Nicht wenige Leser von „Ethik in der Medizin“ und eine zunehmende Zahl von Mitgliedern der Akademie für Ethik in der Medizin engagieren sich im Rahmen von Ethikberatung in Einrichtungen des Gesundheitswesens. Unbestritten hat sich in den letzten zwanzig Jahren eine dynamische Entwicklung vollzogen: Immer mehr Kliniken etablieren Strukturen ethischer Unterstützung für die Patientenversorgung, Pilotmodelle bieten Ethikberatung in außerklinischen Versorgungsstrukturen an, es gibt Qualifizierungen, wissenschaftliche Evaluationen und Standards.

Gleichwohl regt sich immer wieder, auch in jüngster Zeit, Kritik, die den Sinn von Ethikberatung in der Medizin insgesamt in Zweifel zieht [4]. Der Hauptvorwurf lautet, dass die Ethikberatung wenig in Anspruch genommen werde und sich dadurch erweise, dass sie keinen wertvollen Beitrag zur Lösung ethischer Fragen in der Patientenversorgung leiste, sondern dass die Heilberufe dies selbst am besten könnten. Diese Argumentation übersieht nicht nur, dass die Beschreibung einer mangelhaften Realität nicht ausreicht, um daraus eine normative Sollensforderung abzuleiten. Sie suggeriert auch einen Antagonismus zwischen den Gesundheitsprofessionen und den in der Ethikberatung tätigen Personen, der sich weder aus der Theorie von Ethikberatung ergibt noch der Wirklichkeit entspricht. Die meisten Ethikberater sind ja Vertreter der Gesundheitsprofessionen und als solche sowohl in der Patientenversorgung als auch in der Ethikberatung aktiv. Es handelt sich bei der Ethikberatung nicht um eine eigenständige Disziplin oder Profession, sondern eine Spezialisierung analog der Palliative Care, die allerdings neben den klassischen Gesundheitsprofessionen auch etwa Seelsorgern und Philosophen offensteht.

Obzwar also eine pauschalierende Ablehnung der Ethikberatung unangemessen ist, kann sie doch als Anregung aufgenommen werden, auf konkrete Defizite und Herausforderungen hinzuweisen, welche die Ethikberatung in den nächsten Jahren zu lösen hat. Im Folgenden möchte ich dies in drei Schritten versuchen: Erstens werde ich Gründe nennen, wieso ich eine Ethikberatung im Gesundheitswesen für sinnvoll und nötig erachte. Zweitens werde ich drei zentrale Probleme und Defizite benennen, welche den Stand der gegenwärtigen Ethikberatung in Deutschland kennzeichnen. Drittens werde ich Wege aufzeigen, wie diese Probleme gelöst werden könnten.

Das Gesundheitswesen ist ein Spiegel unserer Gesellschaft, und diese befindet sich in einem Zustand moralischer Orientierungsbedürftigkeit. Durch die Globalisierung, die zunehmende Individualisierung und Pluralisierung sind traditionelle normative Fundamente brüchig geworden, welche früher hauptsächlich die Familien, die Kirchen und die Professionen zur Verfügung gestellt haben. Im Gesundheitswesen wird dieser Orientierungsbedarf besonders greifbar, da sich durch die wissenschaftlich-technologische Entwicklung erweiterte Machbarkeiten ergeben haben, die Grenzsetzungen herausfordern. Die Verunsicherung wird verschärft durch einen Systemwandel im Gesundheitswesens: Die lebenslange Dyade von Patient und Hausarzt löst sich auf, der Kranke sieht sich einem multiprofessionellen, hochdifferenzierten und ökonomisierten Dienstleistungssystem gegenüber, die gesellschaftlichen Erwartungen an das Gesundheitswesen und ihre beruflichen Vertreter erweitern sich in den Lifestyle-Bereich hinein.

Diese synchronen Entwicklungen drücken sich am Krankenbett oftmals in konkreten ethischen Fragen, Unsicherheiten und Uneinigkeiten aus. Hier reicht die moralische Urteilskraft des einzelnen Akteurs oft nicht mehr aus, sondern es bedarf einer expliziten ethischen Reflexion, um Therapieentscheidungen überzeugend zu begründen und einen Konsens zu ermöglichen. Dabei zeigen die Erfahrungen der ethischen Fallbesprechungen in Kliniken, dass eine gelungene kollektive Deliberation Verantwortung nicht an irgendwelche Autoritäten delegiert (auch nicht an das Recht) noch zwischen den Beteiligten diffundieren lässt, sondern im Gegenteil bei den Beteiligten die Sensibilität für wertbezogene Fragen steigert und die Wahrnehmung moralischer Verantwortung stärkt. Damit sind bereits die Ziele von Ethikberatung angedeutet: Primäres Ziel ist die ethisch am besten begründete und verantwortete Handlung und damit die Verbesserung ethischer Qualität in der Patientenversorgung. Sekundäre Ziele können die Verbesserung moralischer Urteilskraft und ethischer Begründungskompetenz, die Lösung und Prävention sozialer Konflikte sowie die Verhinderung von moral distress bei Patienten, Angehörigen und Behandelnden sein.

Inwiefern wird nun die Ethikberatung in Deutschland diesem Anspruch gerecht und wo liegen die derzeitigen Defizite? Hier sind im Wesentlichen drei zu nennen: 1) Defizite im flächendeckenden Angebot von Ethikberatung, 2) Defizite in der faktischen Realisierung von Ethikberatung, 3) Defizite in der Qualität von Ethikberatung. Das erste Defizit ergibt sich aus der Tatsache, dass akutmedizinische Therapieentscheidungen, insbesondere an den Grenzen des Lebens, ein herausragendes normatives Gewicht haben. Deshalb ist es kein Wunder, dass sich die Ethikberatung vorrangig an Akutkliniken etabliert hat. Demgegenüber gibt es eine Unterversorgung mit Ethikberatung im nicht-akutmedizinischen Bereich, insbesondere in Einrichtungen der Rehabilitation, der Altenpflege, der Behindertenfürsorge und der Begleitung Sterbender. Noch schlechter sieht die Situation im ambulanten Bereich aus: Kaum ein Hausarzt, ambulanter Pflegedienst, Rettungsdienst oder Hospizdienst kann bei ethischen Fragen auf kompetente externe Unterstützung zurückgreifen. Dabei deutet nichts darauf hin, dass in diesen Praxisfeldern keine ethisch reflexionsbedürftigen Probleme aufträten, es handelt sich vielmehr um ein Gerechtigkeitsdefizit im Zugang zu ethischer Unterstützung im Gesundheitswesen.

Das zweite Defizit hat damit zu tun, dass es in der Tat ethische Unterstützungsdienste gibt, die kaum in Anspruch genommen werden und daher ihre Funktion nicht angemessen realisieren können. Die gewiss vielschichtigen Gründe können in der Art der angebotenen Ethikberatung oder ihrer Bekanntmachung, aber auch in der Skepsis potenzieller Beratungssuchender oder in der Ablehnung durch Leitungsfiguren liegen. Analog dem Qualitäts- und Beschwerdemanagement besteht die Gefahr, dass Ethikberatung zur bloßen Fassade verkommt und durch diese Täuschung ihre eigenen ethischen Ansprüche untergräbt.

Das dritte Defizit tritt zu Tage, wenn Ethikberatung angefordert und durchgeführt wird: Es ist durchaus normal für eine noch relativ junge Praxis, dass sie sehr heterogen gehandhabt wird und Qualitätskriterien teilweise noch nicht definiert und allgemein anerkannt, teilweise noch nicht umgesetzt werden. Dabei tritt komplizierend hinzu, dass es kaum Daten über die Qualität der Ethikberatung in Deutschland gibt. Auch wenn die Kriterien der Ergebnis-, Prozess- und Strukturqualität gewiss nach den jeweiligen Aktivitäten der Ethikberatung (Fallberatung, Leitlinienerstellung, Fortbildung) variieren können, so scheint es doch unstrittig, dass die Ethikberatung wie jede menschliche Praxis nach bestmöglicher Qualität streben sollte – insbesondere da von den Ergebnissen der Ethikberatung unmittelbar oder mittelbar Leben und Wohl von Patienten abhängen kann.

Wie nun ließen sich diese drei beschriebenen Defizite reduzieren? Eine flächendeckende, zugangsgerechte Ethikberatung wird nicht von heute auf morgen realisierbar sein. Hierzu bedarf es zunächst weiterer Pilotmodelle in unterversorgten Bereichen und Regionen, die auch finanziell gefördert werden müssen. Ein dringendes Desiderat scheint mir eine bessere Vernetzung der vielen in der Ethikberatung engagierten, bislang oft „auf einsamem Posten kämpfenden“ Personen zu sein, um den Erfahrungsaustausch zu fördern, erprobte Praxismodelle auszutauschen und sich gegenseitig zu bestärken. Dies könnte durch einen nationalen Kongress für Ethikberatung, aber auch durch eine umfassende, interaktive Online-Plattform realisierbar sein. Letztlich müsste die Vernetzung auch dazu genutzt werden, selbstbewusst politische Ansprüche zu stellen: Wenn Ethikberatung einen wichtigen Beitrag zur Gesundheitsversorgung leistet, dann muss sie auch strukturell verankert und finanziert sein. Denkbar wäre sogar, dass der Gesetzgeber mittelfristig einen rechtlichen Anspruch auf ethische Unterstützung im Gesundheitswesen statuiert und dass diese Dienstleistungen regulär von den Krankenversicherungen vergütet werden – eine Investition, die sich allen Erkenntnissen zufolge amortisieren würde.

Das Defizit in der Inanspruchnahme von Ethikberatung muss gerade vor diesem Hintergrund ernst genommen werden. Personen in der Ethikberatung sollten alles daransetzen, ihre Kollegen in der Institution über das Angebot zu informieren und den Zugang niederschwellig zu halten. Leitungsfiguren in den verschiedenen Berufsgruppen müssen als Multiplikatoren gewonnen werden, und die Angebote der Ethikberatung müssen sich nach den Bedürfnissen der Praktiker richten. Hilfreich sind aufsuchende Elemente wie regelmäßige Ethikvisiten und kurzfristig organisierbare ethische Fallbesprechungen vor Ort, die das knappe Zeitbudget aller Beteiligten nicht überstrapazieren. Ein große Verantwortung haben auch die Leitungsebenen: Sie sollten die Ethikberatung nicht als Schaufenster für Zertifizierungen missbrauchen, sondern funktionierende und effektive Strukturen der Ethikberatung durch Schulungen, Freistellungen und Einrichtung spezieller Stellen fördern. Anbieter von Zertifizierungen wiederum dürfen sich nicht mit Absichtsbekundungen zufrieden geben, sondern sollten belastbare Kriterien wie dokumentierte Fallbesprechungen, in Anspruch genommene Fortbildungen und Evaluationen fordern.

Die Qualität der Ethikberatung schließlich ist zuerst eine Herausforderung für die wissenschaftliche Medizinethik, welche normativ und empirisch gestützte Kriterien und Messinstrumente entwickeln muss. Daran hat sich eine Art ethischer Versorgungsforschung anzuschließen, die konkrete Projekte der Ethikberatung konzipiert, implementiert und evaluiert. Trotz aller nationalen Eigenheiten kann es hierbei helfen, die Erfahrungen aus anderen Ländern zur Kenntnis zu nehmen, wie das Erfolgsmodell des Advance Care Plannings zeigt [1]. Qualität sollte schließlich nicht nur konzeptualisiert und gemessen, sondern auch in praxi gefördert werden, etwa durch Zertifizierung von Ethikberatungsdiensten, von Qualifizierungsprogrammen oder einzelnen Ethikberatern, wie es in den USA derzeit geschieht [3].

Mit dieser Karte im Gepäck sollte die Ethikberatung auch in Deutschland zuversichtlich ihren Weg in die Zukunft gehen, um die dringend benötigte ethische Orientierung bei konkreten Entscheidungen in der Gesundheitsversorgung zu unterstützen. Vergessen wir nicht: Ethik ist eine handlungsbezogene Wissenschaft – oder wie Erich Kästner es lapidar und provokant formulierte: „Es gibt nichts Gutes, außer: Man tut es“ [2].