Psychiatr Prax 2009; 36(2): 95
DOI: 10.1055/s-0029-1220829
Serie ˙ Szene ˙ Media Screen
Leserbriefe
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Jäger M et al. Anpassungsstörungen - Nosologische Stellung und Therapieoptionen Psychiat Prax 2008; 35: 219-226

Further Information

Publication History

Publication Date:
08 April 2009 (online)

 

Im Heft 5 der Psychiatrischen Praxis wurde im obigen Artikel von Jäger, Frasch und Becker das Thema der Anpassungsstörungen in einem Übersichtsartikel abgehandelt. Vielfältigste Daten aus verschiedenen Studien der letzten Jahre wurden ausführlich dargestellt und diskutiert.

Der Artikel ließ mich als niedergelassener Nervenarzt, der täglich in der "psychiatrischen Praxis" steht, aber recht ratlos bleiben. Folgende Fragen stellen sich mir weiterhin:

In unserer Praxis erfüllen mittlerweile fast ein Viertel der 2500 Patienten pro Jahr die Voraussetzungen für der Diagnose einer Reaktion auf schwere Belastung bzw. einer Anpassungsstörung (ICD-10: F43). Hat diese Störung in den letzten 30 Jahren so zugenommen? Haben sich die "psychosozialen Belastungen" so verstärkt, dass diese Störung vermehrt auftritt? Wie im Artikel auch ausgeführt, sind Störungen wie sie im Kapitel F43 der ICD-10 beschrieben sind, im psychiatrischen Denken Kurt Schneiders und seiner Nachfolger nicht als "Krankheiten" im engeren Sinne gewertet worden. In der aktuellen ICD und im DSM-IV ist der Krankheitsbegriff bekanntlich mehr oder minder abgeschafft worden. Bewertungen wie "schwer krank" oder "leicht krank" gibt es dann nicht mehr. Für die psychiatrisch Tätigen bis in die 80er-Jahre hinein war es klar, dass wir in erster Linie Verantwortung haben für unsere chronisch schizophren Erkrankten, für melancholische, süchtige oder hirngeschädigte Menschen. Sollen wir uns als Psychiater mit gleicher Selbstverständlichkeit und Intensität für die verantwortlich fühlen, die am Arbeitsplatz, in ihren sozialen Bezügen, in ihren persönlichen Verhältnissen scheitern? Verhindert der Begriff der "Störungen" für alle psychischen Beeinträchtigungen eine in der Praxis notwendige Differenzierung, mit der Gefahr, dass finanzielle und zeitliche Ressourcen gerade die schwer beeinträchtigten Menschen noch weniger erreichen? Im oben genannten Zeitschriftenartikel wird die Problematik der Therapie der betroffenen Menschen mit der Diagnose F43 kritisch bewertet sowohl bezüglich der Pharmakotherapie wie der Psychotherapie. Nicht diskutiert wird die Frage ob es neben dem Therapieangebot auch um die "Begrenzung" von Ansprüchen gehen soll. Es kann doch richtig sein, so „einen Menschen darauf hinzuweisen, dass ein Stück eigenständige Lebensbewältigung in psychosozialen Schwierigkeiten eine wichtige Aufgabe für den Menschen ist und dass das auch dazu führt, dass man an den Dingen reift und für sich etwas gewinnt.

Friedrich Böhme, Tuttlingen

Email: boehme.tut@t-online.de

    >