auf Patienteninterviews verzichtet. Gleichwohl jedoch wurden im Rahmen der Studie auch Patienteninterviews und schriftliche Patientenbefragungen durchgeführt. Eine ausführliche Darstellung der Gesamtergebnisse ist in Vorbereitung.

Korrespondenzadresse

Susanne Bartel

Charité Campus Mitte

Abteilung für Versorgungs

systemforschung und Grundlagen der

Qualitätssicherung in

der Rehabilitation

Luisenstraße 13a

10098 Berlin

Email: susanne.bartel@charite.de

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