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31.08.2021 | Pflegerat | Nachrichten

Baustellen in der Pflege angehen

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Seit Mitte Juni ist Christine Vogler Präsidentin des Deutschen Pflegerats (DPR). Wir sprachen mit ihr über alte Probleme, neue Herausforderungen und welche Chancen Pflegende und ihre Profession in Deutschland haben.

© Gudrun ArndtChristine Vogler, Präsidentin des Deutschen Pflegerats (DPR). Parallel zum berufspolitischen Ehrenamt leitet die Pflegepädagogin den Berliner Bildungscampus für Gesundheitsberufe (BBG).

Frau Vogler, die Herausforderungen in der Pflege sind groß, was haben Sie sich für die ersten Monate als DPR-Präsidentin vorgenommen? 

Vogler: Zunächst – alleine geht es gar nicht. Gemeinsam mit meinen beiden Vizepräsidentinnen Irene Maier und Annemarie Fajardo und dem gesamten Präsidium haben wir die ersten Eckpunkte besprochen. Diese werden mit dem Pflegerat abgestimmt. Es gibt so unglaublich viele Baustellen, dass wir viele Dinge parallel bearbeiten müssen. Zu unseren Schwerpunkten aber gehören definitiv:

_Pflegepersonalausstattung in allen pflegerischen Settings. Hier liegt der Schwerpunkt auf der Umsetzung des Rothganggutachtens in der Langzeitversorgung und dem Einfordern der PPR 2.0 für den stationären Akutbereich.
_ Kompetenzerweiterung von Pflegefachpersonen, Übertragung von heilkundlichen Aufgaben und Erweiterung der pflegerischen Handlungsfelder
_ Einfordern neuer Berufsbilder in der Pflege wie Schulgesundheitspflege und Community Health Nurse
_ Einfordern beruflicher Handlungsautonomie und Selbstverwaltungsstrukturen im Gesundheitswesen
_ Pflegeberufliche Bildung einfordern - denn hier gibt es Tendenzen, dass die Generalistik wieder in Frage gestellt wird, Hochschulkapazitäten für die Grundausbildung nicht oder nur sehr unzureichend geschaffen werden und die Durchlässigkeit nicht konsequent weiter gedacht und umgesetzt wird. Stichwort Föderalismus!
_ Einbringen in die Digitalisierungsdebatten der Gesundheitsversorgung. Auch hier erleben wir, dass Lobbyverbände die eigenen Interessen verfolgen und nicht die der Pflegebedürftigen.

Es wird uns nicht langweilig werden. Denn für Pflegebedürftige und Pflegende ist die Lage bedrohlich. Wir können nur immer weiter versuchen, mit unserer außerordentlichen und breiten Expertise auf die Sachverhalte hinzuweisen. Zustände und Bedingungen, die wir erleben, wahrnehmen und jeden Tag bewältigen. Doch durch unsere fehlenden Einflussmöglichkeiten können wir tatsächlich kaum etwas aktiv verändern.

Trotz aller Proteste und Kundgebungen in der letzten Zeit von und für die Profession Pflege werden in Schleswig-Holstein und Niedersachsen gerade zwei mühsam erstrittene Pflegekammern aufgelöst. Warum? Sehen die Pflegefachkräfte ihre Chance nicht oder ist die Politik stärker und es den verantwortlichen Politikern gerade recht, wenn es keine starke Selbstverwaltung der Pflegenden gibt?

Vogler: Diese Frage bewegt uns natürlich auch sehr. Warum kämpfen Pflegende nicht für Selbstverwaltung und -verantwortung? Und warum wählen gerade jetzt auch nur 16% der Pflegenden in Rheinland-Pfalz ihre eigene Interessensvertretung? Wir wissen es nicht. Ich will das mal anders darstellen. Letztendlich geht es aus meiner Sicht nicht mehr um die Frage, ob Befürworter, Gegner, Politiker oder sonst wer eine Pflegekammer wollen oder nicht. Es geht um die Versorgungsqualität von Pflegebedürftigen, um Präventionsarbeit und Gesundheitskompetenzentwicklung in der Gesellschaft. Dafür brauchen wir einen souveränen Pflegeberuf im Gesundheitswesen - inhaltlich und strukturell. Und um souverän zu sein, benötigt man Strukturen, die engagierte, kompetente Pflegende unterstützen. Seit Gründung der Bundesrepublik ist es keinem Bundesland gelungen, Strukturen zu schaffen, die das konsequent ermöglichen. In den Gesundheitsberufen wären die Heilberufekammern die Institution, die das durch Übertragung staatlicher Aufgaben erledigen könnten. Die Einführung einer Selbstverwaltung ist also kein Szenario, das an Befragungen gekoppelt werden darf. Es ist eine sofortige Pflicht für alle Bundesländer. Damit werden die Pflegequalität und der Bestand des Berufes gesichert. Dazu braucht es Gesetze, die heute auf den Weg gebracht werden. Sonst wird die Pflege in Deutschland in der Bedeutungslosigkeit versinken. Und wenn Pflege im Gesundheitswesen keinen Wert abliefert, können alle anderen Fachdisziplinen im Gesundheitswesen auch nicht volle Leistung liefern. Die Befragungen der letzten Jahre in den Bundesländern zeugen von einem falschen Verständnis der zuständigen Landesregierungen - da ist aus unserer Sicht einiges nicht verstanden worden oder wollte nicht verstanden werden - bis heute.

Nach der Auflösung der norddeutschen Kammern - bekommt der DPR vielleicht wieder mehr Gewicht?

Vogler: Der DPR hat ein starkes Gewicht auf der Bundesebenen. Das sehen wir unter anderem an der Beteiligung im Rahmen von Gesetzesverfahren, Anhörungen, Kontakten zur Bundespolitik und Beteiligung an vielen Arbeitsgruppen auf der bundespolitischen Ebene. Wir vereinen die Pflegefachverbände unter einem Dach und vertreten ca. 80.000 Pflegende. Die Arbeit von allen Beteiligten hat in den letzten Jahrzehnten zur heutigen guten Reputation und Anerkennung des DPR geführt. Gleichzeitig begleiten wir die Bundespflegekammer auf dem Weg der Entwicklung. Die Situation in Schleswig-Holstein und Niedersachsen hat zu einem Rückschritt in der Kammerbewegung, auch auf der Bundesebene, geführt. Aber wir freuen uns nun auf die Kolleg*innen aus Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg.

Ende September wird gewählt - Pflegepersonalbemessung 2.0, Löhne oder die Akademisierung der Pflege sind nur einige Stichworte: Was erwartet, was fordert der DPR von der neuen Bundesregierung?

Vogler: Letztendlich hat das natürlich auch mit unseren erwähnten Arbeitsschwerpunkten zu tun. Wir fordern nach wie vor als schnelle und brauchbare Übergangslösung die Einführung der PPR 2.0 für den stationären Akutbereich sowie eine schnellere Umsetzung der geplanten Personalbemessung im stationären Langzeitbereich. Die im GVWG erweiterten Kompetenzen für Pflegefachpersonen müssen nun konsequent in das System eingebunden und Gesetze angepasst werden. Verschreibungsfähigkeit von Wund- und Heilmitteln oder Medikamente in speziell definierten Handlungsfeldern von Pflegefachpersonen mit entsprechender Expertise und Qualifikation müssen selbstverständlich werden. In den Ländern sollten Selbstverwaltungsstrukturen sofort etabliert und entsprechend anschubfinanziert werden, auf der Bundesebene sind ebenfalls entsprechende Strukturen zu unterstützen. Es darf nicht mehr um das "OB" einer Pflegeselbstverwaltung gehen, sondern um das "WIE?". Die Pflegebedürftigen müssen entlastet werden - wir müssen die bestehenden Finanzierungssysteme in allen pflegerischen Versorgungssetting auf den Prüfstand stellen. Ist die Einteilung der Sozialgesetzbücher in SGB V, IX und XI aus der Sicht der zu Versorgenden noch gerechtfertigt? Und die generalistische Pflegebildung an Hochschulen und Ausbildungsstätten muss konsequent vorangetrieben werden. Weiterbildungsstrukturen sind nicht nur für den stationären Akutbereich zu denken, sondern für alle pflegerischen Settings und sie müsssen in die Hände der Selbstverwaltung der Pflegenden gelegt werden.

Und was fordert die Politik von der Pflege?

Vogler: Spannende Frage. Ich finde nicht, dass es hier Ansprüche an die Pflegenden geben kann. Wir führen unseren Beruf aus und zwar lange vor, während und lange nach der Pandemie - unter teils haarsträubenden Bedingungen. Wir arbeiten, wie es unsere Berufsgesetze von uns verlangen und wir unserem Berufsethos verpflichtet sind. Was wir benötigen, sind die Strukturen, um genau das umsetzen zu können - angemessene, würdevolle, qualitative Pflege. Die Bringschuld, neue und bessere Strukturen zu schaffen, liegt hier eindeutig in der Politik und der Gesellschaft.

Stichwort Covid-19: was hat die Profession aus der Pandemie gelernt und verlassen Pflegende tatsächlich in Scharen den Beruf? Mit welchen Gefühlen blicken Sie in die Zukunft?

Vogler: Momentan ist der Blick nach vorne eher sorgenvoll. Wenn die prognostizierte "Welle Nummer 4" kommt, weiß ich nicht, ob die Pflegenden nochmal bereit sind, unter den vorhergehenden Bedingungen zu arbeiten. Die Frage nach dem "Wer bleibt?" ist durchaus berechtigt. Und wenn die Welle nicht kommt oder die Pandemie langsam abflacht oder ins normale Leben integriert wird, sehen wir nicht, dass sich in Deutschland für Pflegende etwas verändern wird. Das Handeln der Bundesregierung in der vergehenden Legislatur hat in die richtige Richtung geschaut - angekommen ist bei den Pflegenden bis heute nichts. Zumindest nichts von Dauer. Aber der Deutsche Pflegerat e.V. mit all seinen Mitgliedsverbänden und dem neuen Präsidium bleibt an der Entwicklung der Profession Pflege in Deutschland dran. Und selbst wenn manche glauben, wir wären zahnlose Tiger - so können wir zumindest konstruktiv Knurren und Spuren hinterlassen. Und das werden wir weiter deutlich tun. Ich freue mich jedenfalls sehr auf die gemeinsame Arbeit.

Das Interview führte Katja Kupfer-Geißler

Lesen Sie das ausführliche Interview in der aktuellen Ausgabe der PflegeZeitschrift

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