Gesundheitswesen 2010; 72 - V190
DOI: 10.1055/s-0030-1266371

Sturzprophylaxe bei älteren Menschen in ihrer persönlichen Wohnumgebung: Ethisch-soziale Implikationen vor dem Hintergrund klinischer und gesundheitsökonomischer Effektivität

K Balzer 1, M Bremer 2, D Lühmann 1, H Raspe 1
  • 1Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Institut für Sozialmedizin, Lübeck
  • 2KoPM®-Zentrum der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW), Hamburg

Hintergrund: Ältere Menschen haben ein erhöhtes Risiko zu stürzen und sich zu verletzen [1] – mit erheblichen individuellen und gesellschaftlichen Konsequenzen gesundheitlicher und finanzieller Natur. Im Rahmen eines noch laufenden Health Technology Assessment (HTA) werden im Auftrag der Deutschen Agentur für HTA die klinische Effektivität und gesundheitsökonomische Konsequenzen sowie ethische und soziale Implikationen von Maßnahmen zur Sturzprophylaxe bei älteren Menschen analysiert. Material und Methoden: Für die Evaluation von klinischer und Kosteneffektivität werden systematische Übersichtsarbeiten erstellt. Die Recherche umfasste 31 Literaturdatenbanken (Suchzeitraum 2003 bis Anfang 2010). Zur Bewertung der Wirksamkeit präventiver Maßnahmen wurden randomisierte kontrollierte Studien (RCT) und systematische Übersichtsarbeiten eingeschlossen. Die Informationssynthese erfolgt strukturiert qualitativ. Wegen der Heterogenität der Materialien sind Metaanalysen unangemessen. Ethische und soziale Fragen wurden bei der Literaturrecherche mittels sensitiver Suchkriterien berücksichtigt. Die Analyse relevanter Quellen erfolgt narrativ, entlang eines Katalogs strukturierender Leitfragen [2]. Nachfolgend werden vorläufige Ergebnisse, basierend auf einem Recherchezeitraum bis 2008, berichtet. Das Gesamtprojekt wird im Sommer 2010 abgeschlossen. Vorläufige Ergebnisse: Von 4910 recherchierten Publikationen wurden 86 eingeschlossen. Am häufigsten untersucht sind Übungen für die Motorik, multifaktorielle Interventionen, Vitamin D-Substitution und die Überlassung von Hüftprotektoren. Für keine Intervention wurden konsistente Effekte auf Sturzereignisse oder Sturzfolgen gefunden. Wegen der inkonsistenten Evidenzlage und fraglicher Übertragbarkeit internationaler Daten lassen sich aus den einbezogenen ökonomischen Evaluationsstudien keine aussagekräftigen Hinweise für den deutschen Versorgungskontext ableiten. Aus ethischer und sozialer Sicht steht eine Grundfrage zentral: Inwieweit gehört das Sturzrisiko zum allgemeinen Lebensrisiko oder hat darüber hinausgehende, versorgungsbegründende Relevanz? Dies berührt beispielsweise sowohl die Frage nach der moralischen Verpflichtung zum Angebot und zur Nutzung von Sturzprävention als auch die Entscheidungsfindung, wenn zur (vermeintlichen) Sturzprophylaxe freiheitseinschränkende Maßnahmen erwogen werden. Diskussion: Versorgungsentscheidungen zur Sturzprophylaxe verlangen auf jeder Ebene eine Gesamtbetrachtung der aktuellen Evidenz und der Perspektiven betroffener Personen/Populationen. Der HTA-Bericht bietet hierzu eine systematische Grundlage. Literatur: [1] Heinze et al., Clin Nurs 2007, 16(3): 495–501. [2] Lühmann & Raspe, ZEFQ 2008, 102(2): 69–76