In vielen Fällen können ein Verbleib und eine umfassende Betreuung pflegebedürftiger Personen im häuslichen Bereich nur durch pflegende Angehörige (pA) sichergestellt werden. Frühes Erkennen gesundheitlicher Belastungen durch informelle Pflege sowie die Koordination adäquater Maßnahmen obliegen zumeist dem Hausarzt. Deren Einstellungen und individuelle Sichtweisen sind daher von besonderer Relevanz, um z. B. den Bedarf nach Interventionen abzuschätzen und die (Neu/Weiter‑)Entwicklung eines Instruments zur frühen Identifikation und Erfassung der Pflegebelastung zu ermöglichen.
Hintergrund und Fragestellung
Pflegende Angehörige übernehmen den mit Abstand größten Anteil an längerfristiger Pflege ihrer zumeist älteren und chronisch kranken Verwandten oder Freunde. Damit verbunden ist ein höheres Risiko für Überforderung der Pflegepersonen durch die anhaltend hohe zeitliche, finanzielle und emotionale Belastung [z. B.
4,
22].
Die oftmals unspezifischen Auswirkungen anhaltender psychischer und körperlicher Belastungen pflegender Angehöriger frühzeitig zu erkennen, ist ein Schlüsselfaktor für eine angemessene Koordination ggf. vorhandener Ressourcen und Vermittlung individueller Hilfen zum Erhalt einer funktionalen Pflegebeziehung ohne gravierende chronische Überlastung. Hausärzte (HÄ) haben eine zentrale Rolle beim Erkennen von Belastungen und als Lotse für Patienten und ihre pA [
5,
21,
22].
Jedoch sprechen pA gesundheitliche Probleme durch Pflege selten von allein an und fordern noch seltener proaktiv Unterstützung ein [
5,
22,
28]. Auch Angehörige der Gesundheitsberufe und Sozialdienste bieten angemessene Unterstützung von sich aus in vielen Fällen zu selten an [
4,
5,
15,
22,
28]. Die S3-Leitlinie „Pflegende Angehörige von Erwachsenen“ (2018) empfiehlt daher (wiederholte) Assessments der Pflegesituation und Belastung z. B. bei Übernahme einer Pflegetätigkeit oder gesundheitlichen Beschwerden der Angehörigen [
6]. Die in der Leitlinie enthaltene Kurzversion der Häuslichen Pflege-Skala (HPS, 10 Items) wird empfohlen, um die individuellen Belastungen der pA zu erfassen und auch im Verlauf zu beurteilen [
10,
11].
Individuelle Sichtweisen der HÄ zur Identifizierung und Unterstützung pflegender Angehöriger wurden bisher kaum untersucht [
15]. Einen Aufschlag machte Schneemilch (2018). Sie befragte 10 Hausärzte zu ihrer Beziehung zu pA und stellte heraus, dass die Intensität, mit der Hausärzte pA betreuen, stark variiert und eine große Diskrepanz zwischen benötigter und zur Verfügung stehender (Gesprächs‑)Zeit eine adäquate Betreuung erheblich erschwert. Des Weiteren behindern oftmals Kommunikations- und Informationsdefizite der involvierten Personen (z. B. nichtangesprochene Probleme usw.) sowie eine inadäquate Vergütung der Gespräche die zeitnahe Versorgung [
23].
Ziel der Untersuchung ist, Potenziale zur frühen Erkennung und zur besseren Implementierung in den Praxisalltag zu identifizieren.
Diskussion
Die Studie bestätigt die zentrale Stellung von HÄ bezüglich der Erkennung, Beratung und Betreuung pflegender Angehöriger. Sie zeigt Ansatzpunkte zur Verbesserung der Versorgung in der allgemeinmedizinischen Praxis, aber auch kontroverse Sichtweisen von HÄ auf.
Dass ein proaktives Ansprechen einer Pflegebelastung nicht systematisch erfolgt, macht deutlich, dass mangelnde zeitliche Ressourcen und längere Gespräche einen geplanten Praxisablauf erschweren. Als zeitliche Spanne wurde dafür von den interviewten Ärzten ein mindestens 10-minütiges Gespräch angegeben. Tatsächlich beträgt die durchschnittliche Gesprächszeit pro Patient in Deutschland max. 7 min [
7]. Insbesondere psychosomatische Symptome erwecken den Verdacht auf Überlastung durch Pflege. Ein Ansprechen dieser komplexen Probleme macht auf zeitlicher Ebene Einschränkungen im weiteren Praxisablauf notwendig [
16].
Die Aussagen zur S3-Leitline lassen ähnlich wie bei Schneemilch (2018) u. a. Rückschlüsse auf Verbesserungspotenzial hinsichtlich der Implementierung der Leitlinie zu. Von einer generellen Leitlinienmüdigkeit kann im Hinblick auf die Ergebnisse anderer Studien zur Akzeptanz und Nutzung von Leitlinien in der hausärztlichen Praxis nicht ausgegangen werden [
1,
20]. Leitlinien mit überwiegend pharmakotherapeutischen Inhalten erfahren eine höhere Akzeptanz als z. B. Leitlinien mit eher kommunikativen Inhalten, deren Umsetzung im Wesentlichen von zeitlichen und strukturellen Möglichkeiten des Hausarztes abhängt. Die Leitlinie „Pflegende Angehörige“ enthält überwiegend Empfehlungen, die kommunikative und zeitliche Ressourcen der Ärzte und auch proaktives Vorgehen der Patienten erfordern. Möglicherweise führt dieser Umstand zu Umsetzungsproblemen [
1,
24].
Wangler et al. (2019) untersuchten in einer deskriptiven Studie die Erwartungen pflegender Angehöriger und deren tatsächlich erlebte Betreuung in der hausärztlichen Praxis. Dazu wurden in Internetforen 204 pA befragt. Die aus der Studie hervorgegangenen Problempunkte korrelieren mit Aussagen der befragten Ärzte, die sich als erster Ansprechpartner für pA sehen und mit deren komplexen Situation zumeist vertraut sind. Mangelnde zeitliche Ressourcen und unzureichende aktive Ansprache der pA als Pflegeperson wurden ebenfalls als problematisch identifiziert [
26]. Dieser Umstand könnte u. a. auch auf die beschriebene unzureichende Nutzung eines Screeninginstruments zurückzuführen sein, obwohl sowohl im nationalen als auch im internationalen Kontext standardisierte Instrumente zu Erkennung und Erfassung einer pflegebedingten Belastung existieren (z. B. Häusliche Pflege-Skala – HPS; engl.: Burden Scale for Family caregivers – BSFC).
Ein Instrument zur frühen Erkennung und Verlaufsbeurteilung, das strukturelle Barrieren und knappe zeitliche Ressourcen berücksichtigt, kann eine adäquate Lösung darstellen. Bei Assessments und Interventionen ist es schwer, den Implementierungserfolg vorherzusagen, da weitere Faktoren in der (haus)ärztlichen Praxis diesen beeinflussen [
12]. Deshalb halten es die Autoren für notwendig, die besonderen Anforderungen und Eigenschaften von Interventionen in der allgemeinmedizinischen Praxis systematisch zu erforschen (z. B. syst. Review, Fokusgruppen – Diskussion), um ein adäquates Instrument zu entwickeln oder die HPS entsprechend zu modifizieren.
Die Ausführungen der befragten Ärzte zeigen eine teilweise praktizierte, aber zeitlich schwer realisierbare „Allzuständigkeit“, die sich aufgrund eines empfundenen Fehlens eindeutig definierter Zuständigkeiten und zentraler Koordination auch für (nichtärztliche) Leistungen ergibt, die z. B. im SGB XI geregelt sind (z. B. § 7a SGB XI – individuelle Pflegeberatung) [
8,
25].
Um eine umfassende Betreuung pflegender Angehöriger gewährleisten zu können, sind die Vernetzung und Zusammenarbeit mit lokalen Akteuren essenziell [
27]. Mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz 2008 strebten Sachsen-Anhalt und Sachsen die „vernetzte Pflegeberatung“ an. Bestehende Strukturen sollten ausgebaut und vernetzt werden. Notwendige Voraussetzungen sind regional vorhanden (ambulante Pflegedienste, Beratungsstellen) und werden auch genutzt. Sowohl vorhergegangene Evaluationen als auch unsere Ergebnisse zeigen jedoch, dass eine aktive Kooperation und Kommunikation aller beteiligten Akteure besonders an der Schnittstelle Pflege/Pflegeberatung – Hausarztpraxis notwendig ist, aber bisher als nicht umgesetzt betrachtet werden kann [
2,
27]:
Eine häufige Zusammenarbeit zwischen Pflegestützpunkten (PSP) und HÄ erfolgt laut einer aktuellen Erhebung in Brandenburg (
n = 41) von Hahnel et al. nur bei 14,6 % der PSP [
13]. Zu einem ähnlichen Fazit kommen Braeske et al. (2018) in einer bundesweiten Online-Befragung mit 148 Pflegestützpunkten. Als ausdrücklich „noch nicht befriedigend“ wird neben der Zusammenarbeit mit Krankenhäusern und Fachkliniken (28 %), niedergelassenen (Fach‑)Ärzten (35 %) von 40 % der befragten PSP die Zusammenarbeit mit HÄ bezeichnet [
3].
Durch unzureichende Kooperation und Kommunikation kommt es häufig zu vermeidbaren Versorgungsbrüchen bei der zu pflegenden Person und deren pA. Neben der Entwicklung eines adäquaten Assessments zur frühen Identifikation muss die Zusammenarbeit zwischen Beratungsstellen und HÄ verbessert werden.
Das Konzept FIDEM Niedersachsen als gemeinsames Netzwerk von Arztpraxen und nichtärztlichen Unterstützungsangeboten für Menschen mit einer Demenzerkrankung stellt einen vielversprechenden Ansatz dar. Die Netzwerkteilnehmenden sind in der Regel Anbieter von Pflegeberatung, niedrigschwelligen Betreuungs- und Entlastungsangeboten, Ergotherapiepraxen (ggf. mit entsprechender Weiterbildung) und Selbsthilfegruppen für Angehörige und zu Pflegende. Pflegende und ihre pA werden in einem Patientengespräch beim Hausarzt über die Möglichkeiten des Netzwerks informiert. Dieser darf (bei Einwilligung und nach Entbindung der Schweigepflicht) deren Kontaktdaten z. B. an eine ausgewählte Pflegeberatung weiterleiten (strukturiertes Faxformular). Die aufsuchende Arbeitsweise der nichtärztlichen Akteure ist ebenso zentrales Merkmal dieses Konzeptes wie eine Rückmeldung dieser an die Hausarztpraxis über erfolgte Kontaktaufnahme sowie weitere Entwicklungen. Anbieter nichtärztlicher Leistungen vermitteln die Patienten und ihre pA bei Bedarf untereinander weiter. Die regionale Koordination und Umsetzung des Konzeptes übernehmen (Senioren- und) Pflegestützpunkte in der Wahrnehmung ihrer Funktion des Care-Managements [
18]. Die Wirksamkeit eines neu entwickelten Assessments zur frühen Identifikation pflegender Angehöriger kann innerhalb des Netzwerks getestet werden.
Limitationen
Den Autoren ist bewusst, dass die teilweise gesteuerte Auswahl der Studienteilnehmer nicht zur Rekrutierung einer repräsentativen Stichprobe führen kann. Vorteilig war jedoch, dass so die spezifische Fragestellung mit einer festgelegten Expertengruppe unter Einbezug vieler Faktoren (Alter, Praxissitz etc.) bearbeitet werden konnte [
9].
Durch Anwesenheit des Interviewers in einem persönlichen Interview besteht die Gefahr durch Verzerrungen durch sozial erwünschtes Antwortverhalten [
17]. So wird eine unzureichende Vergütung längerer Gespräche als unproblematisch benannt. Zu vermuten ist allerdings, dass einige normativ tabuisierte Angaben wie ökonomische Überlegungen, die im persönlichen Interview scheinbar eine untergeordnete Rolle spielen, tatsächlich mehr Einfluss haben.
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