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Open Access 2018 | OriginalPaper | Buchkapitel

14. Personalausstattung, Personalbemessung und Qualität in der stationären Langzeitpflege

verfasst von : Prof. Dr. Stefan Greß, Prof. Dr. Klaus Stegmüller

Erschienen in: Pflege-Report 2018

Verlag: Springer Berlin Heidelberg

Zusammenfassung

Die Entwicklung von Mindeststandards zur Personalbemessung in den USA ist aus deutscher Sicht insofern vorbildhaft, als dass zumindest die Empfehlungen auf der Basis umfangreichen Datenmaterials zum Zusammenhang von Personalausstattung und Pflegequalität beruhen. Die tatsächlich umgesetzten Mindeststandards in den einzelnen Bundesstaaten liegen teilweise deutlich unter diesen Empfehlungen – was durch politische und finanzielle Restriktionen erklärbar sein dürfte. Die empirischen Erfahrungen aus den USA zeigen darüber hinaus, dass Einrichtungen ohne entsprechende Vorgaben zur Erfüllung der gesetzlichen Mindeststandards vor allem in die Neueinstellung von Pflegehilfskräften, also in vergleichsweise gering qualifiziertes Personal investieren. Vor diesem Hintergrund würde in Deutschland die Entwicklung eines Verfahrens zur Personalbemessung alleine weder die Personalausstattung in den Einrichtungen hinreichend erhöhen noch die Pflegequalität verbessern. Dazu müssten die zuständigen Behörden in den Bundesländern dazu verpflichtet werden, die Einhaltung des postulierten bundesweit einheitlichen Personalbedarfs einschließlich einer ambitionierten Fachkraftquote zu überprüfen und ggf. auch zu sanktionieren.
Zusammenfassung
Die Entwicklung von Mindeststandards zur Personalbemessung in den USA ist aus deutscher Sicht insofern vorbildhaft, als dass zumindest die Empfehlungen auf der Basis umfangreichen Datenmaterials zum Zusammenhang von Personalausstattung und Pflegequalität beruhen. Die tatsächlich umgesetzten Mindeststandards in den einzelnen Bundesstaaten liegen teilweise deutlich unter diesen Empfehlungen – was durch politische und finanzielle Restriktionen erklärbar sein dürfte. Die empirischen Erfahrungen aus den USA zeigen darüber hinaus, dass Einrichtungen ohne entsprechende Vorgaben zur Erfüllung der gesetzlichen Mindeststandards vor allem in die Neueinstellung von Pflegehilfskräften, also in vergleichsweise gering qualifiziertes Personal investieren. Vor diesem Hintergrund würde in Deutschland die Entwicklung eines Verfahrens zur Personalbemessung allein weder die Personalausstattung in den Einrichtungen hinreichend erhöhen noch die Pflegequalität verbessern. Dazu müssten die zuständigen Behörden in den Bundesländern dazu verpflichtet werden, die Einhaltung des postulierten bundesweit einheitlichen Personalbedarfs einschließlich einer ambitionierten Fachkraftquote zu überprüfen und ggf. auch zu sanktionieren.
From a German perspective, the development of minimum standards for personnel allocation in the USA is exemplary in so far as the recommendations are based on extensive data on the connection between staffing and nursing care quality. The minimum standards actually implemented in the individual states are in some cases significantly lower than these recommendations – which is probably due to political and financial restrictions. The empirical experience from the USA also shows that nursing facilities without the requirements for meeting the legal minimum standards invest primarily in recruiting new nursing assistants, i. e. in comparatively low-skilled personnel. Against this backdrop, the sole development of a personnel allocation procedure in Germany would neither sufficiently increase staffing levels in the facilities nor improve nursing care quality. To this end, the authorities in the federal states would have to be obliged to check compliance with the postulated uniform personnel requirements throughout Germany, including an ambitious ratio of skilled workers, and – if necessary – to sanction non-compliance.

14.1 Hintergrund

Mit dem Pflegestärkungsgesetz II hat der Gesetzgeber erstmals ein Verfahren zur Entwicklung eines Systems der Personalbemessung in der stationären Langzeitpflege gesetzlich verankert. Gemäß § 113c SGB XI soll bis zum 30. Juni 2020 ein strukturiertes, empirisch abgesichertes und valides Verfahren auf der Basis des durchschnittlichen Versorgungsaufwands für direkte und indirekte pflegerische Maßnahmen unter Berücksichtigung der fachlichen Ziele des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs entwickelt werden.
Vor diesem Hintergrund analysiert dieser Beitrag den Zusammenhang zwischen Maßnahmen zur gesetzlichen Personalbemessung und Pflegequalität. Die vorliegende Evidenz bezieht sich ausschließlich auf gesetzliche Maßnahmen zur Personalbemessung in den USA. Trotz der unterschiedlichen Voraussetzungen – insbesondere im Hinblick auf die Qualifikation der Pflegekräfte – lassen sich wertvolle Schlussfolgerungen für den Zusammenhang zwischen Personalausstattung und Pflegequalität sowie im Hinblick auf die Implementation von Maßnahmen zur gesetzlichen Personalbemessung in Deutschland ableiten.1

14.2 Zusammenhang gesetzliche Personalbemessung und Pflegequalität

In diesem Abschnitt gehen wir der Frage nach, welche Effekte Maßnahmen zur gesetzlichen Personalbemessung auf die Qualität der Versorgung in der stationären Langzeitpflege haben. Die vorliegende Evidenz bezieht sich ausschließlich auf einschlägige Forschungen im US-amerikanischen Versorgungskontext.2 Ähnliche Studien mit vergleichbarer methodischer Qualität aus Deutschland liegen derzeit nicht vor.

14.2.1 Maßnahmen zur gesetzlichen Personalbemessung in den USA

In den USA gilt seit 1987 ein landesweiter Standard für die Personalbemessung in Pflegeheimen, die von den öffentlichen Versicherungsprogrammen Medicaid und Medicare zertifiziert sind. Dieser Minimumstandard sieht allerdings weder spezifische Relationen zwischen Pflegekräften und Pflegebedürftigen noch eine bestimmte Mindestanzahl von Pflegestunden pro Pflegebedürftigen vor. Es ist lediglich vorgeschrieben, dass 24 Stunden am Tag und sieben Tage in der Woche eine ausgebildete Pflegekraft vor Ort sein muss. Seit der Einführung des landesweiten Mindeststandards haben insgesamt 37 Bundesstaaten weitergehende Standards etabliert. In den verbleibenden Bundesstaaten gilt der landesweite Mindeststandard (Bowblis 2011; Chen und Grabowski 2015).
Die Regelungen in den Bundesstaaten unterscheiden sich erheblich im Hinblick darauf, wie viele Stunden direkte Pflegeleistungen pro Tag pro Pflegebedürftigen erbracht werden müssen. Die Bandbereite reicht von 1,78 Stunden in Montana bis hin zu 3,7 Stunden in Maine (Bowblis 2011; Harrington et al. 2012).3 Selbst die obere Bandbreite der Mindeststandards in den Bundesstaaten liegt noch deutlich unter den Empfehlungen einer interdisziplinär zusammengesetzten Expertenkommission, die im Jahr 1999 im so genannten Hartford-Report auf der Grundlage der seinerzeit vorliegenden Evidenz eine Untergrenze von 4,55 Stunden direkter Pflege pro Pflegebedürftigem empfohlen hat. Bestandteil der Empfehlungen in dem Report war allerdings auch das dringende Votum, die finanzielle Ausstattung der Pflegeheime und die Bezahlung der Pflegekräfte zu verbessern. In einer weiteren Empfehlung auf Basis von Daten über den Zusammenhang von Personalausstattung und Pflegequalität empfahl das Center of Medicare and Medicaid Services im Jahr 2001 eine Untergrenze von 4,1 Stunden direkter Pflege pro Pflegebedürftigem – davon 1,35 Stunden durch Pflegefachkräfte (Collier und Harrington 2008). Dieses Mindestniveau wird zumindest im landesweiten Durchschnitt nicht erreicht (vgl. Tab. 14.1 und Harrington et al. 2012).
Tab. 14.1
Überblick über gesetzliche Standards zur Personalbemessung in den USA (Quelle: Eigene Berechnungen auf der Basis von Collier und Harrington 2008; Harrington et al. 2012; Lin 2014)
 
Charakter
Summea
Relationb
Fachkräftec
Fachkraftquoted
USA
Status quoe
3,9
1:2,1
1,5
39 %
Hartford-Kommission
Empfehlung
4,55
1:1,8
1,7
37 %
CMS
Empfehlung
4,1
1:2,0
1,35
33 %
a Gesamtstunden direkter Pflege pro Pflegebedürftigem pro Tag in einer Einrichtung mit 100 Pflegebedürftigen
b Umrechnung in Relation Pflegekraft pro Pflegebedürftigem auf der Basis eines Acht-Stunden-Arbeitstages
c Gesamtstunden direkter Pflege pro Tag durch RNs und LPNs
d Anteil Gesamtstunden direkter Pflege durch RNs und LPNs
e Tatsächliche Ausstattung der Einrichtungen im Jahr 2010
Pflege-Report 2018

14.2.2 Gesetzliche Personalbemessung und Pflegequalität in den USA

Der Einfluss der oben beschriebenen gesetzlichen Standards zur Personalbemessung ist in den USA umfangreich untersucht worden. Die identifizierten Studien unterscheiden sich vor allem danach, welche Bundesstaaten jeweils eingeschlossen wurden. Am umfassendsten ist natürlich der Ansatz, sämtliche Bundesstaaten mit gesetzlich vorgeschriebenen Mindeststandards zu untersuchen (Bowblis 2011; Park und Stearns 2009).
Danach führen Mindeststandards wie erwartet zu Neueinstellungen in Pflegeeinrichtungen. Die Anzahl von direkten Pflegestunden pro Pflegebedürftigem steigt signifikant. Eingestellt werden vor allem Pflegehilfskräfte (certified nursing assistants (CNAs)), während der Anstieg von Fachkräften (registered nurses (RNs) und licensed practice nurses (LPNs)) deutlich geringer ist – die Fachkraftquote sinkt. Diese Verschlechterung des Skills-Mixes tritt jedoch nicht in solchen Pflegeeinrichtungen auf, die in überdurchschnittlichem Ausmaß vom öffentlichen Versicherungsprogramm Medicaid abhängig sind (Bowblis 2011).
Der Effekt von Mindeststandards in der Personalbemessung auf die Pflegequalität ist insgesamt als ambivalent zu beurteilen. Einerseits sind höhere Mindeststandards mit geringeren Inzidenzen von Druckgeschwüren und Hautausschlägen assoziiert. Ein umgekehrter Effekt ist für das Auftreten von Inkontinenz und Gewichtsveränderungen nachzuweisen (Bowblis 2011). Durchgängig sind jedoch höhere Mindeststandards mit einer geringeren Anzahl von Mängelrügen assoziiert (Park und Stearns 2009).4
Auch zeigt sich, dass Einrichtungen mit einer größeren Abhängigkeit von Medicaid besser abschneiden als Einrichtungen, in denen vor allem Selbstzahler leben. Die Erklärung für diesen Effekt dürfte darin liegen, dass Medicaid zusätzliche Finanzmittel für zusätzliches Personal zur Verfügung stellt – höhere Marktpreise zur Finanzierung von zusätzlichem Personal jedoch nicht realisierbar sind (Bowblis 2011).
Eine vergleichsweise aktuelle Studie hat sich auf die Effekte gesetzlicher Mindeststandards in den Bundesstaaten Arkansas, Delaware, Florida, Iowa, Maine, Mississippi, Ohio und Kalifornien beschränkt. Positive Effekte auf die Pflegequalität (Anzahl von Mängelrügen, Anteil von Pflegebedürftigen von Druckgeschwüren und Kontrakturen) lassen sich nur dann messen, wenn die gesetzliche Personalbemessung auch zur Neueinstellung von registered nurses – also den Pflegekräften mit dem höchsten Qualifikationsniveau – führt. Die Neueinstellung von Pflegekräften mit niedrigerem Qualifikationsniveau führte erwartungsgemäß zu keiner Verbesserung der Pflegequalität (Lin 2014). Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine Studie in den Bundesstaaten Ohio, Kansas, Maine, Mississippi und South Dakota. Danach führt nur die Neueinstellung von registered nurses zu einem Rückgang von Druckgeschwüren und Harnwegsinfekten (Konetzka et al. 2008). Umgekehrt ist ein niedriger Anteil von Fachkräften mit einer höheren Anzahl von Mängelrügen, vermeidbaren Krankenhauseinweisungen, einer vermehrten Verordnung von Antidepressiva und einem Anstieg von Fixierungen assoziiert (Collier und Harrington 2008).
Der Effekt der Einführung von Standards zur Personalbemessung in Ohio und Kalifornien ist durchaus zwiespältig. Einerseits ist die Anzahl der Pflegestunden pro Pflegebedürftigem wie vom Gesetzgeber gefordert signifikant und nachhaltig angestiegen. Dies gilt besonders für Einrichtungen, die vor Verschärfung der Personalstandards besonders weit von den neuen Mindeststandards entfernt waren. Gleichzeitig geht dieser Anstieg andererseits auch hier vor allem auf die zusätzliche Einstellung von geringer qualifizierten LPNs und CNAs zurück. Das bedeutet, dass vor allem Beschäftigte mit einem geringeren Qualifikationsniveau und mit niedrigeren Lohnkosten eingestellt wurden. Der Skills-Mix in den Einrichtungen hat sich demnach auch hier verschlechtert. Vor diesem Hintergrund ist es dann auch wenig überraschend, dass nur ein geringer Effekt der Mindeststandards im Hinblick auf harte Qualitätsindikatoren gemessen werden konnte. Zwar ist der Anteil der Pflegebedürftigen mit Muskelkontrakturen nach der Einführung der Mindeststandards genauso zurückgegangen wie die Anzahl der Mängelrügen – ein signifikanter Einfluss auf andere harte Indikatoren für Pflegequalität (Anteil der Pflegebedürftigen mit Druckgeschwüren, antipsychotischer Medikation, Kathetern und Fixierungen) konnte nicht gemessen werden (Chen und Grabowski 2015).
Lediglich in Florida führte auch die Neueinstellung von CNAs zu einer Verbesserung der Pflegequalität in Form von weniger Mängelrügen (Hyer et al. 2011). Dieser Sondereffekt wird damit begründet, dass die Umsetzung der Standards zur Personalbemessung von einer umfassenden politischen Strategie zur Verbesserung der Qualität in Pflegeheimen begleitet wurde. Mit anderen Worten hängt die Wirksamkeit der Einführung von gesetzlichen Standards zur Personalbemessung auch davon ab, ob diese Standards wirkungsvoll überprüft und hinreichend finanziert werden (Bowblis 2011; Hyer et al. 2009).
Eine weitere wichtige Erkenntnis trägt eine Studie zum Zusammenhang zwischen gesetzlichen Vorgaben zur Personalbemessung, Skills-Mix und Pflegequalität aus dem Bundesstaat Kalifornien bei. Danach führt ein höherer Anteil von Fachkräften nur dann zu positiven Auswirkungen auf die Pflegequalität, wenn das Beschäftigungsniveau innerhalb der Pflegeeinrichtung insgesamt – auch unter Berücksichtigung von Pflegehilfskräften – hoch ist. Wenn das Beschäftigungsniveau insgesamt niedrig ist und bleibt – hier operationalisiert als unter dem gesetzlichen Mindeststandard liegend –, dann führt auch die vereinzelte Neueinstellung von Fachkräften (in diesem Fall von RNs) nicht zu positiven Effekten auf die gemessene Pflegequalität. Dieser Effekt lässt sich dadurch erklären, dass Fachkräfte zwar eine entscheidende Rolle für die Qualitätssicherung in einer Pflegeeinrichtung spielen – in den USA durch die herausgehobene Bedeutung von RNs noch mehr als in Deutschland –, diese aber dazu auf einen hinreichenden Personalbestand zur Erfüllung der täglichen Aufgaben angewiesen sind. Insbesondere schwerwiegende Mängel lassen sich demnach trotz hoher Fachkraftquote bei einem nicht adäquaten Personalbestand nicht hinreichend vermeiden (Kim et al. 2009).

14.2.3 Übertragbarkeit und Schlussfolgerungen

Aus Sicht der Autoren lassen sich aus den oben dargestellten Erkenntnissen trotz aller Unterschiede zwischen den USA und Deutschland – vor allem hinsichtlich der Qualifizierung von Pflegekräften5 – die folgenden drei zentralen Schlussfolgerungen ableiten:
Erstens führen gesetzliche Vorgaben für Mindeststandards bei der Personalbemessung grundsätzlich zu einer verbesserten Personalausstattung in Pflegeheimen. Die gilt vor allem in denjenigen Einrichtungen, die vor Einführung der Mindeststandards besonders weit von den extern gesetzten Werten entfernt waren.
Zweitens entstehen positive Effekte auf die Pflegequalität vor allem durch die Neueinstellung von Pflegefachkräften. Die Einrichtungen in den USA investieren zur Erfüllung der Mindeststandards jedoch vor allem in die Neueinstellung von Pflegehilfskräften. Dies gilt zumindest dann, wenn der Gesetzgeber die Fachkraftquote auf dem niedrigen US-amerikanischen Niveau ansetzt und keine hinreichenden zusätzlichen Mittel zur Finanzierung von Fachkräften zur Verfügung stellt. Eine fachlich hochwertige Versorgung setzt daher die Vorgabe einer ambitionierten Fachkraftquote und eine hinreichende Finanzierung der Einrichtungen voraus. Im Rahmen des deutschen Finanzierungssystems würde dies bedeuten, dass sowohl die Versicherungsträger als auch die Träger der Sozialhilfe und die Pflegebedürftigen selbst zusätzliche finanzielle Belastungen zur Finanzierung einer adäquaten Personalausstattung in den Einrichtungen tragen müssten.
Drittens ist die Entwicklung der Mindeststandards zur Personalbemessung in den USA aus deutscher Sicht insofern vorbildhaft, als dass zumindest die Empfehlungen auf der vorliegenden Evidenz und auf der Basis umfangreichen Datenmaterials zum Zusammenhang von Personalausstattung und Pflegequalität beruhen. Die Mindeststandards in den einzelnen Bundesstaaten liegen allerdings teilweise deutlich unter diesen Empfehlungen – was durch politische und finanzielle Restriktionen erklärbar sein dürfte – und haben daher für die Entwicklung von vergleichbaren Mindeststandards in Deutschland nur eine eingeschränkte Vorbildfunktion.

14.3 Anforderungen an gesetzliche Personalbemessung in der stationären Langzeitpflege

Der Bundesgesetzgeber hat mit dem neuen § 113c SGB XI erstmals die Entwicklung und Erprobung eines wissenschaftlich fundierten Verfahrens zur einheitlichen Bemessung des Personalbedarfs in Pflegeeinrichtungen normiert. Dies soll bis spätestens zum 30. Juni 2020 erfolgen. Im Laufe des Gesetzgebungsprozesses sind die Regelungen zum Verfahren aber auch im Hinblick auf die Anforderungen an eine einheitliche Personalbemessung deutlich ausführlicher und konkreter gefasst worden (Deutscher Bundestag 2015). Danach soll gemäß § 113c Abs. 1 SGB XI ein strukturiertes, empirisch abgesichertes und valides Verfahren auf der Basis des durchschnittlichen Versorgungsaufwands für direkte und indirekte pflegerische Maßnahmen unter Berücksichtigung der fachlichen Ziele des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs entwickelt werden. Ziel ist die Ermittlung einheitlicher Maßstäbe, die insbesondere Qualifikationsanforderungen, quantitative Bedarfe und die fachliche Angemessenheit der Maßnahmen berücksichtigen.
Die Formulierungen des Gesetzes decken sich weitgehend mit dem wissenschaftlichen Verständnis, wonach Personalbemessungssysteme auf einem fachlichen Verständnis aufbauen müssen, das dem aktuellen Stand des Wissens entspricht. Zudem sollten Berechnungsverfahren und Bezugsgrößen einbezogen werden, die so weit wie möglich wissenschaftlich abgesichert sind. Die Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs stellt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rahmenbedingung für die Entwicklung eines umfassenden Instruments zur Abbildung des Personalbedarfs und damit zur Personalbemessung dar, weil mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff ein deutlich umfassenderer Leistungsbedarf abgebildet werden kann. Letztlich muss ein Personalbemessungssystem praktikabel und transparent sein – sowohl für die Aufsichtsbehörden als auch für die Vertragspartner (Wingenfeld 2010, S. 17).
Alleine die »Etablierung und Erprobung eines wissenschaftlich fundierten Verfahrens zur einheitlichen Bemessung des Personalbedarfs in Pflegeeinrichtungen« gemäß § 113c SGB XI wird jedoch weder die Personalausstattung in den Einrichtungen verbessern noch positive Effekte auf die Pflegequalität nach sich ziehen. Weitere entscheidende Faktoren für die Effektivität von Personalbemessungssystemen sind aus Sicht der Autoren vor allem die Durchsetzungsfähigkeit bzw. Sanktionierbarkeit von Personalbemessungssystemen, deren Finanzierbarkeit und die Einheitlichkeit der Umsetzung in den Bundesländern.
Erstens müssten daher die zuständigen Behörden in den Bundesländern dazu verpflichtet werden, die Einhaltung des postulierten Personalbedarfs regelmäßig und regelhaft zu überprüfen und ggf. auch zu sanktionieren. Mögliche Sanktionen könnten – ähnlich wie in den USA – spürbare Geldstrafen bis hin zum Entzug der Zulassung sein. Außerdem sollten die Landesbehörden dazu verpflichtet werden, die Personalausstattung in den Einrichtungen als Qualitätsindikator zu veröffentlichen.
Die Erfahrungen aus den USA zeigen zweitens, dass die Verschärfung der gesetzlichen Standards und deren Überprüfung bzw. Sanktionierung allein nicht zu den gewünschten Auswirkungen auf Personalausstattung und Pflegequalität führen. Dort sehen sich die Einrichtungen offensichtlich nicht in der Lage, die zusätzlichen Kosten durch steigende Preise – insbesondere für die Selbstzahler – zu refinanzieren. Diese Situation lässt sich durchaus mit der Situation in Deutschland vergleichen. Verschärfte Standards in der Personalbemessung müssen daher hinreichend Berücksichtigung in den Pflegesatzverhandlungen zwischen Einrichtungen und Kostenträgern finden. Andernfalls werden insbesondere Einrichtungen mit starker regionaler Konkurrenz und mit angespannter finanzieller Situation nicht in der Lage sein, die geforderten zusätzlichen Stellen zu schaffen oder vor allem in preiswerte Hilfskräfte investieren.
Eine hinreichende Finanzierung verschärfter Personalstandards würde mittel- bis langfristig zu finanziellen Belastungen für alle Finanzierungsträger führen. Im gegenwärtigen Finanzierungssystem wären dies vor allem die Träger der Pflegeversicherung (gesetzlich und privat), die Träger der Sozialhilfe und letztlich auch die Pflegebedürftigen selbst. Die Höhe der mittel- bis langfristigen finanziellen Belastungen für die Finanzierungsträger wird davon abhängen, welche Standards bei der Personalbemessung etabliert werden und in welcher Geschwindigkeit die notwendigen Stellen besetzt werden können. In diesem Zusammenhang ist außerdem auf die ernstzunehmende Gefahr zu verweisen, dass wissenschaftlich abgeleitete Standards zur Personalbemessung aus Finanzierungsgründen nur in abgeschwächter Form Eingang in landesrechtliche Regulierungen finden werden.
Auch vor diesem Hintergrund ist daher aus Sicht der Autoren die Einheitlichkeit der Umsetzung eine wichtige Voraussetzung für die Festlegung von Mindeststandards zur Personalbemessung. Sowohl in Deutschland als auch in den USA führt die Zuständigkeit der Bundesländer für die Personalstandards zu einem »Flickenteppich« unterschiedlicher Regelungen. Es ist jedoch nicht ersichtlich, aus welchen inhaltlichen Gründen sich Vorgaben zur Personalbemessung in einzelnen Bundesländern bzw. Bundesstaaten unterscheiden sollten. Es ist vielmehr anzunehmen, dass die dargestellten Unterschiede politische bzw. vor allem finanzielle Gründe haben. Diese Unterschiede sind nicht mehr zu rechtfertigen, wenn ein empirisch abgeleiteter Personalstandard verfügbar ist.

14.4 Fazit

Die Evidenz aus den USA zu den Auswirkungen gesetzlicher Personalbemessung in der Langzeitpflege zeigt, dass positive Effekte auf die Pflegequalität vor allem durch die Neueinstellung von Pflegefachkräften entstehen. Es besteht jedoch die Gefahr, dass Einrichtungen zur Erfüllung der Mindeststandards vor allem in die Neueinstellung von Pflegehilfskräften investieren. Eine fachlich hochwertige Versorgung setzt daher die Vorgabe einer ambitionierten Fachkraftquote und eine hinreichende Finanzierung der Einrichtungen voraus. Im Rahmen des deutschen Finanzierungssystems würde dies bedeuten, dass sowohl die Versicherungsträger als auch die Träger der Sozialhilfe und die Pflegebedürftigen selbst zusätzliche finanzielle Belastungen zur Finanzierung einer adäquaten Personalausstattung in den Einrichtungen tragen müssten.
Die Entwicklung der Mindeststandards zur Personalbemessung in den USA ist aus deutscher Sicht insofern vorbildhaft, als dass zumindest die Empfehlungen auf der vorliegenden Evidenz und auf der Basis umfangreichen Datenmaterials zum Zusammenhang von Personalausstattung und Pflegequalität beruhen. Die Mindeststandards in den einzelnen Bundesstaaten liegen teilweise deutlich unter diesen Empfehlungen – was durch politische und finanzielle Restriktionen erklärbar sein dürfte – und haben daher für die Entwicklung von vergleichbaren Mindeststandards in Deutschland nur eine eingeschränkte Vorbildfunktion.
Grundsätzlich ist zu begrüßen, dass mit dem PSG II der Gesetzgeber erstmals die Entwicklung und Erprobung eines wissenschaftlich fundierten Verfahrens zur einheitlichen Bemessung des Personalbedarfs in Pflegeeinrichtungen normiert. Die derzeitigen Reglungen sind in diesem Zusammenhang völlig ungenügend. Allein die Entwicklung eines wissenschaftlich validierten Verfahrens zur Personalbemessung wird jedoch weder die Personalausstattung in den Einrichtungen erhöhen noch die Pflegequalität verbessern. Dazu müssten erstens die zuständigen Behörden in den Bundesländern dazu verpflichtet werden, die Einhaltung des postulierten Personalbedarfs zu überprüfen und ggf. auch zu sanktionieren. Zweitens müssten verschärfte Standards in der Personalbemessung daher hinreichend Berücksichtigung in den Pflegesatzverhandlungen zwischen Einrichtungen und Kostenträgern finden. Drittens ist die Einheitlichkeit der Umsetzung in den Bundesländern eine wichtige Voraussetzung für die Festlegung von Mindeststandards zur Personalbemessung, um den bestehenden, sachlich nicht zu rechtfertigenden »Flickenteppich« von landesgesetzlichen Reglungen auch in der Zukunft zu verhindern.
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Fußnoten
1
Dieser Beitrag beruht auf einem ausführlicheren Gutachten, das die Autoren im Auftrag der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) im Jahr 2016 veröffentlicht haben (Greß und Stegmüller 2016).
 
2
Die Vorgaben zur gesetzlichen Personalbemessung beruhen auf umfangreichem Studienmaterial zum Zusammenhang von Personalbesetzung und Pflegequalität (vgl. hierzu insbesondere die Reviews von Bostick et al. 2006; Collier und Harrington 2008; Spilsbury et al. 2011).
 
3
Die entsprechenden Werte sind für Einrichtungen mit 100 Pflegebedürftigen standardisiert und basieren auf formalen Arbeitszeiten ohne Berücksichtigung von Ausfallszeiten wie Urlaub oder Krankheit.
 
4
Bei den jährlichen Inspektionen der Pflegeeinrichtungen werden insgesamt 180 mögliche Mängel geprüft. Die Inspektion führt zu einer Einstufung der jeweiligen Einrichtung von der Stufe A (isolierte Mängel, keine Gefährdung der Pflegebedürftigen: 0 Punkte) bis hin zur Stufe L (aktuelle Gefährdung der Pflegebedürftigen in großem Maßstab: 150 Punkte).
 
5
Zu berücksichtigen ist einerseits, dass das Qualifikationsniveau der RNs deutlich oberhalb der fachschulisch ausgebildeten Pflegekräfte in Deutschland liegt. Andererseits verfügen die LPNs, die in den USA zu den Fachkräften gezählt werden, über ein deutlich geringeres Ausbildungsniveau als die Fachkräfte in Deutschland.
 
Literatur
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Metadaten
Titel
Personalausstattung, Personalbemessung und Qualität in der stationären Langzeitpflege
verfasst von
Prof. Dr. Stefan Greß
Prof. Dr. Klaus Stegmüller
Copyright-Jahr
2018
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56822-4_14