physioscience 2010; 6(1): 39-40
DOI: 10.1055/s-0029-1245163
Veranstaltungsbericht

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Akademisierung der Gesundheitsfachberufe – ein Gewinn für die Versorgungsqualität

Tagung am 27. November 2009 in der Robert-Bosch-Stiftung BerlinH. Becker1
  • 1Alice Salomon Hochschule Berlin
Further Information

Publication History

Publication Date:
23 February 2010 (online)

Mit der im September vom Gesetzgeber verabschiedeten Modellklausel können nach den Pflegeberufen nun auch Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Logopäden und Hebammen in Modellstudiengängen an Hochschulen ausgebildet werden. Sie erwerben damit die Berufserlaubnis und einen Bachelorgrad. Dieses Ziel verfolgt die Arbeitsgemeinschaft Medizinalfachberufe für Therapie und Geburtshilfe (AG MTG), ein Zusammenschluss von Berufsverbänden der Ergotherapie, Logopädie, Orthoptik, Physiotherapie und Hebammen seit 2 Jahrzehnten. Ihr Sprecher Jürgen Ungerer wertet die Modellklausel deshalb als einen wichtigen Meilenstein auf dem Weg zur Akademisierung der Medizinalfachberufe. Die Umsetzung liegt nun in den Händen der Hochschulen mit Unterstützung der Bundesländer.

Gemeinsam mit dem Hochschulverbund Gesundheitsfachberufe (HVG) e. V. lud die AG MTG etwa 100 Vertreter aus Politik, Berufsfeld und Wissenschaft am 27. November 2009 nach Berlin in die Robert-Bosch-Stiftung zur Tagung Primärqualifizierend studieren in den Gesundheitsfachberufen – ein Gewinn für die Versorgungsqualität ein. Podium und Publikum bewegte vor allem die Frage, wie zukünftige Therapeuten und Hebammen ausgebildet werden müssen, um den veränderten Anforderungen des Gesundheitswesens Rechnung tragen zu können. Im Zentrum der Veranstaltung stand eine Podiumsdiskussion.

Prof. Dr. Mark Dominik Alscher vom Robert-Bosch-Krankenhaus Stuttgart schilderte die Situation in der stationären Versorgung. Eine älter werdende Bevölkerung konfrontiert die Gesundheitsfachberufe mit immer komplexeren Anforderungen. Gleichzeitig müssen aufgrund des Kostendrucks und kürzeren Liegezeiten Prozessabläufe optimiert, neue Technologie eingesetzt und Aufgaben neu verteilt werden. Das ist nur zu leisten, wenn Ärzte mit Partnern zusammenarbeiten, die die gleiche Sprache sprechen und ihre Arbeitsabläufe wissenschaftlich reflektieren.

Vertreter der Berufsgruppen wie die Professorin für Physiotherapie an der FH Kiel Heidi Höppner und der Dozent an der Berufsfachschule für Physiotherapie in Kreischa und Master-Absolvent Holm Thieme machten deutlich, dass wissenschaftlich fundierte Reflexion, Eigenständigkeit, individuell an den Patienten angepasste Behandlungsstrategien und die Entwicklung neuer Versorgungsangebote eine grundständige akademische Ausbildung voraussetzen. Die seit 10 Jahren angebotenen dualen oder Weiterbildungsstudiengänge sind erste wichtige Schritte – sie bleiben jedoch Übergangsmodelle. Die Referenten verwiesen auf Österreich und die Schweiz, wo in den letzten Jahren ein konsequenter Wechsel der Ausbildung an Fachschulen an Hochschulen umgesetzt wurde. Berufsfachschulen können tradiertes Wissen und Können weitergeben, ihre Schüler jedoch nicht zum wissenschaftlichen Analysieren und Forschen befähigen, da dort Forschung und Lehre nicht verknüpft werden. Dies sei für die Weiterentwicklung der Berufe und ihren Beitrag im sich wandelnden Gesundheitssystem jedoch essenziell.

Christina Bode, Vertreterin des GKV-Spitzenverbandes, hält hingegen den Status quo in der Versorgung für ausreichend. Die Gesetzlichen Krankenkassen befürchten einen weiteren Kostenanstieg. Eine kleine Quote akademisierter Therapeuten und Hebammen, die durch Forschung die Wirksamkeit von Maßnahmen überprüfen können, hält Bode jedoch für sinnvoll.

Prof. Dr. Anne Friedrichs, Gründungsbeauftragte und Präsidentin der am 01.11. 2009 gegründeten Hochschule für Gesundheit in Bochum, betonte, dass Wissenschaftsbasierung und interdisziplinäres Arbeiten von Beginn der Ausbildung an notwendig sind. Das Ziel der Studiengänge sind vor allem reflektierende Praktiker.

Eng verbunden mit der Akademisierung sind Fragen der Neuordnung und Übernahme neuer Aufgaben im Gesundheitssystem. International haben Therapeuten bereits eine andere Berufsautonomie, z. B. den Erstkontakt zu Patienten, d. h. die Behandlung ohne ärztliche Verordnung.

Während Berufsverbände und Verbände der Lehrkräfte die Vollakademisierung anstreben, hält Prof. Dr. Bernhard Borgetto von der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst in Hildesheim auch eine Abstufung innerhalb der Professionen nach Qualifikationsniveaus für möglich.

Einen Blick über den nationalen Tellerrand hinaus gaben Gunnar Gamborg, Präsident des Ergotherapieverbandes Dänemark, und Prof. Dr. Susanne Rosberg von der Universität Göteborg in Schweden. Dänemark stellte vor etwa 10 Jahren im Zuge der Bologna-Reform seine Ausbildungen um, und in Schweden gibt es seit 15 Jahren nur noch akademische Ausbildungen in den Gesundheitsberufen. Beide Referenten ermutigten Deutschland zur Akademisierung auf einem hohen Niveau. Dies dürfe auf Bachelorebene nicht enden, um das Potenzial der Berufe für eine angemessene Versorgung wirklich zu fundieren. Erfahrungen der Kollegen aus Skandinavien mit der Akademisierung sind: Die Versorgung der Patienten sei theoretisch fundierter, flexibler und individueller und es gebe ein größeres Bewusstsein für ethische Aspekte. Zudem hat die Chance einer beruflichen Weiterentwicklung die Berufe in Dänemark und Schweden attraktiver gemacht. Beide Experten gaben deshalb den Rat, vor allem die Lehrenden gut zu qualifizieren, Master-Studienprogramme und Promotionen zu fördern und Forschung für die Weiterentwicklung zu nutzen.

Das Programm für Deutschland erscheint anspruchsvoll. In kurzer Zeit muss Vieles geleistet werden: Politiker der Länder müssen Verantwortung übernehmen und durch Finanzierung die Umsetzung ermöglichen. Hochschulen sind gefordert, innovative, praxisbezogene und den internationalen Standards entsprechende Curricula zu entwickeln. Berufsverbände sollten mit der jeweiligen Berufsgruppe, den Patientenvertretern und den Krankenkassen die Veränderungen und Chancen besprechen und um Unterstützung werben. Therapeuten müssen Offenheit und Flexibilität zur Erprobung einbringen, aber auch darauf achten, dass alle Angehörigen der Berufsgruppen auf den neuen Wegen „mitgenommen” werden. Nur ein gemeinsames, beherztes Vorgehen und ein reger Austausch miteinander ermöglichen einen erfolgreichen Ausgang der Studiengangevaluationen im Jahr 2015. Dies kann der nächste Meilenstein für den Anschluss der deutschen Gesundheitsfachberufe an ein internationales Niveau sein. Gunnar Gamborg aus Dänemark brachte es auf den Punkt: „We are all waiting for a strong and professional inspiration from Germany!”

Weitere Informationen unter: www.hv-gesundheitsfachberufe.de und www.agmt.de.

Heidrun Becker

Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW)

Winterthur

Email: heidrun.becker@zhaw.ch

    >