Rehabilitation (Stuttg) 2011; 50(4): 244-250
DOI: 10.1055/s-0031-1275689
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die Bedeutung des Wunsch- und Wahlrechts des § 9 SGB IX für die medizinische Rehabilitation aus Sicht der Rehabilitanden

Relevance of the „Wunsch- und Wahlrecht” of § 9 Social Code Book 9 in Medical Rehabilitation from the Patients’ PerspectiveN. Pohontsch1 , H. Raspe2 , F. Welti3 , T. Meyer4
  • 1Institut für Sozialmedizin, Universität zu Lübeck
  • 2Seniorprofessor für Bevölkerungsmedizin, Universität zu Lübeck
  • 3Institut für Sozialpolitik und Organisation sozialer Dienste, Universität Kassel
  • 4Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung, Medizinische Hochschule Hannover
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Publication Date:
28 July 2011 (online)

Zusammenfassung

Ziel der Studie: Jedem Antragsteller auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation (und sonstige Leistungen zur Teilhabe) steht nach § 9 Abs. 1 SGB IX ein Wunsch- und Wahlrecht in Bezug auf alle Fragen zu, die zur Konkretisierung rehabilitativer Leistungen von Bedeutung sind. Die vorliegende Studie zielte auf die Exploration der Wünsche von Rehabilitanden, ihrer Einstellungen und Erfahrungen zu Aspekten des Wunsch- und Wahlrechts sowie ihrer Kriterien bezüglich der Auswahl einer Rehabilitationseinrichtung.

Methode: Insgesamt wurden 10 leitfadengestützte Fokusgruppen mit 71 männlichen und weiblichen Rehabilitanden zwischen 26 und 80 Jahren aus 5 Indikationsbereichen durchgeführt. Es erfolgte eine zusammenfassende qualitative Inhaltsanalyse der Gesprächstranskripte.

Ergebnisse: Personen, die einen Antrag auf eine Leistung der medizinischen Rehabilitation stellten, erhielten während des Antragsprozesses in der Regel keine Informationen zum Wunsch- und Wahlrecht. Anträge, die im Verfahren der Anschlussheilbehandlungen behandelt wurden, waren von nur vorgeblich vorhandenen Wunsch- und Wahlmöglichkeiten („Pseudo-Wunsch- und Wahlrecht”) gekennzeichnet. Dieses mangelnde Mitspracherecht wurde selten beanstandet. Solange die Rehaleistung überhaupt genehmigt wurde, sei die Wahl der Rehaeinrichtung „egal”. Es wurden verschiedene Argumente gegen das Wunsch- und Wahlrecht vorgebracht, insbesondere der Mangel an Informationen und Zeit zur Durch- und Umsetzung des Wunsch- und Wahlrechts. Bewilligungsbescheide nannten regelhaft keine Gründe für die Nichtbeachtung geäußerter Wünsche, obwohl dies in § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB IX ausdrücklich gefordert ist. Viele Befragte hatten sich bei der Beantragung ihrer Rehaleistung wenig Gedanken über eine Auswahl der Rehaeinrichtung gemacht. Den meisten Rehabilitanden fiel es entsprechend schwer, Auswahlkriterien zu nennen.

Diskussion: Insgesamt ist der Wissensstand über das Wunsch- und Wahlrecht bei den Betroffenen eher gering. Dies erschwert seine Umsetzung erheblich. Die Voraussetzungen für eine informierte und berechtigte Auswahlentscheidung sind unter diesen Bedingungen nur sehr eingeschränkt gegeben. Die Bedeutung des Wunsch- und Wahlrechts scheint für das Gros der Befragten eher gering zu sein.

Schlussfolgerungen: Aus sozialrechtlicher Perspektive ist zu fordern, Rehaantragsteller besser über ihr Wunsch- und Wahlrecht aufzuklären und sie in die Lage zu versetzen, auf der Basis objektiver und valider Informationen Auswahlentscheidungen treffen zu können. Die generell von Rehabilitanden einzufordernde aktive Rolle im Rehabilitationsprozess sollte auch bei der Einrichtungsauswahl gefordert und gefördert werden.

Abstract

Objectives: Everyone applying for medical rehabilitation (and other benefits to support participation) has a “Wunsch- und Wahlrecht” (meaning the right to individual wishes and choice relative to assessments, services and institutions as well as to the various benefits) according to § 9 of Book 9 of the German Social Code (SGB 9) concerning every aspect of the implementation of these services. This study was aimed at exploring the wishes of rehabilitants, their attitudes towards and experiences with the various aspects of the “Wunsch- und Wahlrecht” as well as their criteria in choosing a rehabilitation centre.

Methods: A total of 10 open guided focus groups were conducted with 71 male and female participants from 5 different indications and aged between 26 and 80 years. Transcripts were analyzed by means of a summary content analysis.

Results: Persons applying for medical rehabilitation benefits did not as a rule get information about their “Wunsch- und Wahlrecht” during the application process. Applying for post-hospital rehabilitation often meant to be faced with an only allegedly existing choice (“pseudo Wunsch- und Wahlrecht”). The participants objected only rarely to this missing share in decision-making. Most of them did not care about their rights to choose a rehab centre if only the application for rehabilitation was allowed. Various arguments were brought forward against the “Wunsch- und Wahlrecht”, especially insufficient information about and time for enforcement and implementation of the “Wunsch- und Wahlrecht”. Despite an explicit stipulation in § 9 SGB 9, notices of approval rarely stated reasons for ignoring the wishes expressed by the applicants. Many participants had reflected only little about choosing a specific rehab centre when applying for rehabilitation. Accordingly, most of the participants had difficulties to mention possible selection criteria.

Discussion: On the whole, applicants have Only little knowledge about the “Wunsch- und Wahlrecht”. This complicates its implementation considerably. The preconditions for making informed and valid choices between different clinics are not given under these circumstances. Most interviewees do not attach much value to the “Wunsch- und Wahlrecht”.

Conclusions: From a social law perspective, it should be demanded that rehab applicants have to get better information about their “Wunsch- und Wahlrecht” and that they must be empowered to decide on their choice based on objective and valid information. The active role in the rehabilitation process that should generally be demanded from rehabilitants, should also be encouraged and fostered in choosing a rehabilitation centre.

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Korrespondenzadresse

Nadine Pohontsch

Universitätsklinikum

Schleswig–Holstein

Institut für Sozialmedizin

(Haus 50)

Ratzeburger Allee 160

23538 Lübeck

Email: nadine.pohontsch@uk-sh.de

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