In den letzten Jahren lässt sich ein wachsendes Interesse an den Auswirkungen der therapeutischen Arbeit auf die Behandelnden konstatieren. Neben dem Burnout ist dabei zunehmend auch die sekundäre Traumatisierung als Spezifikum traumatherapeutischer Arbeit in den Blick geraten. Unter sekundärer Traumatisierung versteht man die „Ansteckung“ mit typischen posttraumatischen Symptomen im Verlauf der Arbeit mit traumatisierten Klientinnen. Es handelt sich dabei also um eine „übertragene“ Traumatisierung, die zustande kommt, obwohl die Therapeutin nicht selbst mit dem traumatisierenden Ereignis konfrontiert ist. Zur Beschreibung dieses Vorgangs sind in der wissenschaftlichen Literatur unterschiedliche Begriffe mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen gebräuchlich (z. B. „compassion fatigue“ oder „vicarious traumatization“).

Im Weiteren wird der Oberbegriff sekundäre Traumatisierung verwendet, um das Phänomen schulenübergreifend beschreiben zu können. Mittlerweile ist das Risiko einer solchen sekundären Traumatisierung auch bei einigen Berufsverbänden anerkannt. Auch neuere deutschsprachige Lehrbücher enthalten Beschreibungen der sekundären Traumatisierung bzw. Anleitungen zur Psychohygiene (z. B. Huber 2004; Sachsse 2004). Diese Empfehlungen stützen sich jedoch hauptsächlich auf klinische Erfahrungen und eine sehr beschränkte theoretische Basis (Wilson u. Lindy 1994; Figley 1995; Pearlman u. Saakvitne 1995). Die wenigen empirischen Studien konvergieren nicht ausreichend und haben bisher keine Grundlage geboten, Aussagen über Risiko- und Schutzfaktoren zu treffen.

Definition

Sekundäre Traumatisierung wurde als eine Traumatisierung, die ohne direkte sensorische Eindrücke des Ausgangstraumas und mit zeitlicher Distanz zum Ausgangstrauma entsteht, definiert (Daniels 2003). Dieser Gruppe sind die Übertragung posttraumatischer Stresssymptome auf Familienangehörige (z. B. Dekel u. Solomon 2006) und die berufsbedingte Traumatisierung von Therapeutinnen zuzuordnen (z. B. Pearlman u. Mac Ian 1995; Birck 2001; Dickes 2001; Jenkins u. Baird 2002; McLean et al. 2006; Kadambi u. Truscott 2004). Obwohl diese Personen also selber keine sensorischen Reize des traumatisierenden Ereignisses (wie Gerüche, Geräusche, Bilder) wahrnehmen, kommt es in der Folge einer traumatischen Verarbeitung von Informationen zu Intrusionen. Dies ist überraschend, da sich die therapeutische Situation in den Dimensionen Vorhersehbarkeit, Kontrolle und Wissen deutlich von der Situation primärer Traumaopfer unterscheidet:

1. Während primäre Traumaopfer das traumatisierende Ereignis oft nicht vorhersehen können, wissen Therapeutinnen sehr genau, wann eine therapeutische Sitzung stattfindet, in der Traumamaterial berichtet werden könnte. (Die meisten Therapeutinnen werden zudem die Therapie so strukturieren, dass sie Traumamaterial nur in spezifischen Sitzungen eingehender bearbeiten.)

2. Während primäre Traumaopfer zumeist den Verlauf des traumatisierenden Ereignisses wenig beeinflussen können, sind Therapeutinnen in der Lage, den Verlauf der Sitzung mit einer Reihe therapeutischer Techniken zu beeinflussen. (Zwar gibt es dennoch Situationen, in denen sich Therapeutinnen hilflos fühlen, z. B. bei starken Abreaktionen oder lang dauernden Dissoziationen. Dieses Hilflosigkeitserleben ist jedoch sicherlich nicht dem von primären Traumaopfern gleichzustellen.)

3. Auch hinsichtlich der Bewältigung eines traumatisierenden Ereignisses unterscheiden sich Therapeutinnen von primären Traumaopfern, da sie in der Lage sind die auftretenden posttraumatischen Symptome auf der Basis ihres Fachwissens als solche zu erkennen und auf diese zu reagieren.

Fragestellung

Bedenkt man also, dass die Therapeutinnen keine eigenen sensorischen Eindrücke haben, sondern das Traumamaterial nur durch die Klientin vermittelt bekommen und die Belastung mit Traumamaterial vorhersehen sowie regulieren können, so ist es verwunderlich, dass sie dennoch Informationen traumatisch verarbeiten und in der Folge posttraumatische Symptome entwickeln sollen. Die bisher veröffentlichten empirischen Untersuchungen bedienten sich quantitativer Instrumente (Weiss u. Marmar 1995; Pearlman 1996; Stamm 1998), die lediglich auf theoretischen Überlegungen basieren. Ob die beschriebenen Symptome tatsächlich eine klinische Beeinträchtigung darstellen, wurde jedoch bisher nicht überprüft. Um also abschätzen zu können, ob die Symptome in Inhalt und Intensität den posttraumatischen Symptomen gleichzustellen sind, schien es geboten, die Betroffenen direkt zu ihren Erfahrungen zu befragen. Dazu wurde eine explorative Interviewstudie durchgeführt.

Methodik

Für die Interviews wurde ein Leitfaden konstruiert, der die wesentlichen thematischen Aspekte integrierte, die sowohl aus den theoretischen Modellen als auch den zuvor analysierten quantitativen Daten extrahiert wurden. Der Leitfaden wurde thematisch so strukturiert, dass eine umfassende Symptombeschreibung evoziert wurde. Das Interview wurde mit der offenen Frage eingeleitet, ob die Person „Phasen erlebt hat, in denen sie sich durch die Arbeit mit traumatisierten Menschen belastet gefühlt hat“. Die erlebte Belastung sollte auf der Symptomebene zunächst umrissen werden. Die genannten Symptomgruppen wurden dann strukturiert mit dem Leitfaden erfasst. Es wurden 21 betroffene Therapeutinnen zu Symptomen, Verlauf und Entstehungsbedingungen der sekundären Traumatisierung befragt (Beschreibung der Stichprobe in Tab. 1). Die Interviews wurden aufgezeichnet und inhaltswörtlich transkribiert sowie anonymisiert. Dieser Text bildete die Grundlage der kodierenden Analyse. Dazu wurden zunächst Kategorien aus den Interviews selbst entwickelt. Wo dies möglich war, wurden diese dann in einem zweiten Schritt in die Diagnosekriterien der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS; American Psychiatric Association 2001) überführt. Dieses Verfahren schien in besonderem Maß geeignet, die Parallelität von PTBS und sekundärer Traumatisierung zu überprüfen. Die in dieser Studie validierte Symptomatik wurde dann der Entwicklung eines Screeningfragebogens zugrunde gelegt.

Tab. 1 Stichprobenbeschreibung (n=21)

Ergebnisse

Es sollen nun zunächst diejenigen Symptombereiche exemplarisch dargestellt werden, die sich parallel zu der primären Symptomatik gestalten und sich in die PTBS-Symptomcluster eingliedern lassen.

Posttraumatische Symptome

„Hyperarousal“

Unter dieser Kategorie werden überdauernde Angstsymptome oder Indikatoren eines dauerhaft erhöhten Erregungslevels zusammengefasst:

Interviewpartnerin 8: „Nicht einschlafen können … manchmal ist es dann denken, manchmal ist es auch einfach so höher drehen, insgesamt erregter sein. So was wie ein Wachheitszustand.“

Interviewpartnerin 9: „Ja, also geringe Belastbarkeit gekoppelt mit dieser anderen Seite, dass man selber schneller aggressiv wird, schnell was abwimmelt oder patzig wird.“

Interviewpartnerin 1: „Vielleicht noch mal in Bezug auf Konzentrationsfähigkeit – das fand ich damals total heftig, das fand ich richtig schlimm: Im Keller zu stehen und nicht mehr zu wissen, was man hoch holen will, so bei ganz kleinen alltäglichen Geschichten, wie Termine auszumachen – also, ich bin ja, also, wenn ich einen Termin ausmache, dann bin ich auch da. Und das ist natürlich peinlich, … und auch gar nicht so ‚ach, das hatte ich ganz vergessen’, sondern das ist so gar nicht abgespeichert worden. Das fand ich ganz beängstigend.“

Interviewpartnerin 23: „Aber es war schon eine erhöhte Aufmerksamkeit, ständig, bei Geräuschen, so eine ständige Übererregung.“

Vermeidung

Dieses Symptomcluster umfasst zum einen Verhaltensweisen, die bewusst dazu dienen Reize zu vermeiden, die mit dem Trauma assoziiert sind. Zum anderen umfasst es eine Abflachung der allgemeinen Reagibilität, wie Interessensverlust und Entfremdung:

Interviewpartnerin 5: „Ja. Es gibt so etwas – XXX. Das war für mich so ein Ort, der klar benannt wurde. Das war eigentlich ein schöner Ort zum Spazieren gehen. Da gehe ich heute noch nicht spazieren … Das vermeid’ ich. Da hab ich das Gefühl – nee – dann drängt es sich mir auf und da kann ich nicht entspannt spazieren gehen.“

Interviewpartnerin 23: „Aber dass ich mich mit jemandem getroffen habe, war nicht mehr, privat über irgendwas Nettes reden oder ins Kino gehen, war alles nicht mehr.“

Interviewpartnerin 3: „Auch so mit so einem Gefühl, es gibt Bereiche, das wollen andere nicht hören oder das sind Erfahrungen, die ich ganz schwer teilen kann … Diese Auseinandersetzung damit, dass es solche, … Dinge gibt, die nicht mitteilbar sind oder nur ganz gezielt mitteilbar sind. Das hat schon eher einen sozialen Rückzug bewirkt bei mir.“

Interviewpartnerin 16: „Ja, das habe ich auch in den anderen Therapiesitzungen gemerkt, dass ich überhaupt nicht mehr mitgefühlt habe, ich war einfach nur – hoffentlich ist die Stunde bald vorbei –, und es hat mich nicht mehr wirklich interessiert, was los ist.“

Intrusion

Das Symptomcluster Intrusion bildet das Leitsymptom der PTBS. Es umfasst verschiedene Formen des Wiedererlebens sowie psychische oder physiologische Belastungsreaktionen auf Hinweisreize. Auch von den befragten Therapeutinnen wurde das bildhafte Wiedererleben des Traumamaterials der Klientin am häufigsten genannt, wobei dies oft unwillkürlich und unkontrollierbar auftrat. Bei dieser Form von Intrusion befanden sich die Therapeutinnen nicht mit im Bild, beschrieben dies aber qualitativ als sehr nah. Träume, in denen das Trauma wiedererlebt wurde, waren etwas seltener. Im Gegensatz zu den Intrusionen im Wachzustand gaben die interviewten Kolleginnen jedoch an, sich dabei mit dem Opfer identifiziert zu haben. Handelte es sich bei dem Ausgangstrauma der Klientin um sexualisierte Gewalt, so kam es oft auch bei den Therapeutinnen zu Veränderungen in der Sexualität:

Interviewpartnerin 8: „Also z. B. ich sehe ein kleines Mädchen, so ein normales fröhliches kleines Mädchen, mit blonden Locken, und dann kam diese Bild, was jetzt mit diesem Mädchen passiert. Kommt ein Mann und nimmt das Mädchen. Das Mädchen hatte gar nichts damit zu tun. Das war ein ganz anderes Mädchen, ein real herumlaufendes Mädchen, das hat dann auf einmal dieses andere Gesicht bekommen.“

Interviewpartnerin 4: „Und letztlich sind mir diese Verwundungen am Körper, also, wie die zustande gekommen sind, also, das habe ich dann geträumt … Es war körperlicher Schmerz, unerträglicher körperlicher Schmerz, über den ich dann auch aufgewacht bin. Ein maßloses, wirklich maßloses Entsetzen. Ein Gefühl absoluter Hilflosigkeit und Einsamkeit.“

Interviewpartnerin 24: „Wenn Intimität mit meinem Partner war, tauchten die Bilder auf und haben mich ziemlich abgetörnt. Und das war auch schwer rauszukriegen. Das hat insgesamt mein Interesse an Sexualität verringert zu der Zeit, und in Momenten, wenn es dann da war, pfuschten die Bilder dazwischen. Das war sehr störend und sehr belastend.“

Interviewpartnerin 23: „… oder wenn eine Entspannung angefangen hatte und es ging in Richtung Sexualität, kamen sofort Bilder, und dann war die Entspannung schon wieder weg. Also, das war so ein Teufelskreis.“

Komorbide Symptome

Neben den PTBS-ähnlichen Symptomen wurden jedoch auch Symptome beschrieben, die sich nicht ohne Weiteres in die Diagnose der PTBS eingliedern lassen, sondern Bereiche abbilden, die komorbid auftreten.

Depressive Verarbeitung

So wurden Anzeichen für eine depressive Verarbeitung genannt:

Interviewpartnerin 6: „Ich krieg dann so was von Hoffnungslosigkeit. Also, warum mach ich das alles. Und: Das bringt doch alles nichts und das ändert nichts. Und … ja so diese Hoffnungslosigkeit.“

Interviewpartnerin 21: „Ich konnte nicht mehr, ich war so erschöpft, ich konnte auch nicht mehr arbeiten, konnte mich nicht mehr konzentrieren, nichts ging mehr.“

Interviewpartnerin 7: „Ich wusste einfach nicht mehr weiter und habe mich damit befasst, wie ich mich am schnellsten um die Ecke bringen könnte. Ich war einfach am Ende. Und da war ich wirklich auch in Lebensgefahr, das muss ich wirklich so sagen, ich wusste nicht mehr weiter.“

Substanzgebrauch

Auch Substanzgebrauch tritt komorbid auf und wird oft als Selbstmedikation aufgefasst, die das Ziel hat, die Hyperarousalsymptomatik zu regulieren. Auch einige Therapeutinnen berichteten von solchem Verhalten:

Interviewpartnerin 13: „Mit Medikamenten. Ich habe mir ab und zu mal einen Tranquilizer gegönnt, wenn ich merkte, du kommst sonst gar nicht zur Ruhe.“

Interviewpartnerin 23: „Also mit Alkohol, so, dass ich versucht habe, abends immer Wein zu trinken, damit ich wenigstens einschlafen kann. Also, das wurde einfach regelmäßiger, ja, also so richtig ‚Ich trinke jetzt noch ein Glas Rotwein, dann kann ich besser einschlafen’“.

Entgrenzung

Zudem scheint das Thema „Trauma“ einen ganz eigenen Sog zu entwickeln: Einige Kolleginnen berichteten, davon so besetzt gewesen zu sein, dass sich die Balance zwischen Arbeit und Erholung nicht mehr aufrechterhalten ließ und es zu einer manifesten Entgrenzung kam:

Interviewpartnerin 10: „Aber sobald Pause war, war ich mit den beiden sozusagen beschäftigt. Auch Partnerschaft dann, sehr oft auch im Gespräch dann mit meinem Mann. Also bei der zweiten. Vorher war ich allein, da habe ich dann sogar mit den Kindern darüber gesprochen. Und mit einer Bekannten. Also sehr viele Gespräche zu dem Thema, das Abschalten war schwierig.“

Interviewpartnerin 23: „Ich hatte so ein Bedürfnis, ich habe mich Tag und Nacht mit diesem Thema beschäftigt, ich habe Fortbildungen besucht, bin durch die ganze Bundesrepublik gefahren und habe mich mit Leuten getroffen, habe Bücher gelesen ohne Ende, wirklich immer, wenn ich irgendwie Pause hatte, habe ich zu diesem Thema was gelesen, habe im Internet recherchiert und hatte das Gefühl: Es gibt nichts anderes mehr. Ich hatte keine Lust auf irgendein anderes Buch, ich hatte keine Lust auf irgendeinen Film, ich hatte keine Lust mit jemandem schön essen zu gehen – das war weg.“

Pseudopsychotisches Bedrohungserleben

Einige Kolleginnen beschrieben zudem ein ausgeprägtes Bedrohungsgefühl. Die hier aufgeführten Symptome befinden sich in einem diagnostischen Graubereich: Das Leitsymptom ist ein intensives Bedrohungsgefühl, das z. T. mit bildhaften Vorstellungen von Übergriffen einhergeht. Von der Qualität und der geringen Kontrollierbarkeit her erinnern diese Symptome an Wahngedanken und Paranoia. Der anderweitig adäquate Realitätsbezug grenzt sie jedoch von psychotischen Phänomenen ab:

Interviewpartnerin 9: „Wachsamer gucken, aber eben negativ. Ein bisschen misstrauischer sein nach außen. Dass man alles Mögliche vermutet, was da sein könnte. Und dass zusammenhangslose Informationen plötzlich Bedeutung kriegen, einen leichten Dreher reinkriegen. Und das ist so eine Kurbel, die man dann … also entweder ist man dann nicht mehr arbeitsfähig und steigert sich in alles rein, oder man grenzt sich besser ab.“

Interviewpartnerin 7: „Ich habe mich in meinem Alltag bedroht und verfolgt gefühlt … Da sind so etwas übermannshohe Büsche, Knöterich, ganz dicht ist das ja so. Und ich hatte plötzlich die Vision, da sitzt jemand drin und wartet nur ab, bis ich da komme, um mir einen über die Rübe zu hauen …“ Judith Daniels (JD): „Sie haben eben gesagt: ‚Und dann hatte ich so ein Bild, wie da sitzt einer im Gebüsch’ … War das wirklich ein Bild, war das wieder visuell oder war das eher ein Gedanke?“ Interviewpartnerin 7: „Das war, ne, das war eher ein Gedanke, aber das war so ein Gedanke wie so eine Gewissheit, ich weiß, da ist jemand und wartet nur darauf, mir was antun zu können, also dass die Luft rein ist dazu …“ JD: „Und würden Sie da auch wieder sagen, dass sich das sehr aufgedrängt hat? War das schwer zu kontrollieren?“ Interviewpartnerin 7: „Das war auch gar nicht zu kontrollieren.“

Das Bedrohungserleben führte in einigen Fällen zu einem Sicherheitsverhalten, das über das individuelle Maß vor der Belastungsphase hinausging:

Interviewpartnerin 16: „Also mir war schon immer klar, dass mir nichts passiert, aber … eher so wie, du musst gucken, dass dir niemand hinterherfährt, du musst gucken, dass du die Wohnung abschließt, die Fenster zumachst … und so halt so Sicherheitsverhalten – Wohnung abgeschlossen, meine Adresse geheim gehalten und alles.“

Auslöser und Risikofaktoren

Neben der Symptomatik beschrieben die Therapeutinnen verschiedene Faktoren, die sie post hoc als mögliche Vulnerabilitätsfaktoren oder Auslöser der sekundären Traumatisierung identifizierten. Dazu zählen dissoziative Zustände bei Therapeutin und Klientin sowie die Menge der Arbeitszeit. Als besonders bedeutsam erwies sich die peritraumatische Dissoziation seitens der Therapeutin:

Interviewpartnerin 21: „Ich dachte, dass es mir nichts macht, also, ich spüre nichts, also, emotional taub sein. Oder wenn ich es spürte, dann dachte, es gehört nicht zu mir, mich darüber hinwegsetzen.“ JD: „Manche Kolleginnen erzählen mir, dass sie in einen Zustand gehen von Dissoziation, wo sie das Gefühl haben: ‚Ich bin so wie auf Autopilot’.“ Interviewpartnerin 21: „Ja, das kann ich gut erkennen. Das ist ein Zustand, der ist dissoziativ. Also, da sein und doch nicht da sein, aufnehmen, also, das Körpergefühl ging dann auch weg. Auch so ganz im Kopf sein. Das war ganz anders.“

Interviewpartnerin 9: „… aber das passiert eben von selbst, und es gehen einem die inneren Steuermechanismen verloren dafür. Wer entscheidet, dass ich jetzt mit von außen gucke, wer entscheidet, dass ich jetzt hier nicht so eng dranbleibe, wer entscheidet, dass ich das eigentlich nicht gut verbal begleite? Was ist hier eigentlich los?“ JD: „… würden Sie sagen: Das war auch wie eine Dissoziation?“ Interviewpartnerin 9: „Dieses sehe ich so. Das sind Spontandissoziationen, die bei mir bei Überlastung auftreten. So ein Alarmzeichen – es ist zu viel gewesen.“

Diskussion

Die obigen Zitate belegen stellvertretend, dass die beschriebenen Symptome durchaus die Form der PTBS-Symptome aufweisen. Neben den Beschreibungen bestätigte vor allem auch die akute Belastung der Betroffenen, wenn sie über die Belastungsphase sprechen sollten, dass die Intensität der Symptome der von primären Traumaopfern gleichzustellen ist. Auch die beschriebenen Anzeichen für eine depressive Verarbeitung und Selbstmedikation finden sich bei primären Traumaopfern in der deutlichen Komorbidität der PTBS mit Sucht und Depression wieder.

Überraschend sind jene Symptomgruppen, die über PTBS-Symptome hinausreichen. Dabei scheint die Entgrenzung eines der Anfangssymptome der sekundären Traumatisierung darzustellen. Die intensiven Bedrohungsgefühle und das ausufernde Sicherheitsverhalten stellen Indikatoren einer schweren sekundären Traumatisierung dar. Sie wurden in der Interviewstudie ausschließlich von Personen berichtet, die mit Opfern rituellen Missbrauchs oder politischer Folter arbeiteten. (Eine epidemiologische Fragebogenstudie hat aber mittlerweile belegt, dass auch diese Symptome regelhaft auftreten und nicht als individuelle Extreme abzutun sind; Daniels 2006.)

Nicht nur die Symptome, sondern auch die Annahmen zur Ätiologie der sekundären Traumatisierung scheinen der der PTBS zu ähneln: Der relevanteste Risikofaktor ist in beiden Fällen die peritraumatische Dissoziation (Ozer et al. 2003). Mit neuropsychologischen Modellen lässt sich erklären, warum es in der therapeutischen, also äußerlich sicheren Situation zu einer traumatischen Verarbeitung kommen kann. Dazu tragen drei Prozesse bei, die im menschlichen Organismus angelegt sind: Empathie, „kindling“ und Dissoziation (Daniels 2008).

  • Ein hohes Maß an Empathiefähigkeit stellt sowohl eine notwendige Bedingung für die therapeutische Arbeit als auch einen Risikofaktor für die Entwicklung einer sekundären Traumatisierung dar. Sie ermöglicht die Übernahme von Emotionen, was wiederum zu

  • Kindling, einem Vorgang der Sensitivierung emotionsverarbeitender Gehirnregionen, führt. Dieses bedingt die

  • dissoziative Verarbeitung von Traumamaterial seitens der Therapeutin.

Fazit für die Praxis

Sekundäre Traumatisierung ist also nicht ein Zeichen mangelnder Professionalität, sondern ein Resultat ausgeprägter Empathiefähigkeit. Sie ist eine normale Reaktion auf unnormale Informationen – und sollte als solche nicht weiter einer professionsweiten Tabuisierung unterliegen.

Um das Risiko einer sekundären Traumatisierung zu verringern, scheint es jedoch geboten, die eigenen dissoziativen Verarbeitungsmechanismen steuern zu lernen. Eine regelmäßige Überprüfung der Belastung mit sekundärtraumatischen Symptomen kann einer Chronifizierung vorbeugen und sollte deshalb in die Supervision aufgenommen werden. (Mittlerweile wurde ein Fragebogen entwickelt, der alle oben beschrieben Symptome umfasst und in einer ersten Evaluation sehr gute Gütekriterien aufwies; download unter http://www.sekundärtraumatisierung.de.)