Etablierung in der Gerontopsychiatrie

Aufsuchende intensive psychiatrische Behandlung ist auch unter dem Begriff „home treatment“ bekannt [1]. Allerdings wird darunter zumeist ein längerfristiges sektorenübergreifendes Behandlungskonzept verstanden, während die Stationsäquivalente Behandlung (StäB, [2]) eine Akutbehandlung äquivalent zu akutstationärer Krankenhausbehandlung impliziert und von daher die Sektorengrenzen einhält. Die Indikation für eine vollstationäre Behandlung ist streng zu prüfen. Die Möglichkeit einer ambulanten oder teilstationären Behandlung ist ein Ausschlusskriterium für StäB. Insbesondere in Modellprojekten konnten bereits vor 2018 mit der StäB erste Erfahrungen in Deutschland gesammelt werden [1].

Gerade bei Menschen mit Demenz sind Klinikaufenthalte mit erhöhter Delirgefahr, mehr Komplikationen und erhöhter Mortalität [3], einer Gefahr der kognitiven Verschlechterung und Ängsten verbunden. Die Demenzsensibilität von Kliniken in Organisationsabläufen und Behandlungsstrukturen etabliert sich erst langsam; erste Leitfäden wurden erstellt [4] und die Notwendigkeit zur Kompetenzstärkung der Stationsmitarbeitenden erkannt [5]. Noch immer sind klinikinterne Abläufe und Strukturen für Menschen mit Demenz aber wenig geeignet [6]. Delirien etwa entwickeln sich meist auf dem Boden einer Demenz [7] und werden u. a. durch die meist häufigen Ortswechsel befördert [8]. Darüber hinaus kann das Krankenhausmilieu etwa bei Menschen mit Demenz aufgrund deren stark verminderter Anpassungsfähigkeit sogar symptomfördernd wirken [9] oder Stationsverlegungen provozieren [10]. Der akutpsychiatrische Behandlungsbedarf im Wohnumfeld ist dabei gerade im Alter hoch. Bis zu 65 % der Bewohner in der stationären Altenpflege zeigen psychische und Verhaltensstörungen (herausfordernde Verhaltensweisen; [11]). Ursächlich hierfür ist neben dem Bestehen von Krankheitsfaktoren meist das kombinierte Auftreten verschiedener biopsychosozialer Faktoren, zu denen etwa soziale Faktoren wie die Kommunikation mit dem Betroffenen, die räumliche Umgebung sowie Pflegepraktiken zählen [12]. Hier kann eine nachhaltige Verbesserung der Lebensqualität durch gerontopsychiatrische Behandlung im häuslichen bzw. Heimsetting erreicht werden. Zudem entstehen übertragbare Lerneffekte der Pflegeteams. Auch Menschen mit Psychosen und Depressionen profitieren deutlich von einem Verbleib in ihrem alltäglichen sozialen Setting mit den dortigen Aktivierungs- und Stabilisierungsoptionen. Dagegen kann das Klinik-Setting eine künstlich abgeschirmte Umgebung darstellen – dort erreichte Stabilisierungsschritte können oft nicht direkt auf die Häuslichkeit übertragen werden.

Bei manchen Patienten ist trotz einer akuten Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit eine stationäre Einweisung in ein Krankenhaus schwierig, etwa wenn sie diese verweigern. Auch ist es aus gerontopsychiatrischer Sicht nicht sinnvoll, Patienten dann stationär in der Klinik zu behandeln, wenn sich ihre Krankheitssymptome ausschließlich oder maßgeblich im ambulanten Umfeld zeigen. Beispiele sind Verhaltensstörungen bei Demenz oder wahnhafte Störungen, die nur im räumlich-personellen Umfeld eines Pflegeheims bzw. der Häuslichkeit, nicht aber in der Klinik auftreten. Gerade bei Menschen mit Demenz und einer Verhaltensstörung bedarf es häufig einer Anpassung der häuslichen Umgebung bzw. der Beratung bezüglich der Interaktion der zu Hause pflegenden Personen mit dem Patienten. Diese hochindividuelle psychosoziale Betrachtung ist bei einer stationären Krankenhausbehandlung häufig nicht möglich. Vielfach bedingt die nicht mehr zu leistende häusliche Pflege die Aufnahme in eine vollstationäre Pflegeeinrichtung. Durch eine multiprofessionelle StäB kann diese ggf. abgewendet werden. Außerdem wird durch eine gewisse „Gate-keeper-Funktion“ ggf. eine Entlastung vom sehr hohen Aufnahmedruck bei Vollbelegung und von langen Wartezeiten auf eine Elektivbehandlung erzielt werden. Ein wichtiger Nebeneffekt besteht u. a. darin, die Klinikverweildauer zu verkürzen, indem Patienten nach Ende einer akut eigen- oder fremdgefährdenden Situation zur weiteren Akutbehandlung aus der Klinik in die StäB verlegt werden.

Stationsäquivalente Behandlung ist dabei im Heimbereich und auch in der Privatwohnung möglich, unter der Voraussetzung, dass alle Beteiligten (Patient, Betreuer/Bevollmächtigter und Heim bzw. Mitbewohner in der Privatwohnung) zustimmen. Eine stationäre Einweisung durch Haus- oder Facharzt, ggf. auch einen Bereitschaftsdienst, muss vorliegen. Vorab unbedingt zu prüfen und zu dokumentieren ist, ob das Umfeld für die StäB geeignet ist. Ungeeignet sind Settings etwa bei massiven Hygienebedenken oder fehlender Basisversorgung. In begrenztem Umfang können Pflegedienste von StäB beauftragt werden, Grundpflege zu übernehmen, wobei eine Verordnung häuslicher Pflege zulasten der Krankenkasse nach SGB V während der StäB nicht möglich ist. Allerdings erschweren interpretatorische Divergenzen mitunter die sichere Abrechenbarkeit mit den Krankenkassen. Formal können bis zu 50 % der Leistungen auch externalisiert werden, indem z. B. ein Internist oder Physiotherapeut die Mitbehandlung der StäB-Patienten übernimmt und mit StäB abrechnet. Diese Kosten können später mit den Kostenträgern verrechnet werden, wobei das Risiko beim Krankenhausträger verbleibt.

Stationsäquivalente Behandlung in der Gerontopsychiatrie am Klinikum Stuttgart

Struktur und Organisation

In der Behandlung befinden sich Patienten ab ca. 65 Jahre mit einer akuten psychiatrischen Erkrankung, die das Kriterium der akuten Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit erfüllt. Patienten mit einer Demenzerkrankung und akutem Delir oder schweren Verhaltensauffälligkeiten werden ebenso behandelt wie Patienten mit schweren Depressionen oder akuten psychotischen Erkrankungen. Grundlage der Behandlung ist ein personzentrierter Behandlungsansatz mit vorbehaltloser Wertschätzung des Patienten, bedingungsloser positiver Zuwendung und Empathie. Grundprinzipien der Professionalität im Umgang mit Delir und Demenz werden umgesetzt [13]. Dadurch soll den Patienten ermöglicht werden – ggf. mithilfe der Behandelnden – ihre Ressourcen zu nutzen, um eine Stabilisierung der akuten Krankheitsphase zu erzielen.

Eine ärztliche Einweisung aus der die Akuität des vollstationären Behandlungsbedarfes auch deutlich hervorgeht, ist Voraussetzung für die Aufnahme in StäB. Hausarzt und ambulant behandelnder Psychiater bzw. Neurologe sollten umgehend über den bevorstehenden Beginn der StäB informiert werden, da während einer StäB keine ambulanten Behandlungen parallel stattfinden dürfen. Dies geschieht durch ein Informationsschreiben. Bei der gesetzlich geforderten dritten Berufsgruppe handelt es sich um eine Ergotherapeutin. Im Bedarfsfall kann auch eine Sozialarbeiterin hinzugezogen werden. Da im Raum Stuttgart gerontopsychiatrische Beratungsstellen mit hoher sozialarbeiterischer Kompetenz und Quartierkenntnis bestehen, deren Mitarbeiter auch Hausbesuche vornehmen, kann häufig auf deren Beratung und Unterstützung zurückgegriffen werden.

Bei länger als 6 Tage währenden Behandlungen wird wöchentlich eine multiprofessionelle Fallbesprechung durchgeführt. Eine tägliche Visite beim Patienten durch ein Teammitglied ist zu gewährleisten, wobei mindestens einmal pro Woche eine ärztliche Visite stattfinden muss. Zur Sicherstellung der Behandlung muss werktags mindestens ein Teammitglied während des Tagdienstes erreichbar sein und außerdem eine jederzeitige, d. h. an 7 Tagen pro Woche über 24 h bestehende, ärztliche Interventionsmöglichkeit vorgehalten werden bzw. im Notfall auch eine sofortige vollstationäre Aufnahme gewährleistet sein. Das Team umfasst 6,15 Vollzeitkräfte (VK) gerontopsychiatrisch erfahrener Fachpflegekräfte, 1,4 Arztstellen, den Sozialdienst mit 0,2 VK und 0,4 ergotherapeutische VK. Physiotherapie wird derzeit durch externe Praxen geleistet. Wichtig ist die enge Verzahnung mit der erfahrenen Behandlungs- und Aufnahmekoordinatorin. Jede akute Aufnahmeanfrage wird so primär daraufhin überprüft, ob aktuell eine StäB möglich und sinnvoll wäre.

Eine Übersicht über Bedingungen und Abläufe der StäB gibt Abb. 1.

Abb. 1
figure 1

Aufnahme und Behandlungsablauf im multiprofessionellen Team der stationsäquivalenten Behandlung. HH Haushalt, PH Pflegeheim, KH Krankenhaus. Der jeweilige Paragraf verweist auf den entsprechenden Abschnitt des novellierten SGB V

Behandlungszahlen 2018–2019

Im Jahr 2018 wurden insgesamt 82 Patienten in StäB behandelt, 2019 wurden bereits 103 und im laufenden Jahr (Stand Okt. 2020) bislang 79 Fälle betreut. Die Zahl der Behandlungsplätze hat sich dabei im Oktober 2019 von 8 auf 10 erhöht, wobei bislang selten alle Plätze zugleich belegt waren. Die durchschnittliche Verweildauer betrug im Median 15,6 Tage (1 bis 62 Tage). Die meisten der 2019 betreuten Patienten (n = 103) wurden direkt in StäB aufgenommen (68 von 103 Patienten = 66,1 %), während 33,9 % aus stationärer Klinikbehandlung zur akuten Weiterbehandlung in StäB verlegt wurden. Die Mehrheit der Patienten wurde im Pflegeheim behandelt (61 %), 39 % in Privatwohnungen. Bei 88 der 2019 betreuten Patienten (85 %) konnte die Behandlung regulär beendet werden. Neben 2 Behandlungsabbrüchen musste in 10 Fällen (10 %) eine Verlegung in die Somatik vorgenommen werden. Nur in 3 Fällen (3 %) war eine Verlegung in die gerontopsychiatrische Klinik nötig. Die Verteilung der psychiatrischen Diagnosen (nach ICD-10) im Behandlungszeitraum 2018–2019 kann Abb. 2 entnommen werden. Patienten mit akuten Abhängigkeitserkrankungen werden zumeist in der Klinik für Suchtmedizin behandelt und nur bei Multimorbidität ins gerontopsychiatrische Setting aufgenommen.

Abb. 2
figure 2

Häufigkeitsverteilung psychiatrischer Hauptdiagnosen in der stationsäquivalenten Behandlung (StäB) der Gerontopsychiatrie am Klinikum Stuttgart 2018–2019 (n = 185). Im Kreisdiagramm die Fallzahlen, in der Legende in Klammern die prozentualen Anteile. Abhängigkeitserkrankungen wurden bislang nicht im Rahmen einer StäB behandelt

Bemerkenswert ist, dass Demenzerkrankungen insgesamt 148 der 185 Patienten betrafen, (80 %). Sie sind die entscheidende organische Ursache für die organisch-wahnhaften, organisch-affektiven und anderen Verhaltensstörungen, die zur akuten Behandlungsbedürftigkeit führen. Patienten mit Delir bei Demenz sowie mit Verhaltensstörung bei Demenz stellen den überwiegenden Teil der in gerontopsychiatrischer StäB behandelten Klientel dar. Entsprechende Expertise für Delirursachen und -behandlung im somatischen Bereich sowie auch für den Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen unter sehr vorsichtiger Psychopharmakotherapie sind für das Team daher unerlässlich. Affektive Störungen umfassen depressive Episoden, darüber hinaus bestehen bei einigen Patienten Angsterkrankungen und Zwangsstörungen. Insbesondere hier wird eine verhaltenstherapeutische Expertise erwartet und aktuell im Team weiter ausgebaut.

Die StäB zeigt sich bis dato als wohl weitgehend kostendeckende Behandlungsalternative, wenn eine zeitaufwandsabhängige Abrechnung mit Fahrzeitpauschale und zusätzlichen täglichen Verwaltungs- und Sachpauschalen zugrunde gelegt wird. Im Jahr 2018 konnten 1375 Behandlungstage geleistet werden. In der Zwischenzeit konnte eine leistungsbezogene Vergütung mit den Krankenkassen verhandelt werden, sodass der durchschnittliche Tageserlös derzeit etwas höher als die gesetzlich garantierten 200 € ist. Für eine genauere Einschätzung sind Berechnungen der Fahrtkosten und -zeiten, der Rufbereitschaften und erforderlicher Investitionen für Büroausstattung und Logistik nötig. Pflegende in StäB bringen zudem eine hohe Expertise (Bachelor-Niveau) auf, die honoriert werden muss (z. B. Entgeltgruppe 9), verzichten aber gleichzeitig auf Nachtdienstzuschläge, wenn sie vollständig in der StäB arbeiten. Eine detaillierte und valide ökonomische Gesamtbewertung von StäB an sich und umso mehr gerontopsychiatrischer StäB steht aufgrund der Vielzahl von ökonomischen Einflussfaktoren, aber auch der Akzeptanz [14] der Behandlungsform durch Kranken- und Pflegekassen, Patienten, Angehörige und Pflegeeinrichtungen noch aus [15] Modellprojekte beziehen sich insbesondere auf schizophrene Krankheitsbilder [16, 17] und fokussieren mehr inhaltliche als ökonomische Vorteile [18]; neueste angloamerikanische Forschung weist hier auf eine Kosteneffizienz unter Berechnung der lebensqualitätsadjustierten Lebensjahre (QUALY) hin [19]. Diese Studie weist aber auch auf die Herausforderung einer solchen Evaluation hin, in der neben den akuten Effekten wie Behandlungsdauer auch langfristige Evaluation von QUALY, Wiederaufnahmen, Pflegeaufwand, Autonomie, Demenzentwicklung, Belastung pflegender Angehöriger etc. miteinbezogen werden müssten.

Grenzen der zugehenden Arbeit

Die Möglichkeit einer stationsäquivalenten Behandlung im Wohnumfeld stößt da an Grenzen, wo der Hilfebedarf die Möglichkeiten übersteigt. Nächtliche Unruhe bei vaskulärer Demenz z. B. kann selbst gut organisierte Hilfesettings überfordern und daher den Umzug in eine Pflegeeinrichtung erforderlich machen [20]. Bei plötzlichem Wegfall von die Grundversorgung sichernden Angehörigen muss eine StäB meist beendet werden. Das StäB-Team der Gerontopsychiatrie am Klinikum Stuttgart hat allerdings Setting-Wechsel ins Pflegeheim begleitet und durch Behandlungskontinuität personzentrierte Behandlungsansätze unter Beachtung individueller Patientenbedürfnisse an Pflegeteams weitergegeben und vor Ort geschult.

In Pflegeheimen besteht nach wie vor ein eklatanter Mangel an Pflegekräften. Deshalb sind Handlungsempfehlungen wie 1:1-Begleitung, empathisches Zuhören und begleitete Mobilisation unruhiger Patienten mit Demenz zwar leitliniengerecht [21], jedoch oft nicht umsetzbar. Behutsames Vorgehen bei der Behandlungsübernahme im Heimbereich ist erforderlich, um bei den Pflegenden vor Ort keine Abwehrreaktionen hervorzurufen. Eine gemeinsame Erarbeitung zielführender Verhaltenskonzepte wird aber gern angenommen, kann sedierende Medikation vermeiden und ermöglicht Patienten eine deutlich verbesserte Lebensqualität durch die Behandlung. Nur in Einzelfällen waren vollstationäre Behandlungen im Krankenhaus unvermeidbar, ein Pflegeheimwechsel erforderlich oder haben inhaltliche Diskrepanzen zwischen professionell zu fordernder Arbeit und der Bereitschaft und Fähigkeit, diese umzusetzen, schon zu einvernehmlichen Beendigungen der StäB geführt.

Bei der Etablierung einer StäB im gerontopsychiatrischen Bereich stellen sich besondere Herausforderungen aufgrund der häufig bestehenden Multimorbidität der Patienten. Diesen gilt es, z. B. bei der Auswahl des notwendigen Equipments ebenso Rechnung zu tragen wie in der Zusammenstellung des Behandlungsteams. Eine Vermeidung von Ortswechseln bedeutet für die somatische Diagnostik, dass diese, soweit wie möglich, im Umfeld des Patienten erfolgen muss. Zur Grundausstattung gehören deshalb ein mobiles EKG-Gerät ebenso wie ein Ultraschallgerät für die nicht-invasive Messung des Harnvolumens in der Blase sowie Equipment für Blutentnahmen. Die Messungen der Sauerstoffsättigung und weiterer Vitalparameter werden bereits standardmäßig im ambulanten Setting durchgeführt. Eine ärztliche Notfalltasche mit Standardmedikation und Infusionsflasche nebst -besteck wird mitgeführt. Allerdings stellen akute somatische Dekompensationen wie Stürze, kardiale oder akut-neurologische Symptome Gründe für eine Notfallverlegung aus der StäB in die Klinik dar. Pflegerische Teammitglieder begleiten dabei, wenn irgend möglich, Patienten in die Notaufnahme und können eine hochqualifizierte multimodale Übergabe sichern. Teammitglieder sollten unabhängig von der Berufsgruppe Handlungsfähigkeit mitbringen. Anders als in der Klinik müssen somatische Notfälle primär auch ohne einen anwesenden Arzt sicher erkannt und nach Rücksprache behandelt werden. Es gilt im Vorfeld zu klären, wer die ärztliche Bereitschaft nachts und am Wochenende sicherstellt.

Grenzen sind auch logistischer Natur. So muss im Einzelfall entschieden werden, ob die Aufnahme eines weiteren Patienten möglich ist. Die geografische Lage des Behandlungsortes ist dabei entscheidend; die Fahrtzeit sollte pro Weg 40 min nicht überschreiten, da sonst Fahrtwege und Behandlungszeiten in einem ungünstigen Verhältnis stehen. Die Herausforderung besteht darin, dass ggf. ein weiter Anfahrtsweg dann akzeptabel ist, wenn sich in der Nähe des betreffenden Patienten mehrere weitere Behandlungsorte befinden, sodass die Weiterfahrt dann entsprechend kürzer zu veranschlagen ist. Dies gilt insbesondere für 2 in derselben Heimeinrichtung zu Behandelnde. Eine Zerstreuung der Behandlungsorte auf verschiedene Randgebiete der Stadt ist bei recht zentraler Lage des StäB-Büro-Standorts am Krankenhaus Bad Cannstatt zu vermeiden. Mangels Alternativen der Mobilität ist im großstädtischen Umfeld eine Erreichbarkeit per öffentlichem Personennahverkehr (ÖPNV) oder E‑bike als Voraussetzung für die StäB anzusehen.

Psychosoziale Faktoren können bestgestaltete Versorgungssettings verunmöglichen [20]. So kann es primär zur Ablehnung von StäB trotz klarer medizinischer Indikation kommen, wenn dysfunktionale (z. B. dauerhaft fehlende Mitwirkungsbereitschaft der Angehörigen) oder biografisch bedingte Beweggründe (z. B. entsprechend früherer Kriegserfahrungen, nach denen das Eindringen von Fremden in die eigene Häuslichkeit als Zwang erlebt wird) im Vordergrund stehen. Angehörige lehnen StäB mitunter ab, weil deren Hauptziel (bei Überforderung) ist, dass der Betroffene nicht weiter zu Hause wohnt. Da (insbesondere geschützte) Heimplätze immense Wartezeiten aufweisen, wird zur Überbrückung manchmal eine stationäre Klinikaufnahme angestrebt. Auch bei fremdaggressivem Verhalten von Heimbewohnern steht manchmal der Wunsch nach räumlicher Trennung vor dem Wunsch einer Behandlung der Verhaltensstörung vor Ort. Auch andere Einstellungen, wie etwa die, dass kein Fremder das Haus betreten darf, beeinflussen eine Ablehnung von StäB. Wenn zusätzlich die Sorge vor einer Infektion besteht, wird die Arbeit der StäB nicht selten unmöglich, wie die folgenden Ausführungen zeigen.

Herausforderungen der Coronapandemie im Frühjahr 2020

Die Fallzahlen der beiden Vorjahre sind im ersten und zweiten Quartal 2020 deutlich eingebrochen. Pflegeheime wurden für Besucher gesperrt, woraus zahlreiche Heimleitungen auch einen Besuchsstopp für StäB-Mitarbeiter ableiteten. Ärztliche Behandlung war Notfällen vorbehalten. In der epidemiologisch unsicheren Gemengelage im März und im April 2020 galt es zudem, Mitarbeiter der StäB zu schützen und sie nicht durch Heimbesuche einem hohen Risiko für eine Infektion mit dem „severe acute respiratory syndrome coronavirus 2“ (SARS-CoV-2) auszusetzen. Hinzu kam die Sorge, die Infektion bei notwendigen Besuchen mehrerer Bewohner und auch Privatpersonen durch das Behandlungsteam zu verbreiten. Zeitweise lagen „Filtering-Face-Piece-2“(FFP2)-Masken und Mundschutz nur in sehr begrenzter Menge vor, sodass entschieden wurde, StäB für Heimpatienten bis auf Weiteres nicht mehr anzubieten und laufende Behandlungen in Heimen – auch auf Wunsch der Heimleitungen – rasch zu beenden. Im Gegenzug wurden vorübergehend mehr (abstrichgesicherte, SARS-CoV-2-negative) Patienten in der Häuslichkeit versorgt. Dies stellte für die Heimbewohner einen deutlichen Nachteil dar, insbesondere für psychisch besonders belastete Patienten, die an der Einsamkeit aufgrund der Besuchsverbote litten. Die Behandlungszahl sank auf etwa die Hälfte der möglichen Behandlungsplätze (5 von 10), zumal auch Patienten in Privatwohnungen zunehmend Sorge vor Infektionen durch Besuche der drei Berufsgruppen hatten und Behandlungen daher kritisch sahen. Diese Gesamtsituation führte unweigerlich zu mehr Aufnahmedruck für eine stationär-gerontopsychiatrische Behandlung, wobei zugleich in der Klinik Isolierbereiche vorzuhalten waren, für mögliche Behandlungen von Patienten mit einer „coronavirus disease 2019“ (COVID-19) bei damals völlig unklarer Dynamik des Infektionsgeschehens.

In dieser Zeit bemühten sich das StäB-Team und die Ambulanz der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie für Ältere am Klinikum Stuttgart über eine enge Kooperation mit dem Gesundheitsamt und Mitarbeit im Stuttgarter Arbeitskreis „COVID & Geriatrie“ um einen engen internetbasierten und telefonischen Kontakt zu den Pflegeheimen. So konnten Telefonsprechstunden, Webinare und eine Telefonhotline mit einem COVID-Board für Pflegeheime und Hausärzte gemeinsam mit der interdisziplinären Notaufnahme angeboten werden. Diese leistete eine interdisziplinäre und multiprofessionelle Beratung hinsichtlich der Indikation zur Notfallvorstellung im Krankenhaus, zu Bedingungen der Rückübernahme sowie zu ethischen Fragen. Auch bestand ein intensives Engagement, Infektionsschutz und Besuchsverbote angemessen zu gestalten [22] und so den psychosozialen Bedürfnissen Älterer Gehör zu verschaffen. Die STäB setzte sich auch für die Eröffnung eines Behelfspflegeheimes in einem (wegen Reiseverboten leer stehenden) Hotel ein, um dort bis zu 25 gerontopsychiatrische Patienten durch das erfahrene Team zu behandeln, deren Rückkehr ins Pflegeheim während der Coronahochphase nicht möglich war, da diese keine Quarantäne einhalten konnten. Zur entsprechenden Einrichtung kam es allerdings nicht; es gelang mithilfe des Gesundheitsamts, die starren Rückkehrauflagen anzupassen und beiderseitige Hygienebedingungen für Behandlungen vor Ort mit den Pflegeheimen zu vereinbaren.

Sobald Pflegeheime die Besuche des StäB-Teams und die ambulanten Heimvisiten ab Ende Mai 2020 wieder zuließen, konnte die Behandlung mit zunächst reduzierten, sich aber rasch normalisierenden Behandlungszahlen fortgesetzt werden. Die Angst vor größeren, dann kaum beherrschbaren Ausbrüchen von SARS-CoV-2-Infektionen ist in den Heimen bis dato immens. Dies ist vor dem Hintergrund eines krankheitsbedingt oft mangelnden Hygieneverständnisses seitens der Bewohner mit Demenz, aber auch der teilweise mangelnden Kooperation von Besuchern gut verständlich. Andererseits wurden die erheblichen psychischen Belastungen der Isolation und Deprivation der Heimbewohner in diesen Wochen deutlich. Ein Mangel an psychiatrischer und seelsorgerischer Begleitung von Pflegeheimbewohnern wurde beklagt [22]. Mittelfristig sprechen aktuelle Studien aus England dafür, dass die Folgeschäden überstandener COVID-19 zahlreiche psychiatrische Erkrankungen einschließen können [23]. In Anbetracht der Tatsache, dass v. a. multimorbide ältere Menschen zur Hochrisikogruppe für eine schwer verlaufende SARS-CoV-2-Infektion gehören und gerade Delirien bei dieser Klientel sehr häufig sind, darf davon ausgegangen werden, dass die gerontopsychiatrische Behandlungsklientel auch durch COVID-19 wachsen wird.

Fazit für die Praxis

  • Eine stationsäquivalente Behandlung (StäB) stellt eine für gerontopsychiatrische Patienten zu bevorzugende Behandlungsform dar, wenn Umfeld und Erreichbarkeit passend sind.

  • Multiprofessionelle Behandlungsteams benötigen eine mehrjährige Expertise in akutstationärer gerontopsychiatrischer Behandlung mit einem geriatrischen Schwerpunkt, insbesondere zur Erkennung und zur Behandlung somatischer Delirursachen.

  • Der logistische und Dokumentationsaufwand ist aufgrund bestehender Bestimmungen hoch.

  • Eine endgültige, alle materiellen und immateriellen Kosten einbeziehende Beurteilung von StäB unter ökonomischen Aspekten steht aus. Festzustellen ist ein hohes ideelles Engagement der Mitarbeiter aufgrund der Erfahrung, wie therapeutisch zielführend und patientennah eine StäB sein kann.

  • Die Coronapandemie hat den Zugang in Heimbereiche zeitweilig unmöglich gemacht und Versorgungsdefizite dort verschärft. Die schwierige Abwägung zwischen dem Wunsch nach der Fortsetzung zugehender Arbeit einerseits und dem infektiologischen Risiko für die behandelten Patienten und die Mitarbeiter durch die Besuche wurde erfolgreich geleistet.