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Erschienen in: Pflegezeitschrift 4/2023

01.04.2023 | Genderforschung | Pflege Praxis Zur Zeit gratis

Mann und Frau schmerzt es unterschiedlich

verfasst von: Dr. phil. Joachim Graf, Prof. Dr. Harald Abele

Erschienen in: Pflegezeitschrift | Ausgabe 4/2023

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Supplementary Information

Zusatzmaterial online: Zu diesem Beitrag sind unter https://​doi.​org/​10.​1007/​s41906-023-2031-8 für autorisierte Leser zusätzliche Dateien abrufbar.
Implikationen der Gendermedizin (Teil 1) Schmerzen werden von Frauen und Männern unterschiedlich erlebt, dies wiederum wirkt sich auf die Diagnostik, Behandlung und Gesundheitsoutcomes von Betroffenen aus. Der Beitrag skizziert vor dem Hintergrund der Notwendigkeit einer geschlechtssensibleren medizinischen Versorgung gendermedizinische Implikationen von Schmerzwahrnehmung und -versorgung.
Mit Inkrafttreten des Präventionsgesetzes 2016 hat sich im deutschen Gesundheitswesen die Erkenntnis durchgesetzt, dass Gesundheitsrisiken ungleich verteilt sind, auch durch das soziale Umfeld verursacht und durch soziale Ungleichheit reproduziert werden (Graf 2023); § 20 SGB V erkennt explizit die Bedeutung des Geschlechts für die aus der sozialen Ungleichheit resultierende gesundheitliche Ungleichheit an. Hier heißt es, dass "die Leistungen [der GKV im Rahmen von Prävention und Gesundheitsförderung] insbesondere zur Verminderung sozial bedingter sowie geschlechtsbezogener Ungleichheit von Gesundheitschancen beitragen" sollen (buzer.de 2023). Damit werden Kernaspekte der Gendermedizin in den Fokus gesetzt, die sich dafür einsetzt, das Geschlecht als zentrale Einflussgröße für die Erklärung von Unterschiedlichkeiten im Geschehen und Erleben von Krankheit und Gesundheit zu berücksichtigen (Brucker & Simoes 2023). Pflegekräfte sind in die Beurteilung der Schmerzbelastung von Patient*innen und auch in das Schmerzmanagement eingebunden und führen zudem Pflegemaßnahmen bei Patient*innen mit bestehender Schmerzbelastung durch. Kenntnisse über geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Schmerzwahrnehmung, bei der Kommunikation von Schmerzsymptomen sowie bei der Wirksamkeit von und der Versorgung mit Schmerzmitteln sind für eine patientenzentrierte Pflege daher unerlässlich, auch um bestehende Disparitäten zu Ungunsten von Mädchen und Frauen zu beseitigen.

Gendermedizin und geschlechtssensible Versorgung

Gendermedizin versteht sich als Disziplin, welche Geschlechtsspezifika von Gesundheit und Krankheit erforscht - beispielsweise die Unterschiede in Symptomatik, Selbst-, Fremdbewertung und Kommunikation von Beschwerden sowie die Diagnostik und Versorgung im ambulanten und stationären Bereich. Sie nimmt dabei Bezug sowohl zum biologischen (Sex) als auch zum sozialen Geschlecht (Gender) und interessiert sich sowohl für biologisch begründete Unterschiede beispielsweise im Krankheitsgeschehen als auch für sozial konstruierte Ursachen von Krankheit und Gesundheit wie Genderstereotype, welche u.a. das Risiko- und Gesundheitsverhalten beeinflussen (Brucker & Simoes 2023). Das zugrundeliegende Verständnis eines Kontinuums bestehend aus Sex- und Gendereffekten auf die Gesundheit (Glezerman 2016) zeigt sich am Beispiel von Herz-Kreislauf-Erkrankungen: Obwohl sich der Myokardinfarkt bei Frauen und Männern in ähnlicher Häufigkeit zeigt (Ohlmeier et al. 2015), fungieren Erkrankungen der Herzkranzgefäße (z.B. KHK) als "männliche" Phänomene, mit der Folge, dass diese bei Frauen als unterdiagnostiziert gelten (Gendereffekt), auch weil sich Frauen und Männer hinsichtlich Ursachen und Symptomen unterscheiden (Sex-Effekt) (Keteepe-Arachi & Sharma 2017). Die Verbindung von Gender- und Sexeffekten führt beispielsweise dazu, dass Frauen mit akuter Koronarsymptomatik seltener leitliniengerecht versorgt werden und eine höhere Mortalität aufweisen (Isorni et al. 2015). Ähnliche Effekte lassen sich auch für die Schmerzversorgung ableiten (Chen et al. 2008).

Genderspezifische Wahrnehmung von Schmerz

Bei Schmerzen zeigen sich ebenfalls Sex- und Gendereffekte. Hier wird einerseits angenommen, dass Unterschiede in der Schmerzwahrnehmung und der Fähigkeit Schmerzen aushalten zu können bestehen, gleichzeitig aber auch sozial konstruierte Rollenerwartungen bei Schmerzbelastung sowie die Kommunikation derselben von Relevanz sind - sowohl in der Selbst- als auch in der Fremdbewertung. Schmerzerleben ist höchst subjektiv und setzt sich aus sensorischen, kognitiven und emotionalen Komponenten zusammen. Folglich müssen hier mehrere Dimensionen unterschieden werden, durch die das Geschlecht die Schmerzerfahrung beeinflussen kann. Jüngste Studien haben erhebliche geschlechtsspezifische Unterschiede in den physiologischen Mechanismen, die dem Schmerz zugrunde liegen, aufgezeigt, darunter die geschlechtsspezifische Beteiligung verschiedener Gene und Proteine sowie unterschiedliche Wechselwirkungen zwischen Hormonen und dem Immunsystem, die die Übertragung von Schmerzsignalen beeinflussen. Die Neurobildgebung beim Menschen hat Unterschiede in den mit Schmerzen verbundenen neuronalen Schaltkreisen aufgezeigt, einschließlich geschlechtsspezifischer Hirnveränderungen bei chronischen Schmerzzuständen (Osborne & Davis 2022).
Die klinische Schmerzforschung deutet darauf hin, dass das Geschlecht einen Einfluss darauf haben kann, wie eine Person Schmerzen kontextualisiert und bewältigt. Das Geschlecht kann ferner auch die Anfälligkeit für die Entwicklung chronischer Schmerzen beeinflussen (Osborne & Davis 2022). Es deutet sich demnach an, dass Männer und Frauen unterschiedlich auf Schmerzen reagieren, wobei bei Frauen im Allgemeinen eine höhere Schmerzempfindlichkeit und ein höheres Risiko für klinische Schmerzen zu beobachten ist. Zudem wurden Unterschiede in der Reaktionsfähigkeit auf pharmakologische und nicht-pharmakologische Schmerzbehandlungen beobachtet. Neue Erkenntnisse deuten darauf hin, dass der Genotyp und die endogene Opioidfunktion eine kausale Rolle dabei spielen und Sexualhormone die Schmerzempfindlichkeit beeinflussen.
Psychosoziale Prozesse wie die Schmerzbewältigung und die frühzeitige Belastung durch Stress können ebenfalls Unterschiede zwischen den Geschlechtern erklären, zusätzlich zu den stereotypen Geschlechterrollen, die zu Unterschieden in der Schmerzausprägung beitragen können (Bartley & Fillingim 2013). Schmerz bei Frauen wird eher als "konstruiert oder übertrieben" wahrgenommen und abgetan. Gendereffekte nehmen demnach Einfluss darauf, wie die Reaktionen auf Schmerz ausfallen. Dies gilt auch hinsichtlich der Handlungsbereitschaft, die einer Schmerzäußerung folgt, und auch der Schmerzangabe an sich - so die Ergebnisse einer Metaanalyse (Alabas et al. 2012).

Schmerzversorgung in Abhängigkeit vom Geschlecht

Mehrere Studien haben Gendereffekte bei der Versorgung mit Schmerzmitteln identifiziert, mit signifikanten Unterschieden: So untersuchte eine prospektive Kohortenstudie beispielsweise die Art und Zeitdauer bis zum Einsatz einer Schmerzmedikation. Konsekutiv eingeschlossen wurden 981 Patient*innen, die sich in der Notaufnahme mit akuten Abdominalschmerzen vorstellten. Bei vergleichbarem Schmerz-Score erhielten weniger Frauen als Männer eine adäquate Schmerzmedikation (60 vs. 67 %). Von Relevanz war, dass das Geschlecht der behandelnden Ärzt*innen keinen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit hatte, eine adäquate Schmerzmedikation zu erhalten, da Frauen sowohl von männlichen als auch von weiblichen Ärzt*innen signifikant seltener ein Analgetikum verschrieben bekamen als männliche Patienten (Chen et al. 2008).
Eine andere Studie stellte fest, dass bei der Verabreichung von Schmerzmitteln durch den Rettungsdienst vor der Überführung in ein Krankenhaus Frauen signifikant seltener Morphin erhalten als Männer (Lord et al. 2009). Grundsätzlich deuten Studienergebnisse an, dass die Belastung durch chronische Schmerzen bei Frauen größer ist als bei Männern: Schätzungsweise 54,9 % der Frauen gegenüber 48,5 % der Männer in den USA litten 2010 unter chronischen Schmerzen. Obwohl Frauen über größere Schmerzen berichten, erhalten sie jedoch eine weniger intensive und effektive Schmerzbehandlung als Männer, aber häufiger Antidepressiva und Überweisungen in die psychiatrische Versorgung (Hirsh et al. 2014) als vergleichbare Männer. Insgesamt zeigen sich geschlechtsspezifische Verzerrungen beim Zeitpunkt, bei der Menge und bei der Art der verabreichten Schmerzbehandlung, was dazu führt, dass Frauen hier mit größerer Wahrscheinlichkeit eine unzureichende Versorgung erhalten (Lloyd et al. 2020).
Bei der Schmerzversorgung sind neben den genannten Gender-Aspekten auch Sex-Effekte zu berücksichtigen: So zeigten 37 % von insgesamt 67 Wirkstoffen, welche in der Zeitspanne zwischen 2000-2002 von der Food and Drug Administration (FDA) zugelassen wurden, geschlechterspezifische Unterschiede in Bezug auf Pharmakokinetik, Effizienz oder Nebenwirkungen (Yang et al. 2009). Ferner deutet sich an, dass Frauen auf eine intravenöse Morphingabe langsamer reagieren und die Wirkung weniger lange anhält als bei männlichen Patienten (Fillingim & Gear 2004).
Beispiele aus der Geburtshilfe zeigen, dass der Faktor Migration die geschlechtsspezifische Unterversorgung von Frauen verstärkt: Frauen mit Migrationshintergrund nehmen aufgrund andersartiger Schmerzwahrnehmung, -bewältigung und -kommunikation weniger Schmerzmedikation im Kontext der Geburt in Anspruch bzw. bekommen selbige seltener angeboten als Frauen ohne Migrationsstatus (Guðmundsdóttir et al. 2022), obwohl für Migrantinnen eine höhere Schmerzbelastung aufgrund von Traumata, Gewalt, Stress und Fluchterfahrung nachgewiesen ist (Fair et al. 2020).

Fazit: Geschlechtsspezifische Aspekte einbeziehen

Das Geschlecht - sowohl als biologische als auch als soziale Kategorie - hat einen wesentlichen Einfluss auf die Gesundheitsoutcomes und beeinflusst als Kernfaktor des Modells der Gesundheitsdeterminanten alle Ebenen dieses Modells (Dahlgren & Whitehead 1991, Kolip 2013). Aufgrund einer bestehenden geschlechtsspezifischen sozialen Ungleichheit wirkt die Kategorie Geschlecht hier als Wirkverstärker - häufig zu Ungunsten von Mädchen und Frauen. Um die daraus resultierende geschlechtsspezifische gesundheitliche Ungleichheit abzufedern, bedarf es einer Sensibilisierung in Lehre, Forschung und Versorgung. Das Beispiel Schmerz verweist hier auf bestehende Disparitäten: Personalisierte Medizin bedeutet, dass auch geschlechtsspezifische Aspekte berücksichtigt werden müssen, um bei bestehenden (chronischen) Schmerzen ein individuell angepasstes effizientes therapeutisches Regime zur Verfügung stellen zu können (Brucker & Simoes 2023).
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Metadaten
Titel
Mann und Frau schmerzt es unterschiedlich
verfasst von
Dr. phil. Joachim Graf
Prof. Dr. Harald Abele
Publikationsdatum
01.04.2023
Verlag
Springer Medizin
Schlagwort
Genderforschung
Erschienen in
Pflegezeitschrift / Ausgabe 4/2023
Print ISSN: 0945-1129
Elektronische ISSN: 2520-1816
DOI
https://doi.org/10.1007/s41906-023-2031-8

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