Verglichen mit anderen Ländern fristet die Pflege im deutschen Gesundheitssystem eine „Randexistenz“. Weshalb wird das Potenzial der größten Berufsgruppe im Gesundheitswesen nicht ausgeschöpft und gewürdigt? Für die Pflegewissenschaftlerin Prof. Dr. Martina Hasseler sind die Ursachen vielschichtig.
Prof. Dr. Martina Hasseler lehrt und forscht an der Fakultät Gesundheitswesen der Ostfalia Hochschule Wolfsburg. Im November wurde die Pflege- und Gesundheitswissenschaftlerin mit dem Wissenschaftspreis Niedersachsen 2020 ausgezeichnet.
Frau Professor Hasseler, Sie sagen, dass in Deutschland die Pflege seit Jahren marginalisiert wird. Woran machen Sie das fest?
Ganz einfach: an der desolaten Situation der Pflegeberufe. Es gibt wohl niemanden in Deutschland, der behauptet, dass es den Pflegeberufen und der pflegerischen Versorgung gut geht. Wir hören und sehen aktuell, dass viele Pflegefachpersonen in der Pandemie den Beruf verlassen haben oder beabsichtigen, es zu tun.
Der Mehrwert gut qualifizierter Pflegeberufe für eine qualitativ hochwertige Pflegeversorgung – in vielen internationalen Studien dargestellt – wird in Deutschland nicht ansatzweise anerkannt.
Aber die vorliegenden Studien sind da doch eindeutig.
Wenn ich darauf verweise, höre ich häufig, dass wir doch eine ganz andere Pflegeausbildung und ein anderes Gesundheitssystem hätten. Aber: Bei im internationalen Vergleich formal schlechterer Qualifikation, bei schlechtesten Pflegepersonal-Patientenschlüsseln, aber ebenso komplexen Morbiditäten und sehr hohen Fallzahlen pro Pflegefachperson, ist mir nicht erklärbar, wie wir eine bessere Versorgung und Outcomes erzeugen könnten.
Niemand interessiert sich hier für die Auswirkungen von „missed nursing care“ oder „care left undone“. Die wahre Dimension des Personalmangels wird in Deutschland nicht ansatzweise verstanden und professionelle Pflege als vernachlässigbar gedacht.
Was bedeutet das für die Position der professionellen Pflege im Gesundheitssystem?
Wir müssen heute in Deutschland immer noch begründen, warum die Pflegeberufe wichtig sind und einen Unterschied erzeugen. Wir sind also auf der Stufe der Bittstellerin. Das allein zeigt schon die Marginalisierung der Pflegeberufe.
Während es in Ländern wie den USA seit Jahrzehnten Nurse Practitioner gibt und untersucht wird, wie gut deren Outcomes verglichen mit denen von Hausärzten:innen sind, diskutieren wir hier noch, ob Pflegeberufe selbstständig entscheiden dürfen, ob sie bei einem Patienten den Blutdruck messen.
Ich sage daher mittlerweile: Es gibt gute Hinweise, dass professionelle Pflege einen relevanten Mehrwert erzeugt. Aber: Wollen Sie als Entscheidungsträger:innen überhaupt professionelle Pflege? Wenn ja, zu welchen Bedingungen? Professionelle Pflege gibt es nicht zum Nulltarif.
Der Beitrag von Pflegefachpersonen zu einer guten Patientenversorgung wird nicht ausreichend gewürdigt. Fehlen schlicht die entsprechenden Daten?
Viele internationale Studien zeigen bereits die elementare Wirkung professioneller Pflege auf die Ergebnisse der Gesundheitsversorgung. Nur weil wir keine Daten in Deutschland haben, heißt es nicht, dass wir die Rahmenbedingungen guter Pflege bieten - im Gegenteil. Es wird eher die Annahme gelebt, dass Pflegeberufe nur Kosten verursachen und deswegen bis auf ein Minimum reduziert werden können. Und zwar so weit, dass sie im Grunde nur den Laden am Laufen halten.
Natürlich benötigen wir auch Daten aus Deutschland, um den Mehrwert professioneller Pflege darzustellen. Da wir in den Krankenhäusern und Pflegeheimen jedoch bereits auf einem Pflegepersonal-Patientenschlüssel zusammengeschrumpft sind, der fachliche Pflege nicht mehr angemessen umsetzen kann, benötigt es sehr guter Studiendesigns.
Das andere Problem ist: Unser Gesundheitssystem ist auf Medizin und Krankheitsdiagnosen orientiert. Die Pflegeberufe und ihre Leistungen tauchen in den relevanten Sozialgesetzbüchern nicht auf.
Was heißt das konkret?
Für die gesetzliche Krankenversicherung, also das SGB V, sind die Pflegeberufe quasi unsichtbar. Wenn im G-BA über Leistungen im SGB V verhandelt wird, entscheiden Selbstverwaltungen über pflegerische Leistungen, ohne einen Bezug dazu zu haben.
Einige dieser Selbstverwaltungen haben auch eher das Interesse, die Leistungen der Pflegeberufe möglichst nicht darstellbar und finanzierbar zu machen.
Und wie sieht es bei der Pflegeversicherung aus?
Die Pflegeversicherung ist nicht für die Finanzierung professioneller Pflege entwickelt worden, sondern um die Angehörigenpflege zu unterstützen. Dabei wurde ein Grundfehler begangen: Man hat den Pflegebedürftigkeitsbegriff als Verhandlungsgrundlage für Leistungen genommen, die Pflegedienste oder stationäre Langzeitpflege in Ersatz der Angehörigenpflege durchführen können.
Das hat zu dem Missverständnis geführt, das SGB XI definiere und finanziere berufliche Pflege. Auch das ist ein Grund, warum wir in Deutschland einen schwach ausgebildeten professionellen Status der Pflegeberufe haben. Er wurde mit dem SGB XI einfach mit Laienpflege gleichgesetzt.
Wir verfügen über eines der teuersten Gesundheitssysteme der Welt. Man sollte davon ausgehen, dass sich das in einem entsprechenden Outcome der Patienten widerspiegelt.
Da lässt eine aktuelle OECD-Publikation Zweifel aufkommen. Man kann den OECD-Bericht Indikator für Indikator durchgehen und erkennt, dass Deutschland nur bezogen auf Krankenhausbetten und Kosten für das Gesundheitssystem vorne steht. Wir müssen kritisch fragen, ob diese vielen Krankenhausbetten überhaupt einen Mehrwert haben. Bei der Lebenserwartung liegen wir nur im Mittelfeld. Bezogen auf die altersstandardisierten Sterberaten wegen Herzkreislauferkrankungen befinden wir uns im hinteren Mittelfeld.
Es gibt viele Länder, die die Pflegeberufe besser in die Gesundheitsversorgung und auch in Gesundheitsförderung und Prävention integriert haben. Diese präventiven Potenziale der Pflegeberufe sind in Deutschland in der finanzierten Leistungserbringung nicht vorhanden. Allein dieser Bericht sollte Grundlage für Reformen in Richtung bedarfsangemessener interdisziplinärer Gesundheitsversorgung geben.
Weshalb können die Pflegeberufe in anderen Ländern ihr Potenzial so viel besser in die Gesundheitsversorgung einbringen?
Zum einen sind die Pflegeberufe dort strukturell besser in den Systemen verankert und eher in die Lage versetzt, Verantwortung für den eigenen Beruf zu übernehmen. In Deutschland partizipieren viele Körperschaften im Gesundheitssystem an Entscheidungen, nur die Pflegeberufe nicht.
Zum anderen erfolgt die pflegerische Qualifikation in den meisten Ländern über primärqualifizierende Studiengänge. Dort muss die Pflege nicht ständig begründen, warum sie wichtig und wirksam ist.
Es ist absurd, wenn in einem Land mit einer dreijährigen Ausbildung und Staatsexamen von Entscheidungsträgern Zweifel geäußert werden, ob Pflegeberufe einen Unterschied machen. Die logische Konsequenz wäre: Eine Ausbildung, die keinen Wert erzeugt, wird obsolet. Auf der einen Seite soll der Eindruck erweckt werden, der Pflegeberuf sei wichtig und ein qualifizierter Beruf, auf der anderen Seite er könne genauso gut von jeder anderen ungelernten Person durchgeführt werden.
Wie steht es um den vielbeschworenen Skill- und Grademix in der Pflege – ist der nicht grundsätzlich sinnvoll und richtig?
Ein Skillmix ist erst dann richtig, wenn fachliche bzw. professionelle Pflege sehr gut eingegrenzt wird. Diese Voraussetzung erfüllen wir in Deutschland aber nicht. Im Moment wird ziemlich konzeptlos die Idee verfolgt, jede Helfer:in in der Pflege sei besser als gar keine Person. Die internationale Studienlage weist aber darauf hin, dass ein unreflektiertes Einsetzen von Hilfspersonal in den Krankenhäusern die Outcomes der Patientenversorgung verschlechtert.
Bei uns ist das Gerede um Skillmix daher nur das Bemühen zu kaschieren, dass es Entscheidungsträgern ziemlich egal ist, welche Personengruppen mit welchen Qualifikationen und Kompetenzen pflegerische Versorgung durchführen. Der Skillmix bewirkt daher eher das Gegenteil einer qualitativ hochwertigen pflegerischen Versorgung.
Wir befinden uns mitten in der Pandemie. Hat das zu einem Umdenken geführt? Immerhin gilt die professionelle Pflege als systemrelevant.
Dieser Begriff wird nur als Worthülse verwendet. Es werden keine Anstrengungen unternommen, die Pflegeberufe zu unterstützen. Stattdessen werden sie zu Helden:innen stilisiert. Es hilft den Pflegefachpersonen aber nicht in ihrer Überlast.
Eigentlich führt uns die Pandemie vor, wie hilf- und ideenlos Entscheidungsträger:innen auf Pflegepersonalbedarfe und den Pflegenotstand reagieren.
Es bleibt einfach alles beim Alten, was inmitten einer Pandemie und eines sich seit zwei Jahrzehnten entwickelnden Pflegenotstandes sehr ungünstig ist.
Wird denn nach der Pandemie alles besser?
Die Pandemie kostet sehr viel Geld – auch das Gesundheitswesen. Daher lauert eine große Gefahr: Es werden danach weniger finanzielle Ressourcen zur Verfügung stehen.
Für die Pflegeberufe bedeutet das nichts Gutes, da für sie sicher keine strukturellen oder finanziellen Verbesserungen in Aussicht gestellt werden. Die „fetten“ Jahre wurden in Deutschland nicht ansatzweise genutzt, um die Pflegeberufe zu stärken, ihre Situation zu verbessern und sie besser im Gesundheitssystem zu verankern. Jetzt kommen die mageren Jahre.
Das klingt nach trüben Aussichten. Was muss sich ändern, damit auch in Deutschland die Pflegeprofession den Stellenwert erlangt, den sie in anderen Ländern seit langem einnimmt?
Zunächst müssen wir uns eingestehen, dass das SGB XI NICHT für professionelle Pflege steht und diese auch nicht definiert. Die Pflegeversicherung hat in Deutschland erst zu diesem eingeengten Verständnis pflegerischer Versorgung geführt und die Weiterentwicklung der Pflegeberufe auf europäisches bzw. weltweites Niveau verhindert.
Die Pflegeberufe müssen zudem korporatistisch in die Entscheidungen des Gesundheitssystems integriert werden und sollten die Verantwortung für Aus-, Fort- und Weiterbildung der Berufsgruppe erhalten. Nicht zuletzt brauchen wir eine Reform des SGB V und SGB XI, bei der die Leistungen der Pflegeberufe integriert werden.
Und die Forschung, was steht da auf der Agenda?
Wir müssen systematisch untersuchen, wie sich verschiedene Faktoren auf die Versorgungsqualität in der Pflege auswirken. Dazu zählen beispielsweise Studien zu Skillmix-Konzepten und deren Wirkungen auf Patienten-Outcomes sowie zu den Auswirkungen von „missed nursing care“ auf Komplikations- und Sterberaten.
Welchen Einfluss haben Umgebungsfaktoren, Trägerschaft und Führungsstile? Wie stellen wir qualitativ hochwertige Versorgung von Personen mit hochkomplexen Versorgungsbedarfen sicher. Es sind noch viele Fragen offen.
Das Interview führte Nicoletta Eckardt.