Laryngorhinootologie 2000; 79(11): 669-670
DOI: 10.1055/s-2000-8304
HAUPTVORTRAG
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Psychologische Betreuung von Tumorpatienten in der Nachsorge

H.  de Maddalena
  • Tübingen
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Publication Date:
31 December 2000 (online)

Die psychologisch bedeutsamen Konsequenzen von Tumorerkrankungen im Kopf-Halsbereich (siehe Tab. [1]) sind in komplexer Weise mit den jeweiligen krankheits- und behandlungsbedingten Schädigungen, den daraus resultierenden funktionellen Behinderungen und dem Genesungsverlauf verbunden. Man wird die emotionale und soziale Belastung und das Bewältigungsverhalten von Patienten jedoch nicht verstehen, wenn man sich nur auf die körperlichen und funktionellen Veränderungen und Beschwerden konzentriert. Mit anderen Worten: Ein beschwerdefreier Patient mit einem aus medizinischer Sicht guten Genesungsverlauf kann psychisch stark belastet sein und dringend ärztliche Zuwendung brauchen. Andererseits ist nicht jeder Patient mit einer schlechten Prognose per se hilfsbedürftig.

Tab. 1Überblick über mögliche negative Konsequenzen, die sich aus Krebserkrankungen im Kopf-Halsbereich ergeben können emotionale Probleme Verlust von sozialen Kontakten Reduktion des Selbstwertgefühls Stigmatisierung Kommunikationsstörung Familien- und Partnerschaftsprobleme

Die Zusammenstellung in Tab. [1] ist nicht erschöpfend. Sie ist so zu verstehen, dass nicht bei jedem Betroffenen alle diese Folgen festzustellen sind. Vielmehr bewältigen viele Kranke aus eigener Kraft und mit Unterstützung anderer erfolgreich die veränderte Lebenssituation, ohne dass eine intensive psychologische Betreuung erforderlich ist. Im Einzelfall muss deshalb zwischen zu erwartenden, vorübergehenden Reaktionen einerseits und psychologisch auffälligen, zumeist dauerhaften Anpassungsstörungen andererseits differenziert werden.

Praktisch von Bedeutung ist, dass einige der aufgeführten Konsequenzen spezifischen Zeitabschnitten in der Nachsorge zugeordnet werden können, wohingegen andere während der gesamten Nachsorge mehr oder weniger stark in den Vordergrund rücken können. Die Veränderung der sozialen Kontaktstruktur, die sich zumeist in einem Verlust von Freundschaften und Bekanntschaften äußert und zu Vereinsamung führen kann, beginnt fast immer direkt nach der Entlassung aus der Klinik [2]. Vorzeitiger Verlust der Berufstätigkeit und der damit verbundene Selbstwertverlust sowie familiäre Probleme rücken dagegen meist erst nach mehreren Monaten in den Blickpunkt des Interesses. Um Betroffenen, bei denen Hinweise auf psychische Probleme vorliegen oder Anpassungsschwierigkeiten zu erwarten sind, ärztliche Ratschläge und Hilfestellungen geben zu können, sollte sich der behandelnde Arzt in einer vertraulichen Gesprächsatmosphäre möglichst frühzeitig einen Überblick darüber verschaffen, wie die Folgen der Erkrankung bewältigt werden. Die Beschäftigung des Arztes mit schwerwiegenden Patientenproblemen setzt allerdings eine zeitliche und personelle Kontinuität voraus. Es sollte deshalb sichergestellt sein, dass der Arzt, der sich den Patienten und deren psychischen Problemen zuwendet, auch bei den folgenden Nachsorgeterminen als Gesprächspartner zur Verfügung steht und ausreichend Zeit für Gespräche hat.

Enorm wichtig ist es, sich in diesen Gesprächen einen Überblick über vorhandene Unterstützungsmöglichkeiten im sozialen Umfeld zu verschaffen. Klinische Erfahrungen, aber auch empirische Forschungsergebnisse rechtfertigen den Versuch, Familienangehörige gezielt auf die Bedeutung emotionaler Unterstützung für die Krankheitsanpassung aufmerksam zu machen. Wie Familienangehörige Krebskranke emotional unterstützen können, ist an einigen konkreten Beispielen in Tab. [2] dargestellt. Dieser Überblick orientiert sich an den Ergebnissen einer empirischen Verlaufsuntersuchung von Aymanns [1].

Tab. 2Was können Angehörige tun, um die Patienten emotional zu unterstützen? sich Zeit für den Betroffenen nehmen Selbstwertgefühl stärken negative und ambivalente Gefühle akzeptieren Verständnis für Sorgen zeigen bei der Problemlösung aktiv unterstützen für Ablenkung und Gelassenheit sorgen Entscheidungen des Betroffenen bestärken

Emotionale Unterstützung kommt jedoch nur dann voll zum Tragen, wenn sie nicht ausschließlich auf die Verbesserung der Befindlichkeit abzielt, sondern auch eine aktive, handlungsorientierte Krankheitsauseinandersetzung gefördert wird. „Negative Gefühle akzeptieren”, „Selbstwertgefühl stärken” oder „Verständnis für Sorgen zeigen” sind Beispiele für sehr wichtige Strategien zur Verbesserung der emotionalen Befindlichkeit. „Für Ablenkung sorgen” oder „Bei der Problemlösung unterstützen” richten sich darüber hinaus auf eine Aktivitätssteigerung. Nur eine ausgewogene Mischung beider Komponenten ist auf Dauer emotional für die Betroffenen hilfreich.

Der behandelnde Arzt kann durch die Weitergabe der genannten Ratschläge präventiv wirken. Besonders in den ersten Wochen nach Abschluss der Behandlung ist die Unterstützung sehr hoch. Bei einem zufriedenstellenden Genesungsverlauf lässt die Zuwendung und aktive Unterstützung jedoch oft nach. Hinweise zur emotionalen Unterstützung sollten deshalb nicht nur einmalig zu Beginn der Nachsorge gegeben werden. Sie dürfen ausdrücklich in größeren zeitlichen Abständen wiederholt werden. Mit besonderem Nachdruck sollen die Empfehlungen auch den Angehörigen von jüngeren Patienten unter 40 Jahren und den Bezugspersonen von weiblichen Krebskranken vorgetragen werden, da diese Patientengruppen meist vergleichsweise wenig emotionale Unterstützung von ihrer Familie erhalten.

Eine positive soziale Anpassung ist zumeist dann zu erwarten, wenn es gelingt den Patienten zu vermitteln, dass sie durch eigenes Verhalten zur Genesung und zu einer erfolgreichen Rehabilitation beitragen können. Im Vordergrund stehen Verhaltensweisen, die zu einer Verbesserung der körperlichen und emotionalen Befindlichkeit beitragen. Mit an erster Stelle ist hier eine vollständige oder zumindest relative Abstinenz im Tabak- und Alkoholkonsum zu nennen. Der häufige Abusus dieser Substanzen ist hinlänglich bekannt, und Empfehlungen zur Reduktion des Konsums sind immer wieder Gegenstand von Nachsorgegesprächen. Eigene Untersuchungen zeigen, dass die meisten Patienten, die bis zum Behandlungsbeginn rauchen und regelmäßig Alkohol konsumieren, auch nach der Operation weiterrauchen und weitertrinken, wenn auch meist weniger als vorher [3]. Bei einer behandlungsbedürftigen Alkoholabhängigkeit muss unter Berücksichtigung der Prognose immer individuell abgeklärt werden, inwieweit eine konfrontative Problematisierung der Abhängigkeit sinnvoll und erfolgversprechend ist. In Einzelfällen sollte unbedingt nach Abschluss der onkologischen Primärbehandlung bei günstiger Prognose die Zusammenarbeit mit einem Fachdienst (z. B. Beratungsstelle) angestrebt werden, der dann die Therapie übernehmen kann. Die Einschaltung eines Fachdienstes macht jedoch nur dann einen Sinn, wenn eine zumindest minimale Therapiemotivation vorhanden ist. Bei onkologisch ungünstiger Prognose sollte berücksichtigt werden, dass der Alkoholkonsum von vielen Betroffenen als eine für sie oft erfolgreiche Strategie eingesetzt wird, um emotionale Belastungen zu reduzieren.

Falls sich Hinweise auf gravierende psychische und soziale Veränderungen ergeben, die sich durch stabilisierende und ermutigende ärztliche Gespräche nicht positiv beeinflussen lassen, sollte mit den Patienten über eine Vorstellung bei einer psychotherapeutischen Fachkraft beratschlagt werden. Die Überweisung zu einem psychologischen oder ärztlichen Psychotherapeuten (möglichst mit einem verhaltenstherapeutischen Behandlungsansatz) sollte jedoch nur im Einvernehmen mit dem Patienten erfolgen. Es wird immer wieder erforderlich sein, zunächst bestehende Vorurteile und Barrieren abzubauen. Psychologische Beratung und Psychotherapie wird von vielen Patienten noch vergleichsweise häufig mit psychiatrischen Erkrankungen und psychopathologischen Störungen gleichgesetzt. Die Empfehlung zur Psychotherapie wird somit missverstanden als eine Aufforderung zur Überprüfung des Geisteszustandes und infolgedessen mehr oder weniger offen abgelehnt.

Zweifellos zu den schwierigsten ärztlichen Gesprächssituationen in der Krebsnachsorge gehört die Aufklärung über die Inkurabilität. In der Fachwelt herrscht breites Einvernehmen darüber, dass bei Inkurabilität kein schematisches Informationsverhalten möglich ist. Erforderlich ist eine individuelle auf den jeweiligen Patienten abgestimmte Gesprächsführung. Äußerst hilfreich wäre es in einer solchen Situation schon im Voraus zu wissen, welches Informationsverhalten sich der jeweilige Patient vom informierenden Arzt wünscht. Etwas vereinfachend kann grundsätzlich zwischen aktiver Informationssuche oder Informationsvermeidung unterschieden werden. Einerseits gibt es Patienten, die eine vorbehaltlose und offene Information wünschen, um sich gezielt mit der ihnen verbleibenden Lebenszeit auseinandersetzen zu können. Andere Patienten erwarten nicht die volle Wahrheit. Sie wollen vielmehr soweit im Unklaren gelassen werden, dass ihnen noch ein Rest an Hoffnung verbleibt. Dieses „Fünkchen Hoffnung” ist für sie elementar notwendig, um emotional im letzten Lebensabschnitt stabil bleiben zu können.

Es ist äußerst schwierig, sich über die Erwartungen der Patienten Klarheit zu verschaffen, wenn eine Inkurabilität festgestellt wurde und die Befundbesprechung erfolgen soll. Auch wenn die infauste Prognose nicht offen angesprochen wird, erkennen die meisten Patienten an der Art der Gesprächsführung mehr oder weniger sofort, dass etwas Schwerwiegendes vorliegt. Vorteilhaft wäre es, schon sehr frühzeitig mit den Patienten im Rahmen der Nachsorgeuntersuchungen über ihre Erwartungen für den Fall einer Inkurabilität zu sprechen. Allerdings müssen diese Gespräche mit der notwendigen Sorgfalt und Zurückhaltung geführt werden, um die Patienten nicht unnötig zu beunruhigen. So lassen sich frühzeitig im Rahmen der Nachsorge wichtige Informationen für das konkrete Gesprächsvorgehen gewinnen.

Literatur

  • 1 Aymanns P. Krebserkrankung und Familie. Zur Rolle familialer Unterstützung im Prozess der Krankheitsbewältigung. Bern, Göttingen, Toronto; Verlag Hans Huber 1992
  • 2 De Maddalena H, Pfrang H, Zenner H P. Erklärungsmodelle des sozialen Rückzugs von Krebspatienten: Ergebnisse einer prospektiven Verlaufsuntersuchung bei Patienten nach Kehlkopfoperation. In: Kiese C (Hrsg) Diagnostik und Therapie bei Kommunikationsstörungen. Bonn; Deutscher Psychologen Verlag 1992: 73-114
  • 3 De Maddalena H. Psychologische Aspekte in der Rehabilitation von Laryngektomierten.  Sprache Stimme Gehör. 1997;  21 35-39

Dr. rer. soc. Dipl.-Psych. H. de Maddalena

Abteilung Phoniatrie und Pädaudiologie der Universität Tübingen

Silcherstraße 5 72076 Tübingen

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