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Arbeitsgruppe der AWMF-Leitlinie Tuberkulose im Kindes- und Jugendalter: Diagnostik, Prävention und Therapie

Die Mitglieder der Arbeitsgruppe waren als Autorena an der Erarbeitung der Stellungnahme beteiligt:

F. Ahrens, M. Barker, C. Berger, L.D. Berthold, M. Bogyi, U. von Both, T. Frischer, P. Hartmann, D. Hillemann, W. Hirsch, K. Kranzer, F. Kunitz, A. Pizzulli, R. Schlags, T. Spindler, S. Thee und K. Weizsäcker.

aGruppenautorenschaft gemäß https://www.nlm.nih.gov/pubs/factsheets/authorship.html.

Geltungs-/Anwendungsbereich

Die vorliegende Empfehlung gilt für ein generelles Tuberkulose(TB)-Screening bei asylsuchenden Kindern und Jugendlichen unter 15 Jahren, bei denen eine konkrete TB-Exposition verneint wird oder nicht bekannt ist. Bei bekanntem Kontakt zu einer an aktiver TB erkrankten Person oder bei klinischem Verdacht auf eine TB soll die weitere Abklärung gemäß bestehender nationaler Empfehlungen erfolgen [1].

Gesetzlicher Hintergrund

Gemäß § 62 Abs. 1 Satz 2 des Asylverfahrensgesetzes in Deutschland bestimmt die oberste Landesgesundheitsbehörde oder die von ihr bestimmte Stelle den Umfang der Untersuchung auf übertragbare Krankheiten, die bei Ausländern durchgeführt wird, die in einer Aufnahmeeinrichtung oder Gemeinschaftsunterkunft wohnen. Gemäß § 36 Abs. 4 des Infektionsschutzgesetz (IfSG) haben Personen, die in eine Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge oder Asylsuchende aufgenommen werden sollen, ein ärztliches Zeugnis darüber vorzulegen, dass bei ihnen keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer infektiösen TB-Erkrankung („ansteckungsfähige Lungentuberkulose“) vorhanden sind. Das Zeugnis muss sich bei Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet haben (mit Ausnahme von Schwangeren), auf eine Röntgenaufnahme der Lunge stützen. Die folgende Stellungnahme bezieht sich auf das Vorgehen bei Personen < 15 Jahren.

Medizinischer Hintergrund

Die TB-Inzidenz in Deutschland betrug im Jahr 2013 5,3/100.000 Einwohner und bei Kindern und Jugendlichen < 15 Jahren durchschnittlich 1,6/100.000 Kinder [2]. Der Anteil im Ausland geborener Kinder und Jugendlicher mit einer TB betrug in Deutschland 35 % und in der Schweiz 44 % [2, 3]. Tuberkulosepatientinnen und -patienten, die außerhalb Deutschlands geboren sind, stammen häufig aus Ländern mit deutlich höheren TB-Inzidenzen. Für Asylsuchende ist zudem von einem erhöhten Risiko einer TB-Exposition während der Flucht und bei Aufenthalten in Gemeinschaftsunterkünften auszugehen [4].

Die Faktoren, die das Risiko einer TB-Übertragung bestimmen, sind grundsätzlich bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen die gleichen und beinhalten Bakterienzahl, Hustensymptomatik, Dauer und Nähe der Exposition sowie Empfänglichkeit der Kontaktperson. Generell ist das Risiko einer TB-Übertragung, das von Kindern ausgeht, geringer als bei Erwachsenen. Eine Übersichtsarbeit beschreibt jedoch mehrere Fälle von Kindern mit aktiver TB, die bis zu 39 % der erwachsenen Kontaktpersonen angesteckt haben [5]. Das höchste Risiko für eine Ansteckung ging von sputumpositiven Schulkindern aus, jedoch sind auch Ansteckungen durch sputumnegative Kinder und sogar durch Säuglinge beschrieben. Es gibt deshalb keine wissenschaftliche Evidenz für eine Altersgrenze, ab der eine TB-Ansteckungsgefahr sicher ausgeschlossen werden kann. Aus diesem Grund ist es bei Kindern und Jugendlichen ebenso wichtig wie bei Erwachsenen, gemäß § 36 Abs. 4 IfSG das Vorliegen einer TB mit der bestmöglichen Methode auszuschließen.

Rationale für ein Screening

Eine frühe und effektive Fallfindung durch zeitnahe Untersuchungen nach Einreise ist vor folgendem Hintergrund wichtig:

  • räumlich oft beengte Unterbringung: jede infektiöse TB kann zur Gefährdung einer großen Anzahl von Kontaktpersonen führen;

  • Kontakt mit vulnerablen Personengruppen in den Aufnahmeeinrichtungen (Kleinkinder, Schwangere, Immungeschwächte, Unterernährte u. a.), die durch Patientinnen und Patienten mit offener TB exponiert werden;

  • hohe Mobilität (z. B. Umverteilungen) der Asylsuchenden innerhalb Deutschlands, aufgrund derer zu anderen Zeitpunkten bzw. Anlässen die zeitnahe Diagnose und Einleitung der Therapie mit regelmäßigen Nachkontrollen problematisch sind;

  • im Vergleich zu Erwachsenen häufigere und raschere Progression einer latenten tuberkulösen Infektion (LTBI) zur aktiven TB-Erkrankung bei Kindern, insbesondere in der Altersgruppe < 5 Jahren;

  • höhere Wahrscheinlichkeit von schweren und disseminierten Verläufen einer TB bei Kindern < 2 Jahren.

Screeningansätze

Symptombasiertes Screening

Die klassischen Symptome und klinischen Hinweise für eine TB (insbesondere chronisch-progredienter Husten > 2 Wochen Dauer, unerklärtes Fieber, Nachtschweiß, Gewichtsstagnation oder -verlust und persistierende Müdigkeit) finden sich bei Kindern und Jugendlichen seltener als bei Erwachsenen, und viele Fälle präsentieren sich mit wenigen Symptomen oder symptomfrei. Eine Studie aus dem Jahr 2006 bei Kindern in Südafrika zeigte für die typische Symptomtrias von Husten, Nachtschweiß und Gewichtsverlust bei Kindern unter 3 Lebensjahren eine Sensitivität von 52 % [6]. Auch eine aktuelle Studie aus Südafrika von 2015, an der Kinder und Jugendliche < 15 Jahren teilnahmen, bestätigt die geringe Sensitivität klinischer Symptome [7]. In der Studie wies einzig ein Gewichtsverlust eine Sensitivität von 82 % auf, jedoch mit einer geringen Spezifität von nur 33 % [7]. Aus diesen Gründen eignet sich ein symptombasiertes Screening allein nicht zur TB-Detektion bei Kindern und Jugendlichen.

Thoraxröntgenbasiertes Screening

Im Gegensatz zu Erwachsenen hat die Thoraxröntgenuntersuchung bei Kindern und Jugendlichen eine geringere TB-Detektionsrate. Die am häufigsten beobachteten radiologisch pathologischen Veränderungen bei Lungen-TB von Kindern und Jugendlichen sind Hiluslymphknotenvergrößerung und bronchopulmonale Konsolidierung, deren Vorliegen jedoch unspezifisch ist [8, 9]. Klassische Manifestationsarten der pulmonalen TB bei Erwachsenen wie Kavernen und Pleuraergüsse werden nur sehr selten beobachtet. In einer südafrikanischen Studie mit Kindern < 2 Jahren hatten lediglich 28 % der Teilnehmer mit kulturell gesicherter TB einen Thoraxröntgenbefund mit Verdacht auf eine pulmonale TB [10]. Bei älteren Kindern steigt die Sensitivität der Thoraxröntgenuntersuchung zwar an, erreichte in einer weiteren südafrikanischen Studie jedoch nur unbefriedigende Werte von durchschnittlich 63 % [7]. Die höchste Sensitivität der Thoraxröntgenuntersuchung ist bei Jugendlichen zu erwarten. Dies wird illustriert durch eine Studie, bei der 78 % (15 von 19) der jugendlichen Patienten > 12 Jahre mit kulturell bestätigter TB ein pathologisches Röntgenbild aufwiesen [11]. Das Thoraxröntgenbild als primäre Screeningmethode eignet sich anhand der aktuellen Daten bei Kindern und Jugendlichen nicht. Zudem ist aufgrund der höheren Strahlenempfindlichkeit des kindlichen Organismus ein besonders restriktiver Umgang mit ionisierender Strahlung zu fordern. Aus diesem Grund wird die Thoraxröntgenaufnahme nur selektiv zur gezielten weiteren Abklärung bei pathologischen immunodiagnostischen Testergebnissen empfohlen.

Immunodiagnostisches Screening

Für die immunodiagnostische Untersuchung einer TB-Infektion stehen derzeit der Tuberkulinhauttest (THT) oder der „interferon-gamma release assay“ (IGRA) zur Verfügung. In den letzten 10 Jahren sind viele Studien bei Kindern durchgeführt worden, die die Wertigkeit dieser beiden Testmethoden im Kindesalter untersucht haben (zusammengefasst in den Metaanalysen [12, 13]). Die Sensitivität von THT und IGRA betragen bei Patienten im Kindes- und Jugendalter durchschnittlich zwischen 60 und 80 %; insbesondere jüngere Kinder weisen deutlich häufiger negative oder nichtverwertbare IGRA-Testergebnisse auf [14, 15]. Ein Nachteil ist, dass die verfügbaren Testverfahren zurzeit keine Differenzierung zwischen aktiver TB und LTBI zulassen, sodass bei positivem Ergebnis eine nachfolgende gezielte Untersuchung zum Nachweis oder zum Ausschluss einer aktiven TB erfolgen muss. Darüber hinaus erlauben die Testverfahren keine Aussage, ob es sich um eine frische oder länger zurückliegende Infektion handelt. Letzteres ist aber gerade bei jüngeren Kindern wenig relevant, da die Infektion in einem überschaubaren Zeitraum erfolgt sein muss, und das Progressionsrisiko in dieser Altersgruppe grundsätzlich hoch ist. Obwohl die immunodiagnostischen Testverfahren für TB die genannten Limitationen aufweisen, bleiben sie, im Vergleich zu anderen Screeningansätzen und im Vergleich zu den Empfehlungen bei Erwachsenen, bei Kindern und Jugendlichen < 15 Jahren die nach dem heutigen Wissensstand besten Screeningmethode.

Aktuelle Empfehlungen

Folgende Empfehlungen können ausgesprochen werden:

  • Indikationsstellung: Basierend auf der vorliegenden Evidenz und auf den bestehenden Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI, [1]) und der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ, [16]) soll ein immunodiagnostisches Screening durchgeführt werden. Da zuverlässige epidemiologische Daten in Krisenregionen häufig fehlen, soll die Untersuchung bei allen asylsuchenden Kindern und Jugendlichen < 15 Jahren unabhängig von der TB-Inzidenz des Herkunftslands erfolgen. Neuere Daten weisen zudem darauf hin, dass TB-Inzidenzen in Krisenregionen mit hohen Flüchtlingszahlen ansteigen [4]. Während der oft über viele Monate dauernden Flucht besteht außerdem häufig enger Kontakt mit Risikopopulationen für eine TB, was zu Neuinfektionen führen kann.

  • Ziel des TB-Screenings: Ziel ist die Identifikation von Kindern und Jugendlichen, bei denen weitere Diagnostik bezüglich einer aktiven TB notwendig ist. Bei symptomfreien Kindern und Jugendlichen mit positivem immunodiagnostischem Testergebnis und unauffälligem Thoraxröntgenbefund ergibt sich die Diagnose einer LTBI, deren Behandlung entsprechend den bestehenden Empfehlungen geprüft werden soll (s. u.).

  • Zeitpunkt des TB-Screenings: Das immunodiagnostische Screening soll vor oder zeitnah nach Aufnahme in eine Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge oder Asylsuchende durchgeführt werden.

  • Wahl des Testverfahrens bei Kindern < 5 Jahren: In dieser Altersgruppe soll in erster Linie ein THT durchgeführt werden. Bei eingeschränkter Verfügbarkeit von Tuberkulin (PPD RT-23 SSI) kann auch bei Kindern < 5 Jahren ein IGRA durchgeführt werden (Abb. 1).

  • Wahl des Testverfahrens bei Kindern und Jugendlichen ≥ 5 bis 14 Jahren: Bei Kindern ab 5 Jahren kann ein THT oder IGRA verwendet werden (Abb. 1).

    Abb. 1
    figure 1

    Empfohlenes altersadaptiertes Vorgehen zum Tuberkulose(TB)-Screening bei asylsuchenden Kindern und Jugendlichen in Deutschland ohne bekannte TB-Exposition. IGRA „interferon-gamma release assay“, LTBI latente tuberkulöse Infektion, THT Tuberkulinhauttest. Roter Pfeil: pathologisches Testergebnis bzw. pathologisches Röntgenbild, blauer Pfeil: unauffälliges Testergebnis bzw. unauffälliges Röntgenbild

  • Interpretation des THT: Eine Induration ≥ 10 mm ist eine Indikation zu weiteren Untersuchungen unabhängig vom Bacille-Calmette-Guérin(BCG)-Impfstatus. Das Ergebnis soll in Millimeter-Induration (nicht Rötung) dokumentiert werden. Eine BCG-Impfung kann Einfluss auf die Größe der THT-Reaktion haben. In einer systematischen Übersichtsarbeit, die Daten von über 230.000 Kindern eingeschlossen hat, wird geschätzt, dass bei einer Induration ≥ 10 mm lediglich 2,6 % der THT-Ergebnisse aufgrund einer BCG-Impfung im ersten Lebensjahr falsch-positiv werden [17].

  • Dokumentation des Testergebnisses: Jedes Testergebnis soll in geeigneter Form dokumentiert (mit Angabe konkreter Testresultate und nicht nur „positiv“/„negativ“) und auch den Eltern bzw. den Untersuchten mitgegeben werden, damit dieses nachfolgend betreuenden Ärztinnen und Ärzten zur Verfügung steht und sowohl ausgebliebene Testungen nachgeholt als auch Mehrfachtestungen vermieden werden können.

  • Interaktion zwischen THT und Maserninfektion/-impfung: Eine Masernimpfung oder -infektion kann zur temporären Suppression der zellvermittelten Immunantwort und damit zu einem falsch-negativen THT-Ergebnis führen [18]. Das immunodiagnostische Screening soll deshalb zeitgleich oder vor einer Masern-Mumps-Röteln(MMR)-Impfung durchgeführt werden. Falls eine Masernimpfung kürzlich verabreicht wurde oder eine Masernerkrankung vorliegt, soll ein 4- bis 6-wöchiger Abstand zu Masernimpfung/-infektion für die Testung eingehalten werden [18].

  • Vorgehen bei positivem Testergebnis: Kinder und Jugendliche mit positivem Testergebnis sollten unverzüglich für den Ausschluss einer aktiven Tuberkulose und zur weiteren Behandlung an ein Zentrum bzw. an Ärztinnen und Ärzte mit Erfahrung in der TB-Diagnose und -Behandlung bei Kindern und Jugendlichen überwiesen werden.

Zusätzliche Hinweise zur Chemoprävention bei latenter tuberkulöser Infektion

Kinder und Jugendliche mit positivem immunodiagnostischem Testbefund, unauffälliger Thoraxröntgenaufnahme und ohne klinische Symptome bzw. sonstige Hinweise auf das Vorliegen einer Organtuberkulose sollen gemäß aktuellen Empfehlungen eine präventive Therapie der LTBI erhalten. Diese senkt bei guter Compliance das Risiko der Progression zur aktiven TB um 94 % im ersten Jahr [19]. Die Behandlung erfolgt mit Isoniazid (10 mg/kgKG einmal täglich p.o., maximale Tagesdosis 300 mg) für 9 Monate. Alternativ kann Isoniazid (10 mg/kgKG einmal täglich p.o., maximale Tagesdosis 300 mg) plus Rifampicin (15 mg/kgKG einmal täglich p.o, maximale Tagesdosis 600 mg) für 3 Monate empfohlen werden (Dosierung entsprechend den Empfehlungen der European Medicines Agency, [20]). Beide Behandlungsstrategien sind gleich effektiv, und in einer systematischen Übersichtsarbeit fand sich bei einer Kombinationstherapie kein Hinweis auf ein erhöhtes Risiko einer Hepatotoxizität [21]. Da die kürzere Therapiedauer der Kombination (Isoniazid und Rifampicin für 3 Monate) zur Verbesserung der Compliance beitragen kann, sollte dieses Regime bei asylsuchenden Kindern und Jugendlichen bevorzugt werden [21].