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Erschienen in: Pflegezeitschrift 6/2023

01.06.2023 | Diversity | Pflege Praxis Zur Zeit gratis

So gelingt Diversity!

verfasst von: Eva Obernauer, Simon Lang

Erschienen in: Pflegezeitschrift | Ausgabe 6/2023

Begleitmaterial
Hinweise

Supplementary Information

Zusatzmaterial online: Zu diesem Beitrag sind unter https://​doi.​org/​10.​1007/​s41906-023-2081-y für autorisierte Leser zusätzliche Dateien abrufbar.
Sind in der gesundheitlichen Versorgung wirklich alle willkommen? Diversity ist in aller Munde, doch die wenigsten Pflegeeinrichtungen wissen, wie sie sich auf eine zunehmend pluralistische Gesellschaft einstellen können. Das Beispiel einer LSBTI*-sensiblen Pflege im Rahmen des Programms Qualitätssiegel Lebensort Vielfalt® zeigt, wie die Implementierung eines Diversity-Managements funktionieren kann.
Stellen Sie sich vor: In einem Hospiz hat sich eine Person angekündigt, in deren Patient*innenakte der Geschlechtseintrag männlich vermerkt war. Bei Ankunft stellt sich der Gast als Frau Müller vor. Für die Mitarbeitenden ist sofort klar, wie sie in dieser Situation sensibel reagieren: Frau Müller wird als der Mensch gesehen, der sie ist. Durch diese Haltung erfährt sie in ihren letzten Lebenswochen nicht nur Akzeptanz, sondern auch aktive Unterstützung. Für Frau Müller ist es das erste Mal, dass sie sich traut, ihr Geschlecht zu leben. Unterstützt wird sie zum Beispiel bei der Wahl femininer Kleidung - und muss diesen Wunsch nicht erklären. Frau Müller kann in diesem Umfeld sich selbst öffentlich leben und in Würde sterben.
Eine solches Vorgehen ist in deutschen Pflege- und Hospizeinrichtungen immer noch die Ausnahme. Nach wie vor erleben LSBTI* im Gesundheitswesen Unverständnis, Diskriminierung und Ausgrenzung. Das stellt die Studie "Wo werde ich eigentlich nicht diskriminiert?" aus dem Jahr 2019, die die Lebenssituation von LSBTI* in Berlin beleuchtet, fest. Fast die Hälfte der Befragten sagt außerdem, dass ihre Lebenssituation im Gesundheitswesen nicht berücksichtigt wird. Obwohl es der Anspruch vieler Unternehmen ist, personenzentriert zu pflegen, liest man in Leitbildern lediglich Formulierungen wie "Wir heißen alle willkommen", "Wir leben Vielfalt" oder "Wir sind ein buntes Unternehmen". Doch Frau Müller hat wahrscheinlich schon viele solcher Sätze gelesen, war sich aber nie sicher, ob auch sie gemeint ist. Die Sorge ist berechtigt, da viele trans* Personen durch fehlendes Wissen in den Einrichtungen missverstanden werden.

Diskriminierungsfrei pflegen - ein Entwicklungsprozess

Der souveräne Umgang der Mitarbeitenden mit den Bedarfen von Frau Müller veranlasste die Leitung des Hospizes sich mit dem Unternehmensentwicklungsprozess des Qualitätssiegels Lebensort Vielfalt® auf derartige Situationen noch fundierter vorzubereiten. Als Siegelträgerin erwähnt das Hospiz nun auch explizit lesbisch, schwule, bisexuelle, trans* und inter* Personen (LSBTI*) in seiner Außendarstellung und im Leitbild. Darüber hinaus schulte die Einrichtung ihre Mitarbeitenden im Rahmen des Qualifizierungsprozesses und verankerte diversitätssensible Prozesse in ihrem Qualitätsmanagement. So ist das Hospiz nicht nur auf transgeschlechtliche Gäste vorbereitet, sondern die Mitarbeitenden wissen zum Beispiel auch, wie sie transitionierende Kolleg*innen bestmöglich unterstützen können.
Am Anfang des Prozesses standen kostenfreie Beratungstage, an die sich die Qualifizierungsphase anschloss. In dieser Zeit wurde Mitarbeitenden Wissen zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt vermittelt. In analogen Schulungen und durch interaktive E-Learning Formate lernten sie, besser auf die Biografien von LSBTI* einzugehen, ein Verständnis von den psychosozialen Auswirkungen von Diskriminierungserfahrungen zu erlangen und zielgruppenspezifische Bedarfe zu erkennen. Sie erfuhren vom Leid, welches die Kriminalisierung der männlichen Homosexualität (§ 175 StGB) bis in die jüngste Zeit verursachte. Auch bekamen sie Einblicke in lesbische Biografien, die zum Teil geprägt waren von Kindesrechtsentzug sowie wirtschaftlicher und sozialer Abhängigkeit.
Auch auf Mitarbeitende hatten die Qualifizierungsmaßnahmen einen positiven Effekt. Die Leitung eines ambulanten Pflegedienstes berichtete nach einer Schulung über überraschende Veränderungen in der Teamdynamik. Nachdem die Mitarbeitenden ausführlich über normative Körperbilder reflektierten, nahm Mobbing aufgrund von Körperlichkeiten spürbar ab. Das Team hatte verstanden, dass kein Körper "normal" ist und somit auch kein Körper abgewertet werden sollte. Dies war nur eine von vielen Haltungsänderungen in der Belegschaft. Vom Fokus auf Diversität profitierten also alle.
Zur gleichen Zeit schuf das Unternehmen Prozesse im Qualitätsmanagement, um unter anderem personenzentrierte Pflege und Inklusion voranzubringen und das Sicherheitsempfinden der Pflegeempfänger*innen und Pflegekräfte durch einen Verhaltenskodex zu stärken. Dieser zeigt den Rahmen eines diskriminierungssensiblen Umgangs auf, benennt Vielfalt als Ressource und schreibt diese Werte verbindlich fest. Bei Unklarheiten und Fragen konnte die Einrichtung nicht nur auf die Expertise der Mitarbeitenden des Siegels zurückgreifen, sondern auch auf ein engagiertes Netzwerk von Siegelträger*innen. Durch eine proaktive Außendarstellung werden die Anstrengungen der Einrichtung zukünftig LSBTI* auch kommuniziert, sie können sich auf die zertifizierten Qualitätsstandards berufen und von diesen Strukturen profitieren. Die positiven Aspekte eines Organisationsentwicklungsprozesses im Rahmen des Qualitätssiegels Lebensort Vielfalt® werden auch durch eine Evaluation bestätigt (Univation 2021). 59 Mitarbeitende von Projekteinrichtungen wurden dafür online befragt. Demnach verbessern die Qualifizierungsmaßnahmen die Arbeitsatmosphäre, die Pflegequalität und nicht zuletzt die Außenwirkung eines Unternehmens (Abb. 1, e-only).

LSBTI*-sensible Pflege ist erst der Anfang

Diversity Management sollte nicht nur die Belange von LSBTI*-Personen in den Blick nehmen, sondern auch proaktiv Strukturen für andere Vielfaltsmerkmale schaffen und das entsprechende Wissen vermitteln. Aus diesem Grund erweitert das Qualitätssiegel Lebensort Vielfalt® in Kooperation mit Vielfalt Pflegen seinen Fokus auf transkulturelle Aspekte, um noch mehr Nutzer*innen und Mitarbeitende des Gesundheitswesens einzubinden.

Literatur

Abb. 1 "Positive Aspekte des Organisationsentwicklungsprozesses" finden Sie über das eMagazin der PflegeZeitschrift und auf springerpflege.de

Info

Das Qualitätssiegel Lebensort Vielfalt® wurde 2017 gegründet. Es wird vom PKV-Verband in Kooperation mit der Deutschen AIDS-Stiftung gefördert. Im Rahmen des Zertifizierungsprozesses erfolgen Beratung, Qualifizierung und Begutachtung. Die Fachstelle LSBTI*, Altern und Pflege wird gefördert von der Berliner Landesstelle für Gleichbehandlung - gegen Diskriminierung.

Vielfältig, bunt und queer

Divers und offen, hilfsbereit und menschlich zu sein, das schreibt sich der ambulante Pflegedienst "Pflege im Quadrat" auf die Fahne. Das Unternehmen mit sechs Standorten in und um Mannheim ist seit 2020 mit dem Lebensort Vielfalt Qualitätssiegel® ausgezeichnet. Drei Fragen an die Qualitätsmanagerin:
Frau Döbele, was war Ihre Motivation, Ihre Einrichtung zertifizieren zu lassen und welche Strukturen haben Sie im Rahmen der Qualifizierung etabliert?
Döbele: Wir haben unter anderem einen Verhaltenskodex, mit dem Ziel Mitarbeitende und Pflegeempfänger*innen bestmöglich zu schützen, entwickelt, der von den Mitarbeitenden sehr gut angenommen wurde. Gleichzeitig haben wir die Charta der Vielfalt und den Standard of Conduct (UN Free & Equal) der Vereinten Nationen unterzeichnet und ein Diskriminierungsverbot formuliert. Wir haben auch weitere Strukturen etabliert, wie z.B. einen Diversitätsbeauftragten benannt.
Wie ist die Atmosphäre im Team und im Unternehmen nach der Auszeichnung und (wie) funktioniert ein "Diskriminierungsverbot?
Döbele: Offenheit, Akzeptanz und insbesondere die gegenseitige Wertschätzung haben sich im Team und im Unternehmen weiter verstärkt. Wir haben mit der Auszeichnung auch das Thema Diversity - insbesondere in den Sozialen Medien - verstärkt kommuniziert. Darauf haben wir viele positiven Rückmeldungen und Zuspruch erhalten.
Das Qualitätssiegel Lebensort Vielfalt® fokussiert sich in Zukunft nicht nur auf LSBTI*-Personen, sondern nimmt auch eine migrationssensible Pflege in den Blick. Sie wollen sich auch dafür zertifizieren lassen. Warum?
Döbele: In unseren Teams sind mindestens 18 Nationen vertreten und es kommen kontinuierlich weitere hinzu. Daher ist es uns ein Anliegen, nicht nur mehr über migrationssensible Pflege, sondern gleichzeitig die Lebenskontexte unserer Mitarbeitenden besser kennen zu lernen. Von daher freuen wir uns über das erweiterte Programm. Dabei ist für uns auch die Einbindung aller Leitungskräfte durch eine neu konzipierte Managementschulung zu Beginn des Projekts und die Beratung zur Entwicklung einer Fehlerkultur entscheidend.

Fazit

LSBTI* erleben im Gesundheitswesen noch immer Unverständnis, Diskriminierung und Ausgrenzung.
Organisationsentwicklung im Rahmen des Programms Qualitätssiegel Lebensort Vielfalt® unterstützt Einrichtungen und Mitarbeitende dabei, diversitätssensible Prozesse im Qualitätsmanagement von Pflegeeinrichtungen zu verankern und Vielfalt als Ressource zu verstehen.

Nutzen Sie Ihre Chance: Dieser Inhalt ist zurzeit gratis verfügbar.

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Metadaten
Titel
So gelingt Diversity!
verfasst von
Eva Obernauer
Simon Lang
Publikationsdatum
01.06.2023
Verlag
Springer Medizin
Schlagwort
Diversity
Erschienen in
Pflegezeitschrift / Ausgabe 6/2023
Print ISSN: 0945-1129
Elektronische ISSN: 2520-1816
DOI
https://doi.org/10.1007/s41906-023-2081-y

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