Dtsch Med Wochenschr 2009; 134(24): 1261-1266
DOI: 10.1055/s-0029-1225273
Originalarbeit | Original article
Public Health
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Ausmaß und Auswirkungen von Rationierung in deutschen Krankenhäusern

Ärztliche Einschätzungen aus einer repräsentativen UmfrageExtent and impact of bedside rationing in German hospitalsResults of a representative survey among physiciansD. Strech1 , M. Danis2 , M. Löb3 , G. Marckmann4
  • 1Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin, Medizinische Hochschule Hannover
  • 2Department of Bioethics, National Institutes of Health, Bethesda, USA
  • 3Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Helios Klinikum Berlin-Buch
  • 4Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Eberhard-Karls Universität Tübingen
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Publication History

eingereicht: 8.1.2009

akzeptiert: 14.5.2009

Publication Date:
04 June 2009 (online)

Zusammenfassung

Hintergrund und Fragestellung: Das Thema Rationierung im Gesundheitswesen wird zunehmend auch in der deutschen Ärzteschaft diskutiert. Neben den relativ intensiven Debatten über die Entscheidungsfindung auf der Makroebene des Gesundheitssystems fehlt eine kritische Auseinandersetzungen darüber, wie Ärzte auf der Mikroebene in der individuellen Arzt-Patienten-Beziehung die unvermeidlichen und bereits heute prävalenten Rationierungen in einer medizinisch und ethisch vertretbaren Weise durchführen können. Die Entwicklung praxistauglicher Lösungsansätze für die Mikroebene bedarf im Vorfeld sozialempirischer Studienansätze, um ein differenzierteres Bild der Verbreitung und Häufigkeit ärztlicher Rationierung sowie ein tiefergehendes Verständnis der dabei zu erwartenden Probleme zu gewinnen.

Methode: Unter Verwendung des deutschen Krankenhausregisters wurde eine bundesweite Fragebogenstudie an einer Zufallsstichprobe von 1137 Klinikern in den Bereichen Intensivmedizin und Kardiologie durchgeführt.

Ergebnisse: Über drei Viertel der befragten Ärzte gaben an, Patienten nützliche Maßnahmen aus Kostengründen vorenthalten zu müssen. Allerdings berichtete nur ein geringer Anteil dieser Gruppe, dass es sich dabei um ein häufiges Phänomen handele. In Bezug auf Fachbereich, ärztlichen Status und Trägerschaft lassen sich z. T. signifikante Unterschiede in der Häufigkeit von Rationierungsentscheidungen feststellen. Die große Mehrheit der Kliniker beschrieb negative Auswirkungen der Mittelknappheit auf ihre Arbeitszufriedenheit und auf die Arzt-Patienten-Beziehung. Deutsche Kliniker sehen kaum noch Möglichkeiten für effizienteres Arbeiten als Alternative zu Rationierungen. Deutlich mehr als die Hälfte sah demgegenüber die Bereitstellung von zusätzlichen Mitteln für den Gesundheitssektor durch höhere Krankenkassenbeiträge oder einen höheren finanziellen Eigenanteil der Patienten als einen akzeptablen Weg im Umgang mit der Mittelknappheit.

Schlussfolgerung: Es bedarf der Weiterentwicklung von expliziten Instrumenten der Leistungsbegrenzung, welche unvermeidliche Rationierungsentscheidungen auf der Mikroebene ersetzen oder entlasten. Entsprechende Ansätze müssen ergänzt werden durch Beratungsstrukturen zur Unterstützung eines rationalen und moralisch akzeptablen ärztlichen Umganges mit Mittelknappheit.

Summary

Background: Healthcare rationing is increasingly discussed among German physicians. However, in contrast to the relatively intense debates on how to prioritize and ration on the macro level of the health system, there is hardly any discussion on how doctors can make the unavoidable rationing decisions on the micro level in a medically and ethically appropriate manner. The development of both accountable and feasible guidance requires empirical evidence about the prevalence of bedside rationing and a more in-depth understanding of the practical challenges.

Methods: Based on the official German hospital registry a national survey was performed nationwide among 1,137 randomly selected physicians working in cardiology or critical care medicine.

Results: 68% of the respondents stated that they had already withheld from patients medical services with a potentiol benefit for the patient because of cost considerations. However, only few of them indicated that this happens often. The frequency of bedside rationing differed, in some cases significantly, in relation to specialty, professional status and hospital funding. The majority of clinicians describes a negative impact of cost pressure on their work satisfaction and on the patient-doctor relationship. German clinicians have become aware of only a few opportunities that would allow them to increase their efficiency with a view to avoiding healthcare rationing. Instead, more then 50 % of the doctors considered additional funding for the health care system, through higher contributions to the statutory health insurance or higher out-of-pocket spending by patients, to be an acceptable approach to dealing with scarce resources.

Conclusion: There is a need to develop explicit methods that support physicians in making inevitable rationing decisions at the bedside. Such methods must be accompanied by consultation procedures so that a rational and fair use of scarce health care resources is achieved.

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Prof. Dr. med. Dr. phil. Daniel Strech

Institut für Geschichte, Ethik & Philosophie der Medizin Medizinische Hochschule Hannover (MHH)

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