SCHWERPUNKT
Umgang mit diagnostischer Unsicherheit in der HausarztpraxisDealing with diagnostic uncertainty in general practice

https://doi.org/10.1016/j.zefq.2013.10.017Get rights and content

Zusammenfassung

Die hausärztliche Arbeit findet im sogenannten Niedrigprävalenzbereich statt. Dem zu Folge ist aufgrund der niedrigen Prävalenz von Krankheiten die diagnostische Genauigkeit von Tests eingeschränkt. Darüber hinaus kommen die Patienten mit den initialen Symptomen einer Erkrankung in die Praxis, hinter denen eine Vielzahl von Erkrankungen stehen kann, sodass hieraus eine diagnostische Unschärfe resultiert. Letztlich ist eine gewisse diagnostische Unsicherheit in der Hausarztpraxis also systemimmanent. In der Übersichtsarbeit werden die verschiedenen Ursachen von Unbestimmtheit und mögliche Strategien zum Umgang mit Unsicherheit im Kontext der wissenschaftlichen Literatur diskutiert. Angst vor Unsicherheit geht mit höheren diagnostischen Aktivitäten einher. Eine ablehnende Haltung gegenüber Unsicherheit scheint einen Einfluss auf die spätere Wahl der Facharztrichtung zu haben. Eine Ursache für den Hausärztemangel könnte eine wachsende Intoleranz gegenüber Unsicherheit sein, die bei stetigem technischem Fortschritt weiter zunimmt. Von hoher diagnostischer Bedeutung ist der bio-psycho-soziale Kontext der hausärztlichen Tätigkeit. Unter kognitionspsychologischen Gesichtspunkten besteht ein Spannungsfeld zwischen Nutzen und Schaden von Heuristiken und Intuition bzw. Bauchgefühl. Sehr wichtig ist eine gute Kommunikation, um die Patienten bei bestehenden Unsicherheiten im medizinischen Entscheidungsprozess adäquat einzubinden. Umgang mit Unsicherheit sollte als Komponente des hausärztlichen Berufes vermehrt Beachtung finden und weiter untersucht werden, um diesbezügliche Strategien optimieren zu können.

Summary

In general, the prevalence of diseases is low in primary care. Therefore, the positive predictive value of diagnostic tests is lower than in hospitals where patients are highly selected. In addition, the patients present with milder forms of disease; and many diseases might hide behind the initial symptom(s). These facts lead to diagnostic uncertainty which is somewhat inherent to general practice. This narrative review discusses different sources of and reasons for uncertainty and strategies to deal with it in the context of the current literature. Fear of uncertainty correlates with higher diagnostic activities. The attitude towards uncertainty correlates with the choice of medical speciality by vocational trainees or medical students. An intolerance of uncertainty, which still increases as medicine is making steady progress, might partly explain the growing shortage of general practitioners. The bio-psycho-social context appears to be important to diagnostic decision-making. The effect of intuition and heuristics are investigated by cognitive psychologists. It is still unclear whether these aspects are prone to bias or useful, which might depend on the context of medical decisions. Good communication is of great importance to share uncertainty with the patients in a transparent way and to alleviate shared decision-making. Dealing with uncertainty should be seen as an important core component of general practice and needs to be investigated in more detail to improve the respective medical decisions.

Section snippets

Niedrigprävalenzbereich im Kontext der hausärztlichen Arbeit

Das Institute of Medicine (IOM) formulierte bereits 1994 die Basisaufgaben der hausärztlichen Medizin. Im Sinne der Primärversorgung ist es die Aufgabe des Hausarztes, Ansprechpartner seiner Patienten in allen möglichen medizinischen Belangen zu sein, durch stetiges Begleiten des Patienten eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen und ihn im sozialen und familiären Kontext zu betreuen [2]. Dazu gehört ein niederschwelliger Zugang bei der Bereitstellung von medizinischer Versorgung. Im besten

Der bio-psycho-soziale Kontext der hausärztlichen Arbeit

Die „Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin“ (DEGAM) weist dem Allgemeinmediziner als Haus- und Familienarzt die Aufgabe zu, die Grundversorgung aller Patienten mit körperlichen und seelischen Gesundheitsstörungen in der Notfall-, Akut- und Langzeitversorgung zu gewährleisten. Diese Prinzipien machen deutlich, dass ein Hausarzt nicht nur fachliche, sondern auch Kompetenz in zwischenmenschlichen Bereichen vorweisen muss. Nur durch gute Kommunikation kann er eine

Emotionale Aspekte zum Umgang mit Unsicherheit

Sowohl die geringe Auftretenswahrscheinlichkeit der einzelnen Erkrankungen als auch die Mannigfaltigkeit von möglichen Erkrankungen – insbesondere im ganzheitlichen Sinne des bio-psycho-sozialen Modells – stellen eine hohe diagnostische Herausforderung dar, die häufig mit Unsicherheiten im hausärztlichen Alltag einhergeht. Insofern gilt der souveräne Umgang mit Unsicherheit als Kernkompetenz des Hausarztes [1]. Dabei ist das Gefühl diagnostischer Unsicherheit ein vielseitiges Phänomen, mit dem

Handlungsaspekte zum Umgang mit Unsicherheit

Diagnostische Tests stellen eine verlockende Möglichkeit dar, die eigene Unsicherheit zu reduzieren und eine Diagnose zu stellen [8]. Angst vor Unsicherheit scheint dabei auch mit vermehrten diagnostischen Aktivitäten einherzugehen [19]. Jedoch verleiten die immer besseren und risikoärmeren technischen Möglichkeiten der modernen Medizin den Arzt, diagnostische Tests ungezielt einzusetzen, um alle diagnostischen Möglichkeiten auszunutzen. Dabei wird außer Acht gelassen, dass im

Kognitive Aspekte zum Umgang mit Unsicherheit

Das klassische Paradigma des Diagnostizierens bezieht sich auf das hypothetiko-deduktive Kognitionsmodell, wobei eine finale diagnostische Entscheidung getroffen wird, indem verschiedene Hypothesen der Reihe nach ausgeschlossen werden [20]. Besondere Aufmerksamkeit verdient jedoch die frühe Phase, in der es dem Patienten durch zurückhaltende Gesprächsführung ermöglicht wird, Symptome und Auffälligkeiten umfassend aufzuzählen. Diese offene Phase, von Donner-Banzhoff & Hertwig „induktives

Einbindung des Patienten: Kommunikation von Unsicherheit

Die Strategie des „abwartenden Offenlassens“, die im weitesten Sinne auch einen Test darstellt („test of time“ [10]), bedingt das Offenlegen der diagnostischen Lage und der damit einhergehenden Optionen, welche dem Patienten laienverständlich vermittelt werden müssen. Ghosh legt bei dem „communicating of uncertainty“ besonderen Wert auf eine ehrliche Kommunikation mit Patienten und auf eine gemeinsame Entscheidungsfindung unter Berücksichtigung der Risiken. Hinsichtlich dessen wird empfohlen,

Fazit

  • Das Phänomen der diagnostischen Unsicherheit gehört systemimmanent zur Hausarztmedizin.

  • Diagnostische Unsicherheit ist kein unüberwindbares Problem, sondern eine Herausforderung, die durch unterschiedliche Strategien bewältigt werden kann.

  • Insbesondere eine gute Kommunikation ist notwendig, um die Patienten adäquat in die Entscheidungsprozesse einzubinden und mit Ihnen gerade wegen der Unsicherheit eine gute Vertrauensbasis zu bilden.

  • Die diagnostische Unsicherheit sollte als bedeutsame Komponente

Interessenkonflikte

Die Autoren haben keine Interessenskonflikte in Zusammenhang mit der Publikation.

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      2018, Clinical Neurology and Neurosurgery
      Citation Excerpt :

      In fact, the author considered diagnostic TESI as an adjunct to the preoperative diagnostic work up throughout the study period. At a minimum though, intuition bias [64] may have played a role in patient selection for surgery after the initial set up phase of the complex clinical protocol for outpatient transforaminal endoscopic decompression as decision making may have been intuitive after the protocol’s initial developmental phase and learning curve. Therefore, it cannot be overemphasized to use all available clinical information to best understand the context of lumbar spine care and the rationale for surgical decision making at the time when the care is delivered.

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