Zusammenfassung
Leitlinien sind wichtige Informationsgrundlagen und Hilfen für individuelle Entscheidungssituationen in der klinischen Praxis, von denen in bestimmten Fällen abgewichen werden kann oder sogar muss. Kommen Leitlinienempfehlungen aufgrund besonders hoher methodischer und fachlicher Qualität dem medizinischen Standard nahe, können sie dennoch schon aufgrund der Individualität der Patienten mit einem rechtlich verbindlichen Standard nicht gleichgesetzt werden. Die Klassifikation S1–S3 der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) ermöglicht dem Leser, auf einen Blick zu erkennen, mit welchem methodischen Aufwand eine Leitlinie erstellt wurde. Innerhalb einer Leitlinie dient die Graduierung von Empfehlungsstärken der Erkennung des Ausmaßes an Erkenntnissicherheit, des fachlich-inhaltlichem Konsenses und der Legitimation für die Umsetzung der jeweiligen Empfehlung. Hinsichtlich der Akzeptanz und Abbildung des medizinisch gebotenen Standards für bestimmte Patientengruppen ist dies nicht unerheblich. Leitlinien haben insofern bei Gutachterfragen einen entscheidenen Anteil. Rechtlich sind Leitlinien zwar nicht bindend, dennoch sollten Herausgeber und Autoren von Leitlinien sich über ihre Verantwortung in Bezug auf sozial- und haftungsrechtliche Fragen bewusst sein, und Leitlinienanwender sowie auch gerichtlich bestellte Begutachter sollten sowohl auf aktuelle Leitlinien als auch auf individuelle Umstände eines Patienten, auf die Besonderheiten seiner Behandlung, eingehen.
Abstract
Guidelines are important basic information and can be understood as “treatment and decision corridors” which can or even should be deviated from in justified cases. Even if the guidelines fulfill the methodological and technical requirements of legally binding medical standards, they cannot yet replace or be equated with them due, amongst other factors, to patient individuality. The classification S1–S3 of the Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF, Association of the Scientific Medical Societies in Germany) allows the reader to see at a glance with how much methodological effort a guideline was created. Guidelines have graded levels of recommendation which allow the reader to recognize the extent of the certainty of the knowledge, the professional consensus on the content and the legitimacy of the implementation of each recommendation. This is not insignificant for the acceptance and image of necessary medical standards for certain patient groups. Thus, guidelines play a decisive part in answering assessment questions. Guidelines are not binding; nevertheless, editors and authors of guidelines should be aware of their responsibilities concerning social and legal liability issues. In addition, guidelines users as well as court appointed assessors, should both be well-informed about the current guidelines on an individual patient’s treatment as well as the individual circumstances affecting this treatment.
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Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt. C. Muche-Borowski ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des AWMF-Instituts für medizinisches Wissensmanagement. I. Kopp ist stellvertretende Vorsitzende der Ständigen Kommission Leitlinien des Präsidiums der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) und erhält institutionelle Förderung von der AWMF. Über diese akademischen Interessen hinaus besteht kein Interessenskonflikt. Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.
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Muche-Borowski, C., Kopp, I. Medizinische und rechtliche Verbindlichkeit von Leitlinien. Z Herz- Thorax- Gefäßchir 29, 116–120 (2015). https://doi.org/10.1007/s00398-015-1142-y
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DOI: https://doi.org/10.1007/s00398-015-1142-y
Schlüsselwörter
- Medizinische Leitlinien
- Einhaltung von Leitlinien
- Evidenzbasierte Medizin
- Individualisierte Medizin
- Versorgungsstandards