Insgesamt arbeiten täglich mehrere Tausend Menschen im Offshore-Bereich. Die Arbeit findet regelhaft unter beengten Bedingungen, in Höhen und Tiefen statt, woraus ein erhöhtes Gefahrenpotenzial mit spezifischen Verletzungen resultiert. Weiterhin müssen die Arbeiter in ihren mehrwöchigen Einsätzen allgemeinmedizinisch versorgt werden. Nach erfolgter Digitalisierung der medizinischen Einsatzdokumentation sollen nun die ersten Jahre ausgewertet und vor allem Art und Inzidenz der Notfälle analysiert werden.
Methode
4356 Datensätze aus dem Zeitraum Juni 2017 bis Dezember 2020 wurden im Rahmen der Versorgung und Einsatzdokumentation durch das eingesetzte Rettungsfachpersonal mittels digitalem Protokoll erfasst und nun anonymisiert retrospektiv ausgewertet.
Ergebnisse
Bei den definierten Diagnosegruppen waren am häufigsten die Infektionen (13,2 %) und Atemwegserkrankungen (8,4 %) sowie bei den Unfällen die Traumata der oberen (8,4 %) und unteren (4,6 %) Extremität. Entsprechend zählten 21,2 % der Einsätze zu den traumatologischen Notfällen, 71,1 % zu internistischen und 4,0 % zu sonstigen Erkrankungen. Die meisten Fälle wurden als geringfügige (61,2 %) oder ambulant behandelbare Störungen (23,4 %) eingestuft. Der nur bei vollständigen Datensätzen (n = 884) zu errechnende Schweregrad (Mainz Emergency Evaluation Score) lag im Mittel bei 24,1 ± 2,2 von 28 Punkten. Nur 1,9 % der Patienten wurden per Offshore-Rettungshubschrauber an Land verlegt, 4,0 % konnten mittels „crew transfer vessel“ transportiert werden.
Schlussfolgerung
Bei den meisten medizinischen Notfällen handelte es sich um minderschwere Ereignisse aus dem internistischen Spektrum mit geringfügiger Störung und ambulanter Behandlung. Bei den traumatologischen Notfällen sind Verletzungen an den Extremitäten führend. War eine Landverlegung erforderlich, geschah diese meist mittels „crew transfer vessel“ und nur zu einem Viertel der Fälle via Offshore-Rettungshubschrauber. Auch hier überwogen internistische Erkrankungen als Transportindikation.
Hinweise
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Abkürzungen
ACLS
Advanced Cardiac Life Support
AF
Atemfrequenz
AWZ
Ausschließliche Wirtschaftszone
DGUV
Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung
FISAT
Fach- und Interessenverband für Seilunterstützte Arbeitstechniken
GCS
Glasgow Coma Scale
HEMS-TC
Helicopter emergency medical services technical crew
HF
Herzfrequenz
HUET
Helicopter underwater escape training
ITLS
International Trauma Life Support
MEES
Mainz Emergency Evaluation Score
MIND
Minimaler Notfalldatensatz
NACA
National Advisory Committee for Aeronautics
NRS
Numerische Rating-Skala
OWP
Offshore-Windpark
SOP
Standard Operating Procedure
WEA
Windenergieanlagen
Einleitung
Zum Jahresende 2020 waren 1501 Offshore-Windenergieanlagen (WEA) mit einer Leistung von 7770 Megawatt in Betrieb, womit Deutschland auf Platz 2 hinter Großbritannien lag [1]. Die Anlagen liegen durchschnittlich 89 km (bis 150 km) von der Küste entfernt [1, 2], also außerhalb der 12-Seemeilen-Zonen in der sogenannten ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ), und unterliegen größtenteils der Verantwortung des Bundes. Eine Daseinsvorsorge mit vergleichbaren Strukturen wie an Land existiert nicht und gehört nicht zur originären Aufgabe des maritimen Such- und Rettungsdiensts (SAR). Eine gesetzliche Regelung zum Rettungsdienst, wie in den föderalen Bundesländern, existiert nicht.
Das deutsche Arbeitsschutzgesetz ist jedoch wirksam und die Betreiber sind verpflichtet, ein entsprechendes Betriebssicherheitskonzept festzulegen, um den Gesundheitsschutz der Mitarbeiter in jeder Projektphase zu gewährleisten. Hier müssen die Erste Hilfe und ein projektspezifisches Rettungskonzept organisiert werden [3, 4], wobei aufgrund der Weitläufigkeit der Windparks regelmäßig der Offshore-Rettungshubschrauber als Transportmittel vorgesehen wird.
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Insgesamt arbeiten täglich mehrere Tausend Menschen im Offshore-Bereich mit Zuständigkeit deutscher Aufsichtsbehörden. Die Arbeit findet – sowohl auf Strukturen wie Konverter- und Wohnplattformen oder Windenergieanlagen als auch auf Schiffen unterschiedlicher Bauart – regelhaft unter beengten Bedingungen und in Höhen und Tiefen statt, was ein erhöhtes Gefahrenpotenzial mit spezifischen Verletzungen mit sich bringt. Weiterhin können Notfälle auch durch psychosoziale Probleme bei längeren Arbeitsaufenthalten (in der Regel 14 Tage) getriggert werden [2]. Die Mitarbeiteranzahl auf den Plattformen unterliegt dabei je nach Betriebsphase starken Schwankungen, was eine genaue Angabe der täglich eingesetzten Offshore-Arbeiter schwierig macht.
Eine kurzfristige medizinische Versorgung des eingesetzten Personals an Land kann aufgrund der großen Distanzen und Wetterabhängigkeit deutlich erschwert sein. Die medizinische Qualifikation des auf Offshore-Windparks (OWP) eingesetzten Rettungsfachpersonals ist dem angepasst sehr hoch (Abb. 1). Neben der Ausbildung zum Notfallsanitäter und einer langjährigen Berufserfahrung auf notarztangebundenen Einsatzmitteln sind unter anderem Kurse zum ACLS- (Advance Cardiac Life Support) und ITLS-Provider (International Trauma Life Support) (oder vergleichbar) erforderlich. Weiterhin müssen regelmäßige Schulungen wie „helicopter underwater escape training“ (HUET), Überleben See und Kurse in Seilzugangs- und Positionierungstechniken (z. B. gemäß Fach- und Interessenverband für Seilunterstützte Arbeitstechniken [FISAT®]) absolviert werden. Für die Versorgung der Arbeiter hat die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) 2016 erstmals eine Fachinformation als Empfehlung herausgegeben [3].
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Durch den Einsatz von Notfallsanitätern soll vor allem das therapiefreie Intervall bei lebensbedrohlichen Erkrankungen und Verletzungen verkürzt werden. Dazu erfolgt die Versorgung nach geschulten und freigegebenen Algorithmen und Standard Operating Procedure (SOP). Angepasst an die Einsatzrealität sind in diesen Algorithmen nicht nur „klassische“ notfallmedizinische Krankheitsbilder und medizinische Prozeduren enthalten, sondern auch Behandlungspfade für eher der medizinischen Grundversorgung zuzuordnende Bereiche. Zusätzlich ist obligat eine Anbindung an ein Telemedizinzentrum und somit eine ärztliche Mitbeurteilung und Delegation von Therapien sicherzustellen.
Erkenntnisse zu dem erwarteten Spektrum medizinischer Notfälle in diesem recht neuen Industriezweig konnten bereits aus der Aufbauphase der OWP gewonnen werden. Nach erfolgter Digitalisierung der medizinischen Einsatzdokumentation sollen nun die ersten Jahre ausgewertet und vor allem Art und Inzidenz der Notfälle analysiert werden. Auf Basis dieser Erkenntnisse können künftig Empfehlungen für die Verbesserung der Versorgungsstruktur abgegeben sowie Schulungs- und Ausstattungskonzepte optimiert werden.
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Material und Methoden
Datenerfassung
Nach Zustimmung der Medizinischen Ethikkommission der Universität Oldenburg (Az. 2021-001) wurden retrospektiv digitale Datensätze aus der Einsatzdokumentation der Rettungsfachkräfte vor Ort ausgewertet. Diese wurden von Juni 2017 bis Dezember 2020 für alle Behandlungen im digitalen Protokoll (NaProt®, pulsation-IT GmbH, Berlin) erfasst und anonymisiert als Tabelle gespeichert.
Die ausgewerteten Parameter ergaben sich aus dem verwendeten Einsatzprotokoll, welches sich an den Empfehlungen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensivmedizin zu den Minimalen Notfalldaten (MIND) orientiert [5].
Neben einsatztaktischen Daten und Angaben zum Patienten wurden initialer Blutdruck (mm Hg), Herzfrequenz (1/min), Blutzucker (mg/dl), Sauerstoffsättigung (%), Atemfrequenz (1/min) und die Glasgow Coma Scale (GCS, 3–15 Punkte) dokumentiert.
Weiterhin wurde die Erkrankungs- und Verletzungsschwere automatisch als Mainz Emergency Evaluation Score (MEES, 7–28 Punkte) errechnet und zusätzlich gemäß National Advisory Committee for Aeronautics (NACA, I–VII) erfasst.
Der MEES betrachtet insgesamt sieben Vitalparameter und soll vor allem Zustandsveränderungen zwischen zwei erfassten Zeiträumen darstellen. Wird einem einzelnen Item nur ein Punkt zugeordnet, wird das gesamte Ergebnis als Lebensgefahr bewertet und nicht mehr errechnet [6]. Die erneute Dokumentation dieser Werte im Verlauf war für die rettungsdienstlichen Mitarbeiter nicht verpflichtend und ist vor allem bei Bagatellverletzungen/-erkrankungen nicht erfolgt, sodass die übliche Angabe eines ΔMEES fehlt.
Der NACA-Score erfasst die Verletzungs- oder Erkrankungsschwere von NACA I geringfügige Störung bis hin zu NACA VII tödliche Verletzung oder Erkrankung [7].
Für die bessere Vergleichbarkeit wurden die Notfälle folgenden Kategorien zugeordnet: internistischer Notfall (Infektionen, Atemwegs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Stoffwechsel-, abdominelle und sonstige Erkrankung), traumatologischer Notfall, sonstiger Notfall (ZNS-Erkrankungen, psychiatrische Erkrankungen, gynäkologische/geburtshilfliche Notfälle).
Statistik
Die statistische Analyse erfolgte mittels Excel (Excel for Mac 16.47, Microsoft Corp., Redmond, WA, USA).
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Die Daten wurden mittels Kolmogorow-Smirnow-Tests auf Normalverteilung geprüft und entsprechend mit dem t-Test (normalverteilt) oder dem Wilcoxon-Test (nicht normalverteilt) ausgewertet. Statistische Signifikanz wurde bei p < 0,05 angenommen. Sofern nicht anders angegeben, werden die Ergebnisse als Mittelwert (±Standardabweichung) bzw. als Prozentangaben angegeben. Weiterhin wurde der Chi-Quadrat-Test zur Überprüfung der Homogenität zweier Gruppen angewandt.
Ergebnisse
Für die Betrachtung von Art und Inzidenz der medizinischen Notfälle auf Offshore-Anlagen und Schiffen wurden die Daten von insgesamt 4356 Einsatzprotokollen (Gesamtdaten) ausgewertet.
Die versorgten Patienten waren zu 96,5 % Männer und 3,5 % Frauen mit einem Durchschnittsalter von 37,7 (±8,6) Jahren, wobei der jüngste Patient 17 und der älteste 69 Jahre alt war.
Für die Diagnose standen 22 Diagnosegruppen zur Auswahl (vgl. Abb. 2). Bei den definierten Gruppen waren am häufigsten die Infektionen (13,2 %) und Atemwegserkrankungen (8,4 %) sowie bei den Unfällen die Traumata der oberen (8,4 %) und unteren (4,6 %) Extremität. Abb. 2 zeigt die Verteilung der Diagnosegruppen.
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Entsprechend der definierten Kategorien zählten 21,2 % der Einsätze zu den traumatologischen Notfällen, 71,1 % zu internistischen und 4,0 % zu sonstigen Erkrankungen. Bei 3,7 % der Patienten wurde keine Diagnosegruppe angegeben. Die meisten Fälle wurden als geringfügige (NACA I) 61,2 % oder ambulant behandelbare Störung (NACA II) 23,4 % eingestuft. Der Rest verteilte sich auf die Kategorien „zur stationären Versorgung“ (NACA III) 2,9 %, „akute Lebensgefahr nicht auszuschließen“ (NACA IV) 0,5 % und „akute Lebensgefahr“ (NACA V) 0,1 %. Im gesamten Zeitraum gab es keinen Fall mit NACA VI, definiert als Reanimation. Leider wurden bei 11,9 % der Patienten keine Angaben zum NACA-Score gemacht. Bei der via Offshore-Rettungshubschrauber transportierten Gruppe von Patienten wurde in der Hälfte der Fälle NACA III dokumentiert (NACA II 19,3 %, NACA III 51,8 %, NACA IV 20,5 %, siehe Tab. 1).
Tab. 1
Unterschiede in der Verteilung der NACA-Punkte zwischen dem Gesamtdatensatz und der Stichprobe
NACA
Gesamt
Prozent
Stichprobe
Prozent
Hubschrauber
Prozent
I
2668
61,2
439
49,7
1
1,2
II
1018
23,4
302
34,2
16
19,3
III
125
2,9
57
6,5
43
51,8
IV
23
0,5
17
1,9
17
20,5
V
3
0,1
3
0,3
2
2,4
VI
0
0,0
0
0,0
0
0,0
Keine Angabe
519
11,9
65
7,4
4
4,8
n
4356
–
883
–
83
–
Initiale Vitalparameter
Für die Darstellung der initialen Vitalparameter wurden 3472 unvollständige Datensätze (vor allem fehlender Herzrhythmus und Angabe über Schmerzen) ausgeschlossen und letztlich 884 vollständige Datensätze (Stichprobe) betrachtet. Die Gesamtdaten und die Stichprobe wurden mittels Chi-Quadrat-Test auf Homogenität der Verteilung der einzelnen Diagnosegruppen überprüft. Hier zeigte sich eine Ungleichheit, welche wie aus Abb. 2 ersichtlich vor allem auf Unterschiede der Häufigkeit von „Trauma obere Extremität“, „abdominelle Erkrankung“ und „Herz-Kreislauf-Erkrankung“ beruht. Letztlich wurde jedoch auch in 40,2 % der Fälle „sonstige Erkrankung“ gewählt und bei 3,2 % wurden keine Angaben zur Diagnosegruppe dokumentiert.
Bei den vollständig dokumentierten Datensätzen verschob sich erwartungsgemäß die Verteilung der NACA-Punkte hin zu schweren Fällen (Tab. 1). Der nur bei vollständigen Datensätzen zu errechnende Schweregrad (MEES) lag in dieser Stichprobe bei 24,1 ± 2,2 von 28 erreichbaren Punkten im Score. In der per Offshore-Rettungshubschrauber verlegten Patientengruppe lag der Wert nichtsignifikant niedriger bei 23,7 ± 2,4 (p = 0,16).
Die mittlere Herzfrequenz (HF) betrug 77,5 ± 12,5/min bei einem systolischen Blutdruck von 129,3 ± 14,9 mm Hg. Die Schmerzen wurden im Mittel mit 2,0 ± 2,4 von 10 Punkten angegeben (NRS, Numerische Rating-Skala). Die periphere Sauerstoffsättigung (SpO2) lag bei 98,1 ± 1,1 % bei Atemfrequenzen (AF) von 13,9 ± 2,4/min.
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Abb. 3 zeigt die Unterschiede der Vitalparameter zwischen den per Offshore-Rettungshubschrauber an Land verlegten und den restlichen Patienten der Stichprobe. Vor allem Herzfrequenz, Atemfrequenz, Blutdruck und Schmerzintensität unterschieden sich signifikant (s. unten).
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Evakuierung
Insgesamt wurden 90,0 % der Patienten ambulant vor Ort behandelt. Nur 1,9 % der Patienten mussten per Offshore-Rettungshubschrauber an Land verlegt werden, 4,0 % konnten mittels „crew transfer vessel“ (CTV) transportiert werden und 1,0 % wurden an ein anderes Rettungsmittel übergeben. Zu den restlichen 3,1 % der Einsätze wurden keine Angaben gemacht oder „Sonstige“ ausgewählt. Wertet man die 317 Verlegungen aus, erfolgten diese vorwiegend via CTV (55,5 %), das heißt, die Arbeit wurde eingestellt und die reguläre Rückfahrt angetreten. Ein vorzeitiger „crew change“ war nur in fünf Fällen erforderlich. Rund ein Viertel der Landverlegungen erfolgte via Offshore-Rettungshubschrauber (26,2 %).
Betrachtet man auch hier die oben genannte Stichprobe (n = 884), unterscheidet sich diese signifikant (p < 0,05), was vor allem an der höheren Dokumentationsdichte bei Offshore-Rettungshubschrauber-Einsätzen liegt, mit 6,2 % gegenüber 1,9 % im Gesamtdatensatz.
So lag die mittlere Herzfrequenz bei Offshore-Rettungshubschrauber-Einsätzen bei 87,3 ± 20,2/min vs. 76,8 ± 11,6/min, die Atemfrequenz bei 15,5 ± 4,3/min vs. 13,8 ± 2,2/min, der systolische Blutdruck bei 138,9 ± 25,1 mm Hg vs. 128,6 ± 13,7 mm Hg und die Schmerzintensität (NRS) bei 4,3 ± 3 vs. 1,8 ± 2,2. Lediglich die Sauerstoffsättigung war mit 98 ± 1 % in beiden Gruppen gleich (p = 0,67) sowie der systolische Blutdruck mit 77,5 ± 31,1 mm Hg vs. 72,8 ± 24,5 mm Hg (p = 0,18).
Diskussion
4356 Datensätze aus 3,5 Jahren Einsatzbetrieb konnten ausgewertet werden und bilden Art und Inzidenz der medizinischen Ereignisse auf Windenergieanlagen offshore ab.
Von allen Behandlungen durch Notfallsanitäter entfallen 6 von 10 auf „geringfügige Störungen“ (NACA I). Inwieweit diese so klassifizierten Vorfälle außerhalb von Windenergieanlagen offshore einer fachlichen (medizinischen) Beurteilung zugeführt worden wären, kann nur spekuliert werden. Sicher kann abgleitet werden, dass in allen diesen Fällen kein relevantes Krankheitsgeschehen übersehen wurde.
Mehr als 2 von 10 Fällen wurden als „ambulante Behandlung“ (NACA II) klassifiziert. Hier kann abgeleitet werden, dass diese Behandlungen unter anderen infrastrukturellen Bedingungen regelhaft in einer medizinischen Einrichtung vorgestellt und behandelt würden. Nicht direkt abgeleitet werden kann, wie viele hiervon evakuiert worden wären, wenn eine fachliche Behandlung vor Ort nicht möglich gewesen wäre. Bei tendenziell schwereren Fällen war die Dokumentationsdichte höher und eine Stichprobe von 884 Einsätzen konnte bezüglich Vitalparameter und vitaler Gefährdung analysiert werden. Hier erklärt sich auch der Ausschluss von 3472 Protokollen mit überwiegend Bagatellen, bei denen die Angabe eines EKG-Rhythmus oder die Angabe zu Schmerzen fehlte. Es zeigt sich auch eine gewisse Schwierigkeit der Dokumentation allgemeinmedizinischer Versorgung mittels der üblichen Notarztprotokolle. Besonders deutlich erkennt man das am Beispiel der Kategorie Wirbelsäulenverletzungen, unter der im Alltag vor allem die Einordnung von Lumboischialgien erfolgt.
Erkrankungs‑/Verletzungsschwere
Der Zusammenhang von NACA-Score und Vitalgefährdung sowie zu erwartender Morbidität und Mortalität eines Unfallpatienten ist hinreichend belegt [7, 8].
In der vorliegenden Studie wurde im Gesamtdatensatz die Angabe zum NACA-Score in 11,8 % der Fälle nicht dokumentiert. Es ist jedoch in der Regel von einem niedrigen Punktwert auszugehen, da in der Stichprobe mit komplett erfassten Vitalparametern die Anzahl bei 7,4 % lag. Bei Patienten, die per Offshore-Rettungshubschrauber evakuiert wurden, war die Dokumentation noch genauer mit in 95,2 % der Fälle erfasstem NACA-Score. Zur Hälfte wurden NACA-III-Patienten transportiert, was auch dem üblichen Einsatzspektrum mit notärztlicher Begleitung an Land entspricht [9]. Hierbei ist zu erwähnen, dass der Offshore-Rettungshubschrauber (siehe Infobox 1) oft das einzige zeitnah verfügbare Transportmittel darstellt, wohingegen für einen normalen Rettungshubschrauber eine NACA-III-Kategorisierung als Fehleinsatz gewertet wird.
Erwartungsgemäß lag auch der NACA-Score in der Stichprobe höher, was den Schluss nahelegt, dass mit zunehmender Verletzungs‑/Erkrankungsschwere ausführlicher dokumentiert wurde. Die Vitalparameter wurden bei Einbindung des Offshore-Rettungshubschraubers immer erfasst, jedoch sind einige Datensätze durch die fehlende Angabe eines EKG-Rhythmus nicht Teil der Stichprobe. Auch der Mainz Emergency Evaluation Score (MEES) war entsprechend nur in der Stichprobe erfasst und mutmaßlich schlechter als im Gesamtdatensatz mit prozentual mehr minderschweren Vorfällen. Weiterhin fehlte in den meisten Einsatzberichten die erneute Dokumentation der Vitalparameter, sodass weder eine Auswertung des ΔMEES als Verlaufskontrolle noch eine Überprüfung des MEES als Prädiktor für eine Landverlegung per Offshore-Rettungshubschrauber möglich war.
Inzidenz der Notfälle
Dambach und Kollegen werteten in einer Arbeit von 2015 vor allem die ersten Aufbau- und Betriebsjahre bezüglich Art und Inzidenz medizinischer Ereignisse aus [10]. Bei 617 Datensätzen waren 46 % chirurgische und 38 % internistische Notfälle dokumentiert, wobei es sich im Wesentlichen um Prellungen, Wunden und grippale Infekte handelte. Nach eigener Aussage war die Datenqualität unter anderem von der Dokumentation durch Ersthelfer beeinflusst. Vergleicht man die einzelnen Verletzungsmuster, findet sich eine ähnliche Verteilung von 30 bis 40 % Verletzungen der oberen und 17 bis 22 % der unteren Extremität, 12 bis 17 % Rückenverletzungen und rund 3 % Schädel-Hirn-Traumen. Auch Stuhr und Kollegen konnten 2015 eine ähnliche Verteilung der Verletzungen bei der Auswertung von 319 medizinischen Vorfällen aus der Aufbauphase der Windparks zeigen [11]. In einer Arbeit von 2016 gaben die Autoren eine Übersicht über ausgewählte Studien zu medizinischen Ereignissen im Offshore-Bereich [12]. Hier findet sich ein Trend hin zu internistischen Erkrankungen im laufenden Betrieb der OWP. Erwartungsgemäß zeigt die hier vorliegende Studie eine Verteilung mit rund drei Vierteln internistischen/sonstigen Erkrankungen. Jedoch muss einschränkend erwähnt werden, dass der Übergang zwischen Aufbau‑, Sanierungs- und Betriebsphase fließend und nicht immer abgrenzbar ist. Vermutet werden kann auch, dass das Notfallgeschehen vor allem über die Anzahl der vor Ort arbeitenden Menschen beeinflusst wird.
Betrachtet man die per Offshore-Rettungshubschrauber evakuierte Patientenklientel, verschiebt sich das Bild mit 10 % Zunahme von Verletzungen (30 % vs. 21 %) und entsprechender Abnahme der internistischen Erkrankungen (61 % vs. 71 %). Eine ähnliche Verteilung fanden auch Waje-Andreassen und Kollegen in einer Arbeit von 2020, die 381 Evakuierungen von norwegischen Offshore-Öl- und Gasplattformen auswerteten [13].
Auch die zur Verlegung führende Erkrankungsart ändert sich gegenüber dem Gesamtkollektiv mit überwiegend sonstigen Erkrankungen und Atemwegserkrankungen hin zu vor allem Herz-Kreislauf-Erkrankungen (20,5 %) und abdominellen Erkrankungen (15,7 %). Insgesamt konnte gezeigt werden, dass sich Art und Inzidenz medizinischer Ereignisse von den Notfällen früherer Studien aus der reinen Aufbauphase der OWP zu unterscheiden scheinen. Vor allem internistische/allgemeinmedizinische Ereignisse sind aktuell führend und müssen entsprechend ebenfalls in Ausbildungs- und Ausstattungskonzepten adressiert werden.
In einer Auswertung von knapp 40 Evakuierungen zwischen 2011 und 2013 fanden sich noch 49 % Traumen und 41 % akute Erkrankungen [14].
Art der Notfälle
Betrachtet man die Gruppe der traumatologischen Notfälle, fällt die hohe Anzahl von Verletzungen der oberen (39,4 %) und unteren (21,8 %) Extremität auf, gefolgt von Wirbelsäulenverletzungen (11,9 %). Die DGUV trägt diesem Umstand bereits in ihrem Ausbildungskonzept für Erste Hilfe in Offshore-Windparks Rechnung. Hier sind vier Unterrichtseinheiten zu Knochen- und Gelenkverletzungen sowie bedrohlichen Blutungen vorgesehen und die Lagerung mittels Rettungsbrett sowie Immobilisation der Halswirbelsäule zur technischen Rettung soll ebenfalls geübt werden [15].
Bei den als internistisch definierten Erkrankungen waren Infektionen (18,5 %) und Atemwegserkrankungen (15,5 %) führend, jedoch lässt sich rückblickend nicht feststellen, inwieweit es hier Überschneidungen z. B. bei einfachen Erkältungen gibt. Insgesamt wurde in über der Hälfte der Fälle (56,5 %) die Kategorie „Sonstige“ gewählt. Hier kann jedoch davon ausgegangen werden, dass die erfahrenen Notfallsanitäter durch ihre Untersuchung vital gefährdete Patienten erkennen und die Zuordnung selbst keinen Einfluss auf die Indikationsstellung zum Transport oder der telemedizinischen Konsultation hatte. So machten Herz-Kreislauf-Erkrankungen insgesamt nur 1,5 % aller Einsätze bzw. 2,1 % der internistischen Notfälle aus, waren aber in 20,5 % die führende Diagnose der Landverlegungen per Offshore-Rettungshubschrauber (Abb. 4 und 5).
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Die unter sonstigen Erkrankungen subsumierten Notfälle spielen eine deutlich untergeordnete Rolle. Führend waren hier ZNS-Erkrankungen mit insgesamt 147 Fällen (3,3 %), was in der gelebten Praxis auf Zephalgien oder Migräne zurückzuführen ist.
Ein nach Zahlen unbedeutender, aber interessanter Aspekt sind die 25 psychiatrischen Fälle (0,6 %). Hier sind sicherlich auch psychosoziale Probleme zu sehen, die durch die in der Regel 14-tägigen Arbeitseinsätze und eine damit verbundene mögliche familiäre Belastung begünstigt sein könnten [16]. In einem Handbuch zur Gesundheit offshore gaben von 249 Befragten 59,1 % an, manchmal oder oft das Gefühl zu haben, in einem Konflikt zwischen Arbeit und Privatleben zu stehen [17].
Limitationen
Bisherige retrospektiv-deskriptive Auswertungen in diesem Bereich unterlagen zum Teil deutlichen methodischen Einschränkungen durch die uneinheitliche Datengewinnung [10]. Sie konnten aber erste Einblicke in das Notfallgeschehen und die erforderliche Vorbereitung liefern [11]. Die vorliegende Arbeit soll durch ihren großen Datensatz (n = 4356) als weiterer Baustein ein Bild über Art und Inzidenz medizinischer Ereignisse in OWP liefern. Da es sich auch um eine retrospektive Auswertung handelt, finden sich ebenfalls Limitationen durch uneinheitliche Dokumentationsqualität. Zur Analyse der Vitalparameter wurden unvollständige Datensätze ausgeschlossen, wobei möglicherweise eine Verzerrung der Daten entsteht, da bei schwerwiegenderen Notfällen ausführlicher dokumentiert wurde als bei minderschweren Vorfällen.
Mit einer durchgehenden und einheitlichen Dokumentation nach festem Standard – auch bei allen Einsätzen, vergleichbar zum Beispiel mit dem MIND-3-Datensatz in der Notfallrettung – ließe sich zukünftig eine präzisere Auswertung durchführen. Insgesamt muss immer von einer Verzerrung durch eine subjektive Einschätzung des Notfallgeschehens und der damit verbundenen Dokumentationsdichte ausgegangen werden.
Schlussfolgerung
Die vorliegende Arbeit beschreibt das medizinische Einsatzspektrum der Notfallsanitäter über 3,5 Jahre mit 4356 Einsätzen auf Offshore-Windenergieanlagen.
In den meisten Fällen handelt es sich um unkritische Ereignisse aus dem internistischen Spektrum mit geringfügiger Störung und ambulanter Behandlung, die standardisiert nach geltenden Algorithmen behandelt werden. Bei den traumatologischen Notfällen sind Verletzungen der Extremitäten führend. Die wenigsten Patienten müssen an Land evakuiert werden. Sollte dennoch eine Verlegung erforderlich sein, geschieht diese meist mittels „crew transfer vessel“ und nur in einem Viertel der Fälle via Offshore-Rettungshubschrauber. Erkrankungen aus dem internistischen Formenkreis überwiegen alle Behandlungen – mit und ohne Evakuierung.
Infobox Offshore-Rettungshubschrauber
Offshore-Rettungshubschrauber sind für die akut- und notfallmedizinische Versorgung und den Transport von verletzten und erkrankten Personen aus den Offshore-Windparks spezialisiert. Sie sind nicht Teil des öffentlichen Rettungsdiensts und die Betreiber, hier Northern HeliCopter GmbH (NHC) als Tochtergesellschaft der DRF Luftrettung, haben direkt Verträge mit den Unternehmen der Offshore-Windparks.
Die Ausstattung geht über die geforderte Ausrüstungsnorm DIN EN 13718 (z. B. Ultraschallgeräte) und bodengebundenen Einsatzmittel hinaus und ist auch für eine längere Versorgungsphase der Patienten ausgelegt [18]. Seit 2014 steht ein NHC-Offshore-Rettungshubschrauber in Sankt Peter-Ording, ein weiterer ist seit 2018 auf Rügen stationiert.
Die medizinische Crew besteht aus einem Notfallsanitäter, ausgebildet als HEMS-TC, und einem Notarzt. Beide sind in der Höhenrettung speziell in Offshore-Windkraftanlagen ausgebildet. Offshore-Windkraftanlagen sind mehr als 100 m hoch und es gibt Notfälle, bei denen Verletzte aus dieser Höhe gerettet werden müssen. Der HEMS-TC ist darüber hinaus auch in der Wasserrettung trainiert.
Die fliegende Crew des Rettungshubschraubers besteht aus zwei Piloten und einem Windenführer („hoist operator“). Alle Besatzungsmitglieder sind speziell für die Offshore-Anforderungen ausgebildet.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
T. Warnecke, D. Neumann, M. Book, R. Franz, N. Jacobsen, W. Kleinhäntz, E. Warnking und D. Overheu geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Laut Ethikkommission der Universität Oldenburg Fakultät 6 bestand keine Beratungspflicht (2021-001).
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