Epidemiologie

In Deutschland, in der Schweiz wie auch weltweit hat sich die Lebenserwartung bei der Geburt seit 1900 ungefähr verdoppelt. In der Schweiz liegt die Lebenserwartung bei der Geburt momentan für Männer und Frauen kombiniert bei rekordhohen 83,3 Jahren [17]. Menschen überleben heute akute und chronische Erkrankungen. Zu einer ersten Erkrankung gesellt sich dann eine zweite und schließlich eine dritte. Patienten werden multimorbid, sie weisen gleichzeitig mehrere Erkrankungen auf.

Zur rasanten Verbesserung der Lebenserwartung während der letzten 100 Jahre haben vor allem verbesserte soziale und hygienische Bedingungen beigetragen. Sei es bei der Wasserqualität, der Kanalisation sowie der Nahrungsmittelhygiene (Kühlkette und Kühlschrank!), bei der Ernährung, bei den Wohnverhältnissen oder bei den Arbeitsbedingungen. Gleichzeitig haben vielfältige und monumentale Entwicklungen der Medizin die Langlebigkeit wesentlich gefördert. Menschen leben heute trotz einer Vielzahl von Risikofaktoren oder schwerwiegenden Erkrankungen beachtlich lange. Die Behandlungsmöglichkeiten und damit die Prognose haben sich beispielsweise bei Hypertonie, Diabetes, koronarer Herzkrankheit, Herzinsuffizienz, Niereninsuffizienz, Lebererkrankungen, unterschiedlichen Formen von Krebs, Human-immunodeficiency-virus(HIV)-Infektion, Depression und Schizophrenie wesentlich verbessert.

In einer großen epidemiologischen Studie auf der Basis einer schottischen Datenbank wiesen etwa 42 % der Bevölkerung eine oder mehrere Erkrankungen („disorders“) auf, etwa 23 % der Bevölkerung waren multimorbid [3]. Bei älteren Personen war Multimorbidität die Regel, aber selbst bei Kindern gab es sie. Ähnliche Zahlen sind aus Europa, Nordamerika, Kanada, Australien und mittlerweile auch aus anderen Ländern weltweit verfügbar (Infobox 1).

Infobox 1 Lebenserwartung und Multimorbidität

  • Westeuropa, Japan und auch andere Regionen weisen eine zunehmend alternde Bevölkerung auf („superaging societies“).

  • Multimorbidität nimmt mit dem Alter zu.

  • Diese Tendenz wird sich weltweit wegen weiterer Erfolge in der Behandlung und im Überleben von Einzelerkrankungen verstärken.

Bei älteren Menschen ist Multimorbidität die Regel

Bei hospitalisierten Patienten ist Multimorbidität klinischer Alltag. Je nach Definition waren zwischen 70 und 90 % aller notfallmäßig hospitalisierten Patienten der Inneren Medizin am Universitätsspital Zürich meist sehr schwer multimorbid [28]. Multimorbidität führt oft zu Polypharmazie, also zur regelmäßigen täglichen Einnahme von ≥5 verschiedenen Medikamenten, und zu all den damit verbundenen Herausforderungen [18].

Multimorbidität und Komplexität als klinische Herausforderung

Theoretisch besteht bei gleichzeitigem Auftreten von beispielsweise 3 Erkrankungen (Triade) eine unüberschaubare Anzahl kombinatorischer Möglichkeiten. So kommt es unter der Annahme von 12.161 vierstelligen Krankheitssubkategorien [11], beispielsweise J44.1 „Chronische obstruktive Lungenkrankheit mit akuter Exazerbation“ [15], kombinatorisch und rein theoretisch zu 1.798.045.683.840 möglichen Triaden. Bei stationären Patienten unserer Klinik können durchschnittlich zwischen 6 und 7 aktive Diagnosen dokumentiert werden [25]. Dazu kommen noch verschiedene Schweregrade der Erkrankungen, unterschiedliche Therapieempfehlungen, unterschiedliche individuelle Patientenmerkmale und Patientenwünsche sowie lokale Bedingungen mit Unterschieden je nach Tageszeit. Gleichzeitig unterscheiden sich die behandelnden Ärzte bei der Beurteilung einer medizinischen Situation in Wissen, Erfahrung, Temperament, Risikobereitschaft bzw. Vorsicht, Müdigkeit und Stimmung.

Erkrankungen treten oft in typischen Multimorbiditätsclustern auf

Im klinischen Alltag ist diese Komplexität jedoch viel kleiner, denn Erkrankungen eines Individuums aggregieren oft zu typischen kombinierten Erkrankungsmustern, also Multimorbiditätsclustern ([9, 24]; Infobox 2). Umgekehrt können einzelne Erkrankungen auch andere weniger wahrscheinlich machen. Ein klassisches Beispiel für Letzteres ist eine Sichelzellenanämie, die eine schwere Malaria weniger wahrscheinlich macht.

Infobox 2 Multimorbiditätscluster

Typische Multimorbiditätscluster sind unter anderem:

  • Kardiovaskulär: koronare Herzkrankheit, Herzinsuffizienz, Vorhofflimmern, Schlaganfall, Hypertonie, Diabetes, Dyslipidämie, Nierenprobleme

  • Psychiatrische Multimorbidität (Abusus von Alkohol und anderen Substanzen, Depression, Persönlichkeitsstörung), Lebererkrankung, z. B. Hepatitis C oder alkoholinduzierte Lebererkrankungen, oft in Kombination

  • Sturz, Frailty, Parkinson-Krankheit, Depression, kognitive Einschränkungen, Vereinsamung

  • Chronisch-obstruktive Lungenerkrankung, Depression

  • Schmerz, Depression, Angst

  • Depression, Angst

  • Frailty, Demenz, Depression

  • Parkinson-Krankheit, Depression

Das Ausmaß der Einzelerkrankungen kann sich individuell stark unterscheiden. Ebenso verhält es sich mit sozialen Aspekten, die für die Krankheitsentwicklung entscheidend sind.

Vermutlich kann man mit einigen wenigen Multimorbiditätsmustern einen Großteil aller Erkrankungskonstellationen erklären. Oft aber schert eine der Erkrankungen aus einem spezifischen Multimorbiditätscluster sozusagen aus. Ein Beispiel wäre die Kombination von Frailty (Gebrechlichkeit) mit einer Myasthenia gravis.

Definition von Multimorbidität

Die Mehrzahl der Forschenden definierte Multimorbidität in den letzten 10–15 Jahren als das gleichzeitige Vorhandensein mehrerer chronischer Erkrankungen bzw. Langzeiterkrankungen. Diese Definition dient vor allem epidemiologischen Untersuchungen. Für klinische Situationen und die Forschung zur klinischen Entscheidungsfindung („medical decision-making“) muss eine sinnvolle Definition von Multimorbidität unseres Erachtens auch akute Erkrankungen beinhalten (Infobox 3).

Infobox 3 Definitionen von Multimorbidität

  • „Multimorbidity is the co-occurrence of multiple chronic or acute diseases and medical conditions within one person.“ ([2]; deutsche Übersetzung: Multimorbidität ist das gleichzeitige Vorliegen mehrerer chronischer oder akuter Erkrankungen und gesundheitlicher Störungen bei einer einzelnen Person.)

  • „Multimorbidity is the co-existence of two or more chronic conditions where one is not necessarily more central than the others.“ ([4]; deutsche Übersetzung: Multimorbidität ist das gleichzeitige Bestehen von zwei oder mehr chronischen Störungen, wobei eine davon nicht unbedingt eine zentralere Bedeutung haben muss als die anderen.)

  • „Multimorbidity is defined as any combination of chronic disease with at least one other disease (acute or chronic) or biopsychosocial factor (associated or not) or somatic risk factor.“ ([22]; deutsche Übersetzung: Multimorbidität ist definiert als beliebige Kombination einer chronischen Erkrankung mit zumindest einer weiteren Erkrankung (akut oder chronisch) oder einem biopsychosozialen Faktor (assoziiert oder nicht) oder einem somatischen Risikofaktor.)

Für Studien und den klinischen Alltag ist auch bedeutungsvoll, ob man von „disease“, „disorder“, „risk factor“, „problem“ oder „diagnosis“ (im Deutschen „Erkrankung“, „Störung“, „Risikofaktor“, „Problem“ oder „Diagnose“) spricht. Aber selbst wenn akute Erkrankungen bzw. konkrete gesundheitliche Herausforderungen in einer Definition berücksichtigt sind, wird die Bedeutung einer Einzelerkrankung in Multimorbiditätssituationen nicht berücksichtigt. Es widerspricht der klinischen Intuition, wenn beispielsweise ein Patient mit Morbus Hodgkin und einer für die schwere Grunderkrankung bedeutungslosen zweiten Diagnose, etwa einer schweren Myopie oder gut kontrollierten Hypertonie, bezüglich der Entscheidungsfindung als multimorbid klassifiziert würde. Die außerordentlich breite Definition von Le Reste et al. [22] würde wohl sogar einen Patienten mit Hypertonie und finanzieller Notlage als „multimorbid“ klassifizieren. Dies erachten wir nicht als zielführend.

Die Definition des Komorbiditätsindex nach Charlson ist wesentlich restriktiver [13]. Er klassifiziert nur 22 prognoserelevante Einzeldiagnosen. Aber auch dieser Index berücksichtigt die kombinierte Prognose der in einem Multimorbiditätskomplex vorhandenen Erkrankungen ungenügend und vermag die Prognose von Multimorbiditätssituationen wohl nicht richtig einzuschätzen. Zudem sind die klinischen Herausforderungen von Akutsituationen und die reale Breite der Medizin nicht wirklich berücksichtigt.

Multimorbiditätsinteraktionen zwischen Erkrankungen

Bei Einzelerkrankungen lösen wir ein klinisches Problem auf Basis von Studien und entsprechenden Leitlinien mithilfe eines kommunikativen, diagnostischen oder therapeutischen Prozesses. Bei 2 gesundheitlichen Problemen eignen sich für Einzelerkrankungen entwickelte Standards oft nicht, weil die Prozesse zur Lösung der jeweiligen Probleme miteinander in Konflikt geraten („disease-disease interactions“ [DDI]) und zu Dilemmata führen ([25]; Infobox 4; Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Multimorbidität und „disease-disease interactions“

Infobox 4 „Disease-disease interactions“

„Disease-disease interactions“ haben drei grundsätzliche Elemente [26]:

  • Die eigentlichen „disease-disease interactions“: Die Patientenmanagementprozesse werden wegen des gleichzeitigen Vorhandenseins zweier Erkrankungen verändert.

  • „Disease-disease medication interactions“ (pharmakodynamische Interaktion): Eine Medikation, die für eine der Erkrankungen eingesetzt werden sollte, ist bei einer anderen Erkrankung des Patienten schädlich (Beispiel: Notwendigkeit zur Antikoagulation wegen Vorhofflimmerns bei gleichzeitiger Magenblutung).

  • „Medication-medication interactions“ (pharmakokinetische Interaktion): Interaktionen zwischen Medikamenten. Dieser Aspekt der Interaktionen ist wissenschaftlich sehr breit abgedeckt. Es bestehen auch sehr gute Datenbasen zu dieser Thematik.

Unter einer „schädlichen“ DDI versteht man eine Situation, in der die Kommunikation, Diagnostik oder Behandlung einer Erkrankung derjenigen einer anderen Erkrankung in die Quere kommt. Es kommt zu einer Konfliktsituation bzw. aus ärztlicher Sicht zu einem Dilemma, und je nach Persönlichkeitsstruktur, Wissen und Erfahrung des Arztes zu Verunsicherung und zu einer mehr oder weniger starken Belastung. Von Ärzten und Pflegenden werden vor allem die häufigen therapeutischen Konflikte [25] zwischen Erkrankungen als Multimorbidität im eigentlichen Sinne empfunden. Potenziell schädliche Interaktionen sind ein wichtiges Element von Multimorbidität [25, 26] und der damit verbundenen Komplexität der Entscheidungsfindung.

Als Beispiel einer DDI sei der Versuch genannt, bei einer Patientin mit massiver Schwerhörigkeit (beispielsweise bei Presbyakusis) und leichter Demenz (bei sonst gut erhaltener Lebensqualität) eine Einwilligungserklärung einzuholen, um die interventionelle Revaskularisierung mittels Einlage von Stents bei akutem Myokardinfarkt notfallmäßig und zeitnah durchführen zu dürfen. Hier ist die Kommunikation wegen Schwerhörigkeit (Verstehen) und Demenz (Urteilsfähigkeit) eingeschränkt. Der auch juristisch definierte Kommunikationsprozess ist erschwert oder gar unmöglich. Für den Arzt stellt dies eine schwierige Situation und ein Dilemma dar (weiteres Beispiel in Infobox 5).

Infobox 5 Fallbeispiel zu „disease-disease interactions“

Bei einem 76-jährigen Patienten kommt es zur akuten Exazerbation einer chronisch-obstruktiven Lungenerkrankung (COPD). Der Patient hat einen bereits seit 10 Jahren bekannten Diabetes mellitus Typ 2, der unter einer oralen Dreierkombination nicht befriedigend eingestellt ist.

Wegen einer Depression wird er mit einem selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmer behandelt. Kürzlich war die Substanz bei der Bestimmung des Medikamentenspiegels im Blut allerdings nicht messbar.

Wahrscheinlich ist es wegen unregelmäßiger Nahrungseinnahme zu einem Gewichtsverlust gekommen. Der Patient ist geschwächt und wegen Atemnot und mangelnder Energie bzw. Initiative kaum mobil.

Die Gattin des Patienten ist vor 3 Jahren verstorben, der Patient vereinsamt.

Potenziell schädliche medizinische „disease-disease interactions“: Steroide und Diabetes, COPD (Atemnot) und Mobilität, COPD und Depression, Ernährung und Depression, Mobilität und Depression

Zusätzlich interagieren soziale Aspekte: Depression, mangelnde Initiative, mangelnde Ernährung, eine eingeschränkte psychische und somatische Fähigkeit zur Nahrungsmittelbeschaffung und Vereinsamung sind ein Teufelskreis.

In einer retrospektiven Analyse haben wir leichte und schwere Interaktionen bzw. therapeutische Konflikte quantifiziert [25]. Unter notfallmäßig hospitalisierten Patienten der Inneren Medizin fanden wir bei 166 multimorbiden Patienten im Durchschnitt 6,6 aktive Diagnosen (!) und insgesamt 239 therapeutische Konflikte, davon bei 41 % der Patienten leichte und bei 29 % schwere therapeutische Konflikte.

Multimorbidität im engeren Sinne ist nicht einfach die Summe mehrerer Einzelerkrankungen

Interaktionen zwischen Erkrankungen zeigen, dass Multimorbidität im engeren Sinne nicht einfach die Summe von mehreren Einzelerkrankungen ist. Es entstehen eigenständige, komplexe und bezüglich der Ausprägung von Einzelkomponenten unterschiedliche und vollkommen persönliche Krankheitsbilder. Hier braucht es neue und eigenständige Messmethoden, um die Situation besser einschätzen und quantifizieren zu können. Unsere Gruppe hat kürzlich den Multimorbidity Interaction Severity Index (MISI) entwickelt [7], um den Schweregrad einer Interaktion aus ärztlicher Sicht gewichten zu können. Diesen Index gilt es nun weiter zu validieren. Auf jeden Fall sind DDI zu einem wichtigen Forschungsgebiet geworden [7, 25, 26].

Einige DDI, die nach unserer Erfahrung häufig und oft problematisch sind und damit Alltagsdilemmata darstellen, sind nachfolgend aufgelistet:

  • Antikoagulation oder Thrombozytenaggregationshemmung und gleichzeitige oder stattgehabte gastrointestinale oder intrakranielle Blutung oder Operation oder sehr häufige Stürze

  • Somatische Erkrankungen mit dringend notwendiger überdurchschnittlicher Medikamentencompliance (Antikoagulation, Herzinsuffizienztherapie, Immunsuppression bei Transplantation oder HIV-supprimierende Behandlung) und schlechte Medikamentencompliance wegen gleichzeitiger Demenz oder Depression

  • Schwere Lungenerkrankung und psychoaktive, atemdepressive Medikamente bei schwerem Schmerz oder Schlafstörung (Opiate, Benzodiazepine; [6])

  • Schmerzbehandlung und Hypertonie oder Niereninsuffizienz

  • Kontrastmittel für Computertomographie und Niereninsuffizienz

  • Fundamentale neuropsychiatrische Erkrankungen und Persönlichkeitsstörungen (z. B. Demenz, Depression, bipolare Störungen, Borderline-Persönlichkeit, Schizophrenie) und Compliance bei der Führung und Behandlung von schweren somatischen Erkrankungen

  • Altersgebrechliche Patienten (Frailty) mit häufigen Stürzen, Osteoporose, Mangelernährung, Depression und Demenz, manchmal noch Parkinson-Krankheit

  • Psychiatrische Erkrankungen mit Psychopharmaka und Sturz

Einige besonders häufige therapeutische Konfliktsituationen (DDI) seien beispielhaft und etwas vertieft beschrieben.

Antikoagulation und Blutung

Die Verschreibung einer Antikoagulation, insbesondere von neuen oralen Antikoagulanzien (NOAC), nimmt kontinuierlich zu, bei älteren Patienten vor allem wegen Vorhofflimmern. Oft besteht wegen einer gleichzeitig durch Stents behandelten koronaren Herzerkrankung zusätzlich eine Thrombozytenaggregationshemmung unterschiedlichen Ausmaßes. Das Risiko einer oberen Gastrointestinalblutung bewegt sich bei diesen Patienten zwischen 1,5 und 4,5 % [8]. Gastrointestinale Blutungen sind hier also besonders häufig und stellen Ärzte vor ernst zu nehmende Dilemmata. Auf der einen Seite wäre ein Absetzen der Antikoagulation und/oder Thrombozytenaggregationshemmung wegen der gastrointestinalen Blutung indiziert, auf der anderen Seite steigt damit das Risiko von kardio- oder zerebrovaskulären Komplikationen. Erstaunlicherweise liegen aber kaum operationell detaillierte Studien oder Leitlinien zu diesem häufigen und herausfordernden Problem vor [8].

Unter Zuhilfenahme des CHA2DS2-VASc-Scores [12] kann das Hirnschlagrisiko bei Vorhofflimmern ermittelt und dem Risiko einer gastrointestinalen Rezidivblutung gegenübergestellt werden. Letzteres hängt beispielsweise bei einer oberen gastrointestinalen Blutung vom endoskopischen Befund ab. Zudem kann unter anderem der HAS-BLED-Score zur Abschätzung des generellen Blutungsrisikos herangezogen werden [12]. In das Kalkül muss auch die Wahrscheinlichkeit der Compliance des Patienten mit einer hoch dosierten Protonenpumpenhemmertherapie einbezogen werden. Zu berücksichtigen sind weiterhin Kofaktoren, die ebenfalls zum Blutungsrisiko beitragen, wie etwa selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer oder die meisten Kalziumantagonisten vom Dihydropyridintyp.

Solche Alltagsdilemmata müssen oft interdisziplinär abgewogen und diskutiert sowie mit dem Patienten besprochen werden („shared decision-making“), soweit das möglich ist. Insbesondere der potenzielle Schlaganfall und dessen manchmal gravierende Folgen stellen für viele Patienten eine entscheidende Bedrohung dar, sodass sie bereit sind, andere Risiken auf sich zu nehmen. Umgekehrt können Patienten eine gastrointestinale Blutung als dermaßen bedrohlich erleben, dass sie die Antikoagulation unter keinen Umständen weiterführen wollen.

Eine mögliche alternative Taktik zur Auflösung der Dilemmata und zur Reduktion des Embolie- und Schlaganfallrisikos ist der Vorhofohrverschluss [12]. Dabei wird das Vorhofohr mit einem Schirm interventionell verschlossen, um die dortige Bildung von Thromben zu verhindern und das Risiko eines Schlaganfalls so zu reduzieren. Postinterventionell ist allerdings auch hier eine kurzzeitige Thrombozytenaggregationshemmung nötig. Zudem ist der Erfolg dieser Technik noch umstritten [12].

Hypertonie und Schmerzbehandlung

Chronischer Schmerz ist ein häufiges Problem bei multimorbiden Patienten. In unserer Untersuchung hatten fast 40 % der internistischen stationären Patienten chronische Schmerzdiagnosen, sehr oft muskuloskeletale Beschwerden [29]. Eine der häufigsten Situationen in der Alltagspraxis ist die Kombination von Hypertonie und Erkrankungen des Bewegungsapparats, wie Gonarthrose oder chronischem Rückenschmerz [5]. Die Prävalenz der Hypertonie wird auf 25 % der adulten Bevölkerung geschätzt, diejenige eines schmerzhaften Zustands bei Hypertonie auf etwa 19 % [9].

Schmerzen selbst sowie Schmerztherapien mit nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) oder Paracetamol können mit der Blutdruckeinstellung interferieren. So führen NSAR zu Volumenretention und verminderter Vasodilatation. Sie erhöhen damit den Blutdruck je nach Substanz mit unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit und in unterschiedlichem Ausmaß. Zudem können sie die Wirkung der Angiotensin-converting-enzyme(ACE)-Hemmer schwächen. So sollten NSAR, auch Cyclooxygenase-2-Inhibitoren, bei Hypertonie möglichst vermieden oder nur mit Vorsicht verwendet werden [16].

Die Alternative Paracetamol erhöht den Blutdruck möglicherweise ebenfalls, wenn auch in geringem Maße [31]. Verschiedene bei chronischen Schmerzen eingesetzte Antidepressiva können den Blutdruck ebenfalls erhöhen, obwohl eine Blutdrucksenkung und Orthostase wohl häufigere Nebenwirkungen sind.

Dennoch ist eine effiziente Schmerztherapie wichtig, da Schmerzen wiederum den Blutdruck erhöhen können. Es gilt oft, zwischen verschiedenen Erkrankungen Prioritäten zu setzen und eine individuelle Lösung zu finden. Die blutdruckerhöhende Wirkung von NSAR, Paracetamol und Antidepressiva ist je nach Individuum allerdings sehr unterschiedlich. Es lohnt sich deshalb, die entsprechenden Substanzen, falls indiziert und verantwortbar, auszuprobieren und die Wirkung auf den Blutdruck zu prüfen.

Generell werden neben Paracetamol und NSAR zur Umgehung von Interaktionen alternative Substanzen wie Opioide oder Metamizol verwendet [29]. Das WHO-Schema der eskalierenden Schmerzbehandlung muss dabei aufgrund solcher Interaktionen typischerweise umgangen werden [29].

Diabetes und hoch dosierte Steroidtherapie

Die Interaktion zwischen Diabetes und Steroidtherapie wird in den Leitlinien der Joint British Diabetes Societies for Inpatient Care (JBDS-IP) aus dem Jahr 2014 für die Anwendung im Alltag besonders anschaulich und nützlich abgehandelt [14].

Diabetes ist sowohl bei ambulanten als auch bei hospitalisierten Patienten ausgesprochen häufig. So betrug ihre Prävalenz bei hospitalisierten Patienten 11,1 % [32]. Gleichzeitig werden ungefähr 10 % aller Patienten im Krankenhaus mit Steroiden behandelt [14]. Etwa 40 % der Indikationen für langzeitige Steroidbehandlungen sind Atemwegserkrankungen, beispielsweise die chronisch-obstruktive Lungenerkrankung (COPD) oder Asthma. Muskuloskeletale Erkrankungen, Hauterkrankungen, Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa sind weitere Gründe für langzeitige und in der Akutsituation manchmal hoch dosierte Steroidbehandlungen [14]. Vermutlich sind ein Diabetes und eine hoch dosierte kurzzeitige Steroidtherapie bei akut exazerbierter COPD (AECOPD) oft ein Hospitalisierungsgrund. Die einzelnen Erkrankungen hätten keine Hospitalisierung notwendig gemacht.

Unter Verwendung von Steroiden kommt es bei 32,3 % aller Patienten zu einer Hyperglykämie und bei 18,6 % zu einem Diabetes [23]. Risikofaktoren für einen sich neu entwickelnden Diabetes bei Steroidtherapie sind unter anderem [14]

  • Adipositas,

  • eine positive Familienanamnese für Diabetes,

  • ein früherer Schwangerschaftsdiabetes,

  • eine pathologische Glukosetoleranz,

  • ein leicht erhöhtes HbA1c und

  • die Entwicklung pathologischer Glukosewerte unter einer früheren Steroidtherapie.

Bei bereits vorhandenem Diabetes muss natürlich ebenfalls mit einer wesentlichen Verschlechterung der Glukosekontrolle gerechnet werden. Entsprechend müssen Glukosekontrollen und Therapien bei hoch dosierter Steroidtherapie angepasst und intensiviert werden (Details s. JBDS-IP [14]).

Interaktion von somatischer und psychiatrischer Erkrankung

Ein wesentliches und vollkommen unterschätztes Problem ist die Interaktion der Erlebenswelt des Patienten im Angesicht einer schweren somatischen Erkrankung, einer bedrohlichen Situation oder eines schwer berechenbaren Risikos mit seiner Psyche oder gegebenenfalls mit seinen psychiatrischen Erkrankungen. Als Beispiel seien Krankenhausaufnahmen bei Herzinsuffizienz oder Transplantatabstoßung wegen mangelnder Medikamentencompliance bei Depression genannt. Ähnliches gilt für Personen mit HIV-Infektion oder AIDS und einer psychiatrischen Komorbidität, beispielsweise einer Depression, bei dringender Notwendigkeit zur absolut verlässlichen täglichen Einnahme von HIV-supprimierenden Medikamenten [12]. Ohne die verlässliche Einnahme der Medikamente kommt es zu einer Progression des Virus und gleichzeitig zur Entwicklung von Resistenzen gegenüber den virussupprimierenden Medikamenten [12]. Damit führt eine meist unerkannte Depression dazu, dass aus Patienten „Problempatienten“ werden.

Die psychiatrische Komorbidität wird bei Herzpatienten oft verkannt

Bei 25 % aller Patienten mit koronarer Herzkrankheit besteht gleichzeitig eine Depression, Angststörung oder ein Schmerzsyndrom [9]. Diese Erkrankungen machen Rehospitalisierungen wahrscheinlich. Zudem stellt sich bei einem Patienten mit Wiederauftreten von Thoraxschmerzen die differenzialdiagnostische Frage, ob die erneuten Symptome Ausdruck der koronaren Herzkrankheit sind oder etwa einer Panikattacke bei einer Angststörung entsprechen. Die psychiatrische Komorbidität bei Herzpatienten wird aber oft verkannt.

Ein relativ einfaches, aber meist vollkommen ignoriertes Beispiel einer relevanten Kombination aus somatischer und psychiatrischer Erkrankung sind COPD und Depression. Die COPD beeinträchtigt die körperliche und psychosoziale Funktionsfähigkeit von Patienten und kann zu einer Depression führen. Diese beeinträchtigt wiederum die Funktionsfähigkeit und Lebensqualität von Patienten mit COPD und ist ein Risikofaktor für das Versterben oder erneute Hospitalisierungen wegen AECOPD [27]. Die Prävalenz der Depression bei COPD und akuter AECOPD ist sehr hoch. Sie schwankt in verschiedenen Publikationen zwischen 9,5 und 85,6 %. Die Heterogenität der Prävalenzdaten zu Depression bei COPD mag durch die verschiedenen Screeninginstrumente oder andere Aspekte begründet sein.

Ungeachtet dessen nehmen Leitlinien für das Management der COPD kaum Bezug auf depressive Stimmungen. Depression wird bei diesen Patienten oft nicht wahrgenommen. Weitere Studien sind dringend erforderlich, um Screeninginstrumente für Depression bei COPD und AECOPD anzupassen und potenzielle therapeutische Interventionen und deren Auswirkungen auf das Ergebnis zu untersuchen.

Wesentlich bewusster wird in der Zwischenzeit die Interaktion zwischen HIV und Depression angegangen. Die erst kürzlich publizierten Leitlinien der European AIDS Clinical Society (EACS) in Version 8.1 sind beispielgebend für operationell relevante Leitlinien bezüglich der Interaktion zwischen Erkrankungen [12]. Unter anderem wird die Depression thematisiert und hier zunächst die hohe Jahresprävalenz einer Depression von 7 % in der Allgemeinbevölkerung. Bei Personen mit HIV ist die Prävalenz von Depression mit etwa 20–40 % wesentlich höher und mit schlechteren Behandlungsresultaten assoziiert. Aber wie in anderen Situationen ist Depression vollkommen unterdiagnostiziert. Deshalb empfiehlt die EACS, bei jeder Person mit HIV etwa alle 1–2 Jahre ein Depressionsscreening durchzuführen (Infobox 6).

Infobox 6 Screening auf Depression

Ein einfaches Screening auf Depression kann beispielsweise mit dem Patient Health Questionnaire-2 (PHQ-2) durchgeführt werden, der eine hohe Sensitivität und akzeptable Spezifität bietet. Er besteht aus 2 einfachen Fragen:

Wie oft fühlten Sie sich im Verlauf der letzten 2 Wochen durch die folgenden Beschwerden beeinträchtigt?

  • A. Wenig Interesse oder Freude an Ihren Tätigkeiten.

  • B. Niedergeschlagenheit, Schwermut oder Hoffnungslosigkeit.

Die Auswertung erfolgt mithilfe eines Punktesystems:

  • Überhaupt nicht = 0

  • An einzelnen Tagen = 1

  • An mehr als der Hälfte der Tage = 2

  • Beinahe jeden Tag = 3

Je höher die Punktzahl, desto höher die Spezifität [21].

Für die Festlegung der Diagnose einer Depression sind diese Fragen ungenügend. Es bedarf ergänzender Fragen, so etwa der 7 zusätzlichen Fragen im PHQ-9.

In Anbetracht der Einfachheit eines Depressionsscreenings und der hohen Prävalenz selbst in der Normalbevölkerung ist es schon sehr überraschend, wie wenig Beachtung dieser für die Prognose fast immer relevanten Erkrankung gezollt wird.

Besonders schwierig ist das Cluster aus fundamentalen psychiatrischen Morbiditäten, wie Psychosen bei Schizophrenie oder Borderline-Persönlichkeiten, und der Notwendigkeit zur Abklärung oder Behandlung somatischer Erkrankungen. Als Beispiel sei ein Patient mit Schizophrenie genannt, der einer Hepatitis-C-Virus-eliminierenden Therapie bedarf, diese aber wegen eines paranoiden Wahns in der Psychose ablehnt. Hier bestehen oft vollkommen unüberwindbare operationelle, institutionelle oder auch juristische Hindernisse, die vernünftige Ansätze einer interdisziplinären und interprofessionellen kombinierten Betreuung verhindern. Erfahrungsgemäß sind Interaktionen zwischen schweren somatischen und schweren psychiatrischen Erkrankungen besonders schwierig zu handhaben. Dafür fehlen sowohl wissenschaftliche Daten als auch ambulante und vor allem stationäre Einrichtungen zur gemischten akutsomatisch-psychiatrischen Versorgung.

Schlussbemerkungen

Die Multimorbiditätsforschung ist eine noch relativ junge Disziplin. Neuere klinische Empfehlungen versuchen, Behandlungsstrategien auf spezifische Multimorbiditätscluster zu richten [30]. Entscheidungen basieren aber weitgehend auf Erfahrungsmedizin und auf Extrapolationen der Erkenntnisse zu Einzelerkrankungen. Es bleibt noch viel zu tun, um die Entscheidungsprozesse bei Multimorbidität besser zu definieren. Denn fundierte medizinische Daten fehlen meist.

Die Methodik zur Beschreibung der Entscheidungsfindung befindet sich teilweise noch im Anfangsstadium und basiert oft auf Modellen des Bayes-Theorems, also auf Modellen der Wahrscheinlichkeitstheorie, und noch wenig auf Modellen der Komplexitätstheorie. Zudem gilt es, die Entscheidungsfindung von Ärzten auch auf deren persönliche Vorgehensweisen und auf deren Persönlichkeitsstrukturen zurückzuführen. Vielfach können Entscheidungen aufgrund der Komplexität aber nicht mehr rein kognitiv auf Basis von Wissen und bewusster Erfahrung getroffen werden. Die Entscheidungsfindung greift auf unbewusstes, kristallisiertes Wissen und die Situationserfassung zurück, falls die Persönlichkeitsstrukturen des Arztes dies zulassen. Zur Untersuchung dieser Prozesse braucht es eine Methodenentwicklung im Zusammenspiel zwischen Medizinern, Psychologen und weiteren fachlichen Kompetenzen [10]. Auch für die Messung von Patientenverhalten, beispielsweise der Compliance bezüglich der Einnahme multipler Medikamente bei multimorbiden Patienten, braucht es neue Erfassungsmöglichkeiten, die über die Methodik bei Einzelerkrankungen hinausgehen [18].

Fragmentierte Strukturen im Gesundheitssystem berücksichtigen Bedürfnisse multimorbider Patienten ungenügend und erschweren eine koordinierte, integrierte Versorgung (Abb. 2). Dies gilt insbesondere für Gesundheitssysteme, die Generalisten und deren wichtige Aufgabe als Koordinatoren gering schätzen. Die bewusste und wissenschaftlich gestützte Koordination gilt es in Studium, Weiter- und Fortbildung neben der Grundversorgung von Einzelerkrankungen bewusst zu entwickeln, zu fördern und zu finanzieren.

Abb. 2
figure 2

Ärztliches Managament bei Monomorbidität versus Multimorbidität

Die vermehrte Koordination und umfassende Betreuung von Patienten in der zeitlichen Kontinuität kann in Weiterentwicklung des Prinzips von „Medical Home“ oder „Advanced Medical Home“ (s. entsprechendes Strategiepapier des American College of Physicians [1]) im Grundsatz mit Schlagworten folgendermaßen erweitert und als C 5 -Prinzip festgehalten werden:

  • „Cure“ (Heilung)

  • „Care“ (Fürsorge)

  • „Continuity“ (Kontinuität)

  • „Comprehensiveness“ (umfassende Betreuung)

  • „Coordination“ (Koordination)

Leider sind die Ausbildungen an unseren medizinischen Fakultäten noch fast ausschließlich auf „cure“ und weniger auf „care“ ausgerichtet. Vielleicht ist die substanzielle Unterdiagnose und Unterbehandlung von Depression bei schwerer Erkrankung (s. oben) ein dramatisches Beispiel für diesen Mangel an „care“.

Fazit für die Praxis

  • Die meisten Menschen, die Dienstleistungen im Gesundheitssystem in Anspruch nehmen, sind in unterschiedlichem Maße multimorbid.

  • Multimorbidität ist nicht einfach die Summe von Einzelerkrankungen. Aus der Verteilung von Erkrankungen ergeben sich komplexe und neue Krankheitscluster und typische therapeutische Konflikte zwischen verschiedenen Erkrankungen. Leider gibt es nur für die wenigsten Konfliktsituationen und Dilemmata wissenschaftliche Evidenz oder operationell anwendbare Leitlinien.

  • Aufgrund der Komplexität werden randomisierte Studien nur für die wesentlichsten und die quantitativ gut definierbaren Interaktionen zwischen Erkrankungen möglich sein. Neue Möglichkeiten der Forschung bieten Big-Data-Analysen und Methoden der Komplexitätstheorie.

  • Für Dienstleistung, Forschung und Lehre zu Multimorbidität braucht es ein strategisches und operationelles Bekenntnis zu einem integrierten Patientenbild.