Dtsch Med Wochenschr 2012; 137(51/52): 2732-2737
DOI: 10.1055/s-0032-1327372
Weihnachtsheft
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Von Wahrheit und Wirklichkeit. Das Hygienesystem des „Hygienepapstes“ Max von Pettenkofer

From truth and reality: the hygiene system of Max von Pettenkofer, the „pope“ of hygiene
G. Pettenkofer
1   Naturheilpraxis, Adlkofen und Geisenfeld
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Publication Date:
11 December 2012 (online)

Wirklichkeit und Wahrheit

Eines der bedeutendsten Ergebnisse menschlichen Forschens ist die Erkenntnis, dass es Wirklichkeit als objektiv feststehendes Faktum nicht gibt, dass Wirklichkeit vielmehr erst durch das wahrnehmende Subjekt hervorgebracht wird. Wirklichkeit wird dann umso wahrscheinlicher, je mehr Subjekte in ihrer Wahrnehmung oder gedanklichen Projektion übereinstimmen – wahr wird sie jedoch dadurch immer noch nicht. Die „Wahrheit“ bedarf der Bestätigung der Wirklichkeit durch eine Autorität, also einer „Macht“, die das Potenzial hat, dass sich andere in ihrem Denken und Handeln danach richten.

Max von Pettenkofer (Abb.  [ 1 ]) war zu seiner Zeit eine solche Autorität, und seine Geschichte ist eine Geschichte vom wechselvollen Spiel um die Wahrheit, die sich in seinem Fall hauptsächlich um das Wesen der Cholera dreht. Das Besondere der Wahrheitsfindung zu Max von Pettenkofers Zeit war der Umstand, dass sich die medizinische Welt gerade in dem historisch bedeutendsten Wandel ihrer neueren Geschichte befand, weg von der antiken Humoralpathologie hin zu neuen Glaubenssätzen, in denen die Naturwissenschaften eine immer größere Bedeutung erhielten. Ein beredtes Zeugnis darüber findet sich in den Berichten von den Zeitgenossen, den Kollegen oder Schülern der großen Forscher. Schon damals diente unter anderem die Deutsche Medizinische Wochenschrift als Sprachrohr [27] [28] [29] [30] [31]. Was uns heute klar gegliedert erscheint – Rudolf Virchow begründet die Zellularpathologie, Max von Pettenkofer die Hygiene, Robert Koch die Bakteriologie – war im 19. Jahrhundert eine vehement geführte wissenschaftliche Debatte um die Wahrheit.

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Abb. 1 Max von Pettenkofer (1818 bis 1901). Quelle: Max von Pettenkofer Institut, München. Mit freundlicher Genehmigung.

Interessanter Weise verändern sich die „Wahrheiten“ parallel zu den Veränderungen im politischen Gefüge. Das deutsche Reich unter der Vorherrschaft Preußens gewann gegen Ende des 19.  Jahrhunderts an Macht, wie das Königreich Bayern an Einfluss verlor. Ähnlich verhielt es sich mit dem Einfluss der Hypothesen Virchows, Kochs und Pettenkofers. Virchow und Koch agierten im Königreich Preußen, Pettenkofer unter der Krone Bayerns. Virchow gelang es, sich mit seiner These durchzusetzen, dass Krankheiten Störungen der zellulären Funktionen sind, Koch erregte mit seinen Entdeckungen der Erreger von Milzbrand, Cholera und Tuberkulose Aufsehen und erreichte, dass sich zusehends das Modell der Infektion etabliert. Pettenkofers „Bodentheorie“ verlor dagegen in der wissenschaftlichen Welt zusehends an Bedeutung, auch wenn ihm seine Heimatstadt München weiterhin mit Ehrentiteln dankt. Von Anfang an jedoch wurde Max Pettenkofer Autorität zu Teil, weil ihm die Gunst des Schicksals, neben seinen eigenen Talenten, die Bekanntschaft mit Autoritäten seiner Zeit schenkte.