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24.09.2019 | Pflegewissenschaft | Nachrichten

Doppelte Verantwortung – wenn Pflegeprofis auch privat pflegen

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Viele Pflegekräfte schultern neben ihrem Beruf gleichzeitig die Pflege eines Angehörigen. Eine Doppelbelastung, die bisher kaum Beachtung findet. Ein Dresdner Forschungsprojekt hat sich des Themas angenommen und dabei wichtige Erkenntnisse gewonnen. Wir sprachen mit den Initiatoren, Prof. Anne-Katrin Haubold und Prof. Thomas Fischer.

(Porträts) © li.: Hoffotografen, re.: © Peter Sebb, HTW DresdenProf. Thomas Fischer ist Pflege- und Gesundheitswissenschaftler an der Evangelischen Hochschule Dresden. Prof. Anne-Katrin Haubold widmet sich an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Dresden schwerpunktmäßig dem Thema Personalmanagement. 

Berufliche und private Pflegeaufgaben miteinander zu vereinbaren, das ist eine enorme Herausforderung. Wie viele Pflegekräfte leisten täglich diesen Spagat?

Fischer: Wir haben bundesweit ambulante Pflegedienste und stationäre Pflegeeinrichtungen besucht und rund 500 Pflegefachkräfte und Pflegehilfskräfte befragt. Krankenhäuser waren nicht einbezogen. In unserer Befragung lag der Anteil doppelt Pflegender bei rund 20 %. Es war allerdings teilweise schwer, die Pflegedienste zu erreichen. Die häufigste Aussage der Pflegedienstleitungen war: So etwas gibt es bei uns nicht und damit war häufig das Interesse zur Studienteilnahme beendet. Es kann sein, dass teilweise die Einrichtungen teilgenommen haben, für die das Thema besonders präsent war.

Was macht die Situation der doppelt Pflegenden so besonders – unterscheidet sie sich von der anderer pflegender Angehöriger?

Fischer: Die „großen Probleme“ unterscheiden sich gar nicht so sehr. Eine wichtige Frage für Double Duty Carer (DCC) ist, inwieweit offenbare ich mich an meinem Arbeitsplatz und sage, dass ich zu Hause noch jemanden pflege. Daran schließt sich unmittelbar die Vereinbarkeitsfrage an.

Haubold: Ja, aus betrieblicher Sicht sind es vor allem die Vereinbarkeitsprobleme, die bei 2- oder gar 3-Schicht-Systemen auftauchen. Wenn ich zu Hause beispielsweise meine Mutter pflege, aber immer zu unterschiedlichen Zeiten arbeiten muss, stellt sich natürlich die Frage, wie kann ich das unter einen Hut bekommen. Manche doppelt Pflegenden haben auch noch Kinder zu versorgen. Darüber hinaus gibt es auch einen Rollenkonflikt: Jemand ist in der Pflegesituation zu Hause einerseits der Pflegeprofi. Andererseits gibt es da aber die persönliche Bindung zum zu Pflegenden. Er ist eben nicht einer der Bewohner aus meinem Wohnbereich, wo ich professionell agieren kann, sondern er ist jemand, zu dem ich unter Umständen eine sehr persönliche Bindung habe.

Mit welchen Problemen kämpfen die doppelt Pflegenden noch?

Fischer: An sie werden oft von außen hohe Erwartungen herangetragen. Dann heißt es: Derjenige, der aus der Pflege kommt, übernimmt natürlich auch diese Aufgaben innerhalb der Familie oder im Freundeskreis. Zum anderen sieht derjenige, der aus einem Pflege- oder Heilberuf kommt, natürlich Dinge in der Versorgung seines Angehörigen anders als ein reiner Laien-Pflegender. Die DCC greifen deutlich steuernder ein. Sie koordinieren und geben auch Hinweise an die Pflegedienste und Ärzte. Das zusätzliche Wissen bringt aber auch zusätzliche Belastungen mit sich.

Scheuen sich Double Duty Carer eher, professionelle Hilfe ins Boot zu holen?

Haubold: Das können wir so nicht sagen. In mehreren Interviews wurde deutlich, dass der Druck eher von den zu pflegenden Angehörigen ausgeht. Dann heißt es: Bei mir kommt kein Fremder ins Haus. Du bist doch Pflegekraft, mach du das mal.  

Sprechen die doppelt Pflegenden ihre Problematik gegenüber den Arbeitgebern an, oder geht die Initiative von den Führungskräften aus?

Haubold. Das hängt auch von der Führungskultur und dem Betriebsklima ab. Häufig rutschen die Mitarbeiter peu à peu in diese Rolle hinein. Da kommt jemand aus der Familie akut ins Krankenhaus und natürlich macht man dann schnell mal zwei Anrufe. Daraus wird dann immer mehr. Im sehr hektischen betrieblichen Alltag in der Pflegeeinrichtung stellt sich die Frage: Gibt es einen Zeitpunkt, wann auch mal in Ruhe über solche Themen gesprochen wird? Dieser Zeitpunkt wird manchmal schlicht und einfach verpasst. Wir wollen Führungskräfte daher verstärkt über die Problematik der DCC aufklären und haben eine Informationsbroschüre sowie einen Leitfaden für Mitarbeitergespräche entwickelt, der auf unserer Homepage abgerufen werden kann.

Was raten Sie Pflegedienstleitungen und Personalverantwortlichen? Was können sie tun, um Mitarbeiter in dieser Situation zu entlasten?

Haubold: Die Problemfelder der DCC sind nicht unbedingt spezifisch. Mit ihnen hat die Branche insgesamt enorm zu kämpfen, beispielsweise die ganzen Themen rund um Arbeitszeit und Dienstplanung. An dieser Stellschraube können Arbeitgeber versuchen zu drehen. Das heißt, sie können für Mitarbeiter, die solche Vereinbarkeitsthemen haben, einen besonders verlässlichen Dienstplan erstellen. Oder sie investieren in ein „Ausfallmanagement“. Da wird dann gezielt daran gearbeitet, dass Leute weniger aus dem Frei hereingerufen werden.
Ein anderer Ansatzpunkt ist das Thema Arbeitsorganisation. Können wir bestimmte Tätigkeiten anders verteilen, so dass DCC nicht auch doppelt belastet werden? Wenn zu Hause der Angehörige an einer mittelschweren Demenz leidet, ist es vielleicht doppelt belastend, wenn ein Mitarbeiter bei der Arbeit auch nur mit Dementen arbeitet.

Fischer: Ich würde mir wünschen, dass Arbeitgeber und Vorgesetzte die Vereinbarkeitsthemen von sich aus ansprechen. Wenn sie beginnen, diese Problematik zu thematisieren, schaffen sie damit eine Offenheit im Pflegebetrieb. Mitarbeiter fühlen sich wahrgenommen, wenn sie mit diesen Themen kommen. Es ist ein wichtiges Führungsthema, zu signalisieren, dass man die Problematik der doppelt Pflegenden kennt und Interesse daran hat, gemeinsam mit dem Mitarbeiter gute Lösungen zu finden, die sowohl für den Betrieb als auch für den Beschäftigten funktionieren.

Das Problem des Personalmangels ist in der Pflegebranche allgegenwärtig. Glauben Sie, dass Unternehmen, die sich dem Vereinbarkeitsproblem stellen und Lösungen entwickeln, davon profitieren?

Haubold: Man kann schwer sagen,  wer das macht, hat 10 oder 20% mehr Bewerber. Das wäre zu kurz gegriffen. Generell sind die DCC häufiger in der Altersgruppe 50 Plus anzutreffen sind, weil dann die eigenen Eltern hochaltrig sind und möglicherweise pflegebedürftig werden. Personalwirtschaftlich besteht eher die Gefahr, dass verdiente, erfahrene Mitarbeiter aussteigen, bevor sie das Rentenalter erreichen.

Fischer: Wenn man den Blick umdreht vom Defizit zum Nutzen und schaut, was DCC vielleicht ihrem Arbeitsplatz und dem Gesundheitswesen bringen, stellt man fest: Diese Mitarbeiter blicken aus  der Angehörigenperspektive. Sie verstehen deutlich besser, was die Nutzer oder Pflegeempfänger wünschen und wie ein konstruktiver Umgang mit Angehörigen aussieht. Für ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen ist es auch eine Chance, diese Mitarbeiter einzubinden, wenn es um die Strategie zur Zusammenarbeit mit pflegenden Angehörigen oder überhaupt mit Angehörigen geht. Die Einrichtungen können lernen, wie man das besser macht. DCC bringen für die Pflegeeinrichtung also auch einen zusätzlichen Kompetenzgewinn. Den kann man nur nutzen, wenn man sich diesem Thema öffnet.

Das Interview führte Nicoletta Eckardt.

Das Projekt „DDcareD – Double Duty Carers in Deutschland“ untersucht die Lebenssituation von Menschen mit beruflichen und privaten Pflegeaufgaben. Gleichzeitig werden Unterstützungsangebote für diese besonders belasteten Pflegekräfte entwickelt. Beteiligt sind Wissenschaftler der  Evangelischen Hochschule Dresden (ehs) sowie der Hochschule für Technik und Wirtschaft Dresden (HTW). Gefördert wird das Projekt durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen des Programms „Forschung an Fachhochschulen – SILQUA FH“.
https://doubledutycare.de


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