Zeitschrift für Palliativmedizin 2008; 9(3): 83-84
DOI: 10.1055/s-0028-1089966
Editorial

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Identität im Wandel - 25 Jahre Palliativmedizin in Deutschland

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Publication Date:
16 September 2008 (online)

 

Dr. Norbert Frickhofen, Wiesbaden

Dr. Oliver Maier, Wiesbaden

Herr S. ist 65 Jahre alt. Seit 5 Jahren weiß er, dass er Krebs hat. Er hat 2 Operationen, 3 Chemotherapien und 2 Bestrahlungen hinter sich. Zuletzt war er im Krankenhaus, um sich einen Schlauch in die linke Niere einlegen zu lassen, der den Urin durch die Haut in einen Beutel ableitet. "Prophylaktisch, falls der Tumor dicht macht", wie ihm gesagt wurde. Jetzt ist er wieder zu Hause. Sein Bauch ist aufgedunsen, er muss sich immer wieder übergeben. Er lernt das Wort Ileus.

Identität kann Gleichheit, Austauschbarkeit bedeuten. In einem anderen Zusammenhang bedeutet es die Summe aller Merkmale, die ein Individuum, eine Sache oder einen Begriff von anderen unterscheidet. Identität entwickelt sich im Wechselspiel von Dazugehören und Abgrenzen.

Palliativmedizin heute ist nicht identisch mit Palliativmedizin vor 25 Jahren. Strukturell und organisatorisch ist vieles ausdifferenziert, Forschung und akademische Lehre haben ihren festen Platz im Selbstverständnis des Faches, Grundlagen der Finanzierung haben sich verändert, die Versorgung hat sich professionalisiert, die gesellschaftliche Akzeptanz ist gewachsen. Aber die Ziele sind dieselben geblieben: Ängste und Wünsche der Betroffenen in den Mittelpunkt der therapeutischen Bemühungen zu stellen. Dem individuellen Erleben von Leid wie Wohlbefinden bei Entscheidungen den höchsten Stellenwert zu geben.

Herr S. sagt, dass er gar nicht versteht, wie das sein kann. Letztes Jahr sei er noch in den Alpen gewandert und heute habe er kaum Kraft auf die Toilette zu gehen. Seine Frau gebe sich beim Kochen so große Mühe, aber er müsse sich zwingen, überhaupt etwas zu versuchen. Und dann breche er doch alles wieder aus. Er möchte seiner Frau doch keine Last sein.

Palliativmedizin hat in Deutschland einen dynamischen Verlauf genommen. Die Pioniere der ersten Stunde haben den Weg bereitet für die Verankerung des Fachgebiets in der Regelversorgung. Auch wenn die inhaltliche Ausgestaltung der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) nach wie vor vage ist, so ist sie doch ein Meilenstein. Mit dem gesetzlich verbrieften Leistungsanspruch der Versicherten ist Palliativmedizin endgültig als selbstverständlich im Gesundheitssystem angekommen.

Neben Herrn S.' Bett hängen Bilder aus der Türkei. Mindestens einmal im Jahr seien sie dort. Es wäre sein größter Wunsch, dort noch mal hinzukommen. Deshalb kämpfe er gegen den Krebs. Aufgeben? Nein, die Medizin könne doch heute so viel erreichen.

Identität bedeutet auch, dass ein Mensch "er selbst ist". Persönliche Identität meint, sich wie im Spiegel selbst erkennen und sich in seinen Handlungen wiederfinden zu können. Soziale Identität begründet sich in Reaktionen der Umwelt auf das eigene Verhalten. Bei schwerer Erkrankung werden persönliche und soziale Identität stark erschüttert. Wenn wesentliche Merkmale des "Selbstseins" durch Krankheit verloren gehen, gerät das Identitätskonstrukt aus der Balance.

Frau S weint. Ihr Mann habe in der Nacht lange mit ihr gesprochen. Die künstliche Ernährung, die ihm so wichtig war, möchte er nicht mehr. Sie hätten viel geweint in der Nacht, aber jetzt sei er wie erleichtert. Er wolle nicht mehr gegen etwas kämpfen, sondern für sich.

Der Psychologe Erik Erikson prägte den Begriff der "Identitätskrise". Er sieht den menschlichen Lebenszyklus unterteilt in von der Geburt bis ins hohe Alter aneinandergereihte Stufen. Das Ende einer Stufe stellt eine Bedrohung für das bisherige Selbstverständnis dar. In Betracht kommen 2 Handlungsmuster: Stagnation oder Wachstum. Die letzte Lebensphase und das Sterben verdichten diese Konstellation. Es bleibt keine Zeit für einen 2. Versuch oder ein Nachbessern.

Unabhängig von äußerem Wandel begründet sich hier ein möglicher Kern der palliativmedizinischen Identität: Aufmerksame Hinwendung zu den betroffenen Menschen schützt deren Identität, wenn es gelingt auch unter extremen Bedingungen Impulse zur Sinnstiftung zu geben und persönliches Wachstum zu ermöglichen.

Lassen Sie uns auf dem Wiesbadener Kongress über Identität in allen ihren Dimensionen diskutieren!

Dr. Oliver Maier

Kongresspräsidenten

Dr. Norbert Frickhofen

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