Hintergrund

Die Arbeitsbelastung in deutschen Notaufnahmen wächst, u. a., weil auch solche Patienten die Notaufnahme aufsuchen, die keinen medizinischen Notfall darstellen, aber dennoch in der Notaufnahme behandelt werden müssen [1]. Das Problem zeigt sich in verlängerten Wartezeiten und Verweildauern, die nicht nur mit einer erhöhten Unzufriedenheit der Patienten, sondern auch mit verzögerter Diagnostik und medikamentöser Behandlung verbunden sind. Dies kann wiederum erhöhte Morbidität und Mortalität von Patienten nach sich ziehen [2,3,4,5,6]. Weiterhin zeigen sich negative Auswirkungen auf die Effizienz der Patientenversorgung, auf die Adhärenz zu standardisierten Abläufen und auf die Mitarbeiterzufriedenheit [7]. Unterstützung bzw. Entlastung sollen Krankenhäuser mit ambulanter Notfallversorgung durch Angebote wie Portalpraxen in oder an Krankenhäusern, Notfallpraxen mit verlängerten Öffnungszeiten oder die bundesweit einheitliche Rufnummer 116117 der Kassenärztlichen Vereinigungen für den ärztlichen Bereitschaftsdienst erfahren [8, 9].

Eine Definition des „medizinischen Notfalls“ in der Notfallmedizin ist: die Veränderung im Gesundheitszustand, die nach Ansicht des Patienten selbst oder von Dritten unverzüglich medizinischer oder pflegerischer Betreuung bedarf [10]. Diese unerwarteten, plötzlich auftretenden und bedrohlichen Zustände bedürfen einer objektiven medizinischen Evaluation einerseits, andererseits sind es die Patienten, die ihre Gesundheitsstörung selbst als Notfall definieren und auch den Zugang zum Gesundheitssystem für die Notfallversorgung selbst wählen. Gründe, die Notaufnahmen von Krankenhäusern aufzusuchen, sind ganz unterschiedlich: negative Wahrnehmung der Versorgung außerhalb von Kliniken, Mangel an verfügbaren Terminen im ambulanten Bereich und der Wunsch nach diagnostischer und therapeutischer Vielfalt in Kliniken können eine Rolle spielen [1, 11,12,13].

Patienten, die in die Notaufnahmen kommen, sind heterogen u. a. hinsichtlich ihrer Soziodemografie, ihres Krankheitsstatus, des Bildungsstandes und auch hinsichtlich der Anzahl vorliegender chronischer Erkrankungen [1]. Je nach Definition von „mehrfach chronisch krank“ (≥ zwei oder ≥ drei gleichzeitig vorliegende chronische Erkrankungen/Komorbiditäten) kann von einer Erkrankungsrate bei über 60-jährigen Menschen zwischen 65 % und 98 % ausgegangen werden [14,15,16,17,18,19,20,21]. Personen mit mehreren chronischen Erkrankungen sind häufig von funktionellen Einschränkungen, einer verminderten Lebensqualität, erhöhter Mortalität, erhöhter Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen und daraus resultierenden Kosten betroffen [21,22,23,24].

Aus dem Wunsch vonseiten der Patienten nach sofortiger Verfügbarkeit von komplexer Diagnostik und einer Vielzahl von Spezialisten [1, 25, 26] ergeben sich besondere Herausforderungen für die Behandler in Notaufnahmen und die Betroffenen selbst [1]. Da die Leitlinien meist an Einzelerkrankungen orientiert sind und in der Notaufnahme häufig Informationen zur Vorgeschichte der Patienten fehlen, können Diagnosestellung und Behandlung bei Patienten mit Mehrfacherkrankungen erschwert sein [2, 27]. Hinzu kommt, dass viele Ärzte in den Notaufnahmen auf eine umfassende Versorgung dieser Patientengruppe nicht spezialisiert sind [3].

So sind die Notaufnahmen nicht immer die beste Wahl/Anlaufstelle für komplexe Versorgungsbedarfe [28]. Ambulante Strukturen, gerade im hausärztlichen Setting, bieten insbesondere durch die Kontinuität in der Behandlung durch ein und denselben Arzt die Chance zum besseren Umgang mit chronischen Erkrankungen [29, 30].

Wie auch bei Coster et al. wird aber in dieser Forschungsarbeit angenommen, dass der Grund, eine Notaufnahme aufzusuchen, bei Personen mit mehreren chronischen Erkrankungen seltener die chronische Erkrankung selbst ist, sondern vielmehr ein anderweitiger Konsultationsanlass [31].

Ein Ziel der vorliegenden Forschungsarbeit ist, in Notaufnahmen zu untersuchen, ob Patienten mit mindestens zwei chronischen Erkrankungen im Vergleich zu Patienten mit maximal einer chronischen Erkrankung häufiger oder seltener einen medizinischen Notfall darstellen und ob der Konsultationsanlass sich auf den Status chronisch krank zurückführen lässt.

Es wird untersucht, welche Gründe für das Aufsuchen der Notaufnahme angegeben werden und inwieweit sich diese von den Entlassungsdiagnosen unterscheiden. Zudem wird untersucht, welche Prädiktoren hinsichtlich der Inanspruchnahme ambulanter Strukturen abgeleitet werden können.

Methodik

Die Daten stammen aus der Querschnittsstudie „Patienten in Notaufnahmen norddeutscher Kliniken“ (PiNo-Nord; [1]). Die nachfolgenden Ausführungen bilden grundlegend das Studiendesign der PiNo-Nord Studie ab. Die Erhebung fand an fünf Standorten (Kliniken) im Zeitraum Oktober 2015 bis Juli 2016 statt. Drei Standorte befanden sich in Hamburg und zwei in Schleswig-Holstein. In persönlichen Interviews wurden 1299 Patienten, die ihr Einverständnis gegeben hatten, u. a. nach ihrer Demografie, ihrem Konsultationsanlass, ihren Beschwerden und ihren Komorbiditäten befragt. Im Rahmen einer strukturierten Anamnese, die 13 Organsysteme und Krebserkrankungen umfasste, wurden Krankheiten abgefragt. Es bestand die Möglichkeit, offene Antworten zu geben.

Basierend auf der o. g. PiNo-Population konnten für die vorliegende Forschungsarbeit Daten von 1140 Patienten zum Vorliegen chronischer Erkrankungen ausgewertet werden. Von 159 Patienten lagen keine Daten zu chronischen Erkrankungen vor. Für 1127 Fälle konnten Entlassungsdiagnosen in die Analysen einbezogen werden (für 138 Fälle lag keine Entlassungsdiagnose vor; 18 Teilnehmende verließen das Krankenhaus vor einem Arztkontakt und bei 16 Fällen handelte es sich bei der Entlassungsdiagnose um in unseren Analysen nicht verwertbare Ausschluss-von-Diagnosen).

In den hier dargestellten Analysen wurden folgende Parameter berücksichtigt:

  • Darstellung des Anteils von Patienten mit mindestens zwei bzw. maximal einer chronischen Erkrankung, die im angegebenen Zeitraum in den Notaufnahmen vorstellig wurden und von denen Angaben zu chronischen Erkrankungen erhoben werden konnten,

  • Beschreibung des Patientenkollektivs hinsichtlich:

    • Soziodemografie,

    • subjektiv empfundener Behandlungsdringlichkeit,

  • Darstellung der Konsultationsanlässe und deren Häufigkeiten,

  • Darstellung der Entlassungsdiagnosen und deren Häufigkeiten,

  • Darstellung der Dauer aktueller Beschwerden,

  • Beschreibung der Gründe für die Inanspruchnahme einer Notaufnahme,

  • Berechnung von Prädiktoren für eine vorherige ambulante Behandlung der aktuellen Beschwerden in den letzten 6 Monaten.

Die Ethikkommission der Hamburger Ärztekammer begutachtete und genehmigte die Studie am 22.07.2015 (Bearb.-Nr. PV4993).

In die PiNo-Population wurden alle volljährigen sowie alle minderjährigen Patienten in Begleitung eines Erziehungsberechtigten eingeschlossen, die im Beobachtungszeitraum an der Anmeldung der Notaufnahme bzw. der in der Klinik vorhandenen Anlaufpraxis der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) registriert wurden. Eingeschlossen wurden Fälle nach dem internationalen Manchester-Triage-System (MTS; [32]) mit der Erstgruppierung „nicht dringend“ (blau), „normal“ (grün) und „dringend“ (gelb). Ausgeschlossen wurden Fälle, die nach MTS als „sofort“ (rot) oder „sehr dringend“ (orange) behandlungsbedürftig eingeschätzt wurden oder bei denen nach Aussage des Klinikpersonals sofortiger oder sehr dringender Handlungsbedarf bestand. Ebenfalls ausgeschlossen wurden Fälle mit folgenden Kriterien:

  • schwere funktionelle Einschränkungen des Hör‑, Seh- und Sprachvermögens,

  • hohe Beschwerdelast,

  • verbale Verständigung auf Deutsch/Englisch nicht möglich,

  • keine Einwilligungserklärung vorliegend,

  • Isolierung aufgrund einer Erkrankung,

  • Behandlung ohne Wartezeit,

  • direkte Verlegung in eine andere Abteilung innerhalb des Krankenhauses.

Die soziodemografischen Faktoren und der Gesundheitszustand wurden im Interview mithilfe eines strukturierten Fragebogens erfasst. Im Rahmen unserer Fragestellungen wurden die folgenden Parameter ausgewertet:

  • Alter (in Jahren),

  • Geschlecht (männlich/weiblich),

  • Migrationsstatus (Einheimischer/Migrationshintergrund/Migrant),

  • Bildungsstand (nach Comparative Analysis of Social Mobility in Industrial Nations [CASMIN]; [33]):

    • niedrig (fehlender Schulabschluss/Hauptschulabschluss),

    • mittel (Realschulabschluss/Abitur),

    • hoch (Fachhochschule/Hochschule).

Entlassungsdiagnosen wurden anhand von Freitextangaben nach der Klassifikation ICPC‑2 Organgruppen zugeordnet. Die im Interview angegeben Konsultationsanlässe wurden ebenfalls entsprechend der Klassifikation ICPC‑2 nach Organgruppen codiert. Klinisch Tätige aus dem Institut und der Poliklinik für Allgemeinmedizin schätzten diese Angaben und die Freitextangaben dahin gehend ein, ob diese zu den in der Methodik beschriebenen Erkrankungen zugeordnet werden konnten oder eigene Erkrankungskategorien gebildet werden mussten.

Die Gründe für das Aufsuchen der Notaufnahme wurden im Interview mit offenen Fragen erfasst und anhand des Interviewleitfadens der PiNo-Nord-Studie systematisch nachcodiert.

Über eine von 0 bis 10 reichende numerische Ratingskala wurde die subjektive Behandlungsdringlichkeit von den Patienten selbst eingeschätzt. Anschließend wurden zwei Gruppen gebildet: niedrig (0–5) und hoch (6–10).

Für die vorliegende Arbeit wurden Patienten mit Angaben zu chronischen Erkrankungen aus der PiNo-Population ausgewählt ([14,15,16], s. Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Flussdiagramm Selektion Patientenkollektiv

Eine explorative Datenanalyse wurde durchgeführt. Kategoriale Variablen wurden anhand absoluter und relativer Häufigkeiten dargestellt. Für kontinuierliche Variablen wurden Mittelwert und Standardabweichung und zum Teil zusätzlich Minimum und Maximum angegeben. Im Falle nichtnormalverteilter Parameter wurden das 25./50./75. und für einige Parameter zusätzlich das 95. Perzentil berechnet. Gruppenunterschiede hinsichtlich des Vorliegens von mindestens zwei Komorbiditäten wurden für kategoriale Variablen mittels Chi2-Tests und – für kontinuierliche Variablen nach Überprüfung auf Varianzgleichheit – mit t‑Test unter Annahme ungleicher Varianzen getestet.

In einer multivariaten logistischen Regression (Methode Einschluss, d. h., alle Parameter wurden gleichzeitig in das Modell eingeschlossen) wurden Fälle, die in den letzten sechs Monaten aufgrund der aktuellen Beschwerden ambulant behandelt wurden, verglichen mit Fällen, bei denen dies nicht der Fall war. Das Ziel war, die Inanspruchnahme ambulant ärztlicher Behandlung der aktuellen Beschwerden in den letzten sechs Monaten vor Kontakt in der Notaufnahme statistisch zu erklären. Das Modell wurde für soziodemografische Angaben (Alter, Geschlecht, Familienstand, Migrationsstatus und Bildungsstand) kontrolliert.

Konsultationsanlässe wurden, nach Organgruppen codiert, bei einer Prävalenz größer 5 % in das Regressionsmodell eingeschlossen. Patienten, die vor der Aufnahme in die Zentrale Notaufnahme (ZNA) bereits im Krankenhaus waren bzw. einen Zahnarzt aufgesucht hatten, wurden ausgeschlossen. Die stetigen Parameter Alter und Behandlungsdauer wurden für die multivariate logistische Regression logarithmiert (log10). Ein p-Wert <0,05 wurde als statistisch signifikantes Ergebnis interpretiert. Für die logistischen Regressionen wurden als Gütekriterien das Nagelkerkes R2 und der Hosmer-Lemeshow-Test berechnet. Die Analysen wurden mit der Software IBM SPSS Version 23 und 25 durchgeführt.

Ergebnisse

Das untersuchte Kollektiv setzte sich aus 293 (26 %) Fällen mit mindestens zwei chronischen Erkrankungen und 847 (74 %) Fällen mit maximal einer chronischen Erkrankung zusammen. Die häufigsten Erkrankungen waren Bluthochdruck (18 %), chronische Atemwegserkrankungen (9 %) und Schilddrüsenerkrankungen (9 %).

Patienten mit mindestens zwei chronischen Erkrankungen waren im Vergleich zu Personen mit maximal einer chronischen Erkrankung im Mittel 18 Jahre älter. Das Geschlechterverhältnis war ähnlich (weiblich 49 % vs. 47 %). Patienten mit ≥ zwei chronischen Erkrankungen waren eher verheiratet und lebten mit ihrem Partner zusammen (47 %) oder waren verwitwet (10 %) und hatten häufiger einen Hauptschulabschluss (34 %). Weitere Ergebnisse zur Soziodemografie finden sich in Tab. 1.

Tab. 1 Soziodemografische Daten

Insgesamt 58 % der Patienten mit mindestens zwei chronischen Erkrankungen in der Notaufnahme gaben eine subjektiv hohe Behandlungsdringlichkeit für eine ärztliche Behandlung an, im Vergleich zu 40 % der Fälle mit maximal einer chronischen Erkrankung (p < 0,001, s. Tab. 2). Sowohl diese Patientengruppe als auch Fälle mit niedriger subjektiver Behandlungsdringlichkeit gaben statistisch signifikant häufiger an, aufgrund der jetzt aktuellen Beschwerdesymptomatik bereits in den letzten sechs Monaten ärztliche Behandlung in Anspruch genommen zu haben.

Tab. 2 Subjektive Einschätzung der Erkrankung und Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen nach Status chronisch krank

Der Hausarzt wurde dabei am häufigsten genannt, doch auch Fachspezialisten, Krankenhäuser oder Notdienste dienten als erste Anlaufstelle. Bei Betrachtung der Häufigkeit von Konsultationen in der Hausarztpraxis hatten 5 % der Fälle mit mindestens zwei chronischen Erkrankungen in den letzten sechs Monaten mindestens drei Konsultationen aufgrund ihrer aktuellen Beschwerden, Fälle mit maximal einer chronischen Erkrankung mindestens zwei Hausarztkonsultationen in Anspruch genommen. Ungeachtet der Anzahl chronischer Erkrankungen zeigte sich, dass 70 % der Befragten wegen ihrer aktuellen Beschwerden in den letzten sechs Monaten sowohl ambulant vom Hausarzt, Fachspezialisten oder Notdienst ärztlich versorgt als auch stationär im Krankenhaus behandelt wurden. Von den 306 Patienten, die ihre Hausarztpraxis aufgesucht hatten, waren 28 % zusätzlich aufgrund ihrer aktuellen Beschwerden beim Facharzt vorstellig gewesen, 9 % sind vom Notdienst ärztlich betreut worden und knapp ein Fünftel (19 %) war im Krankenhaus gewesen. In den letzten sechs Monaten hatten 67 % der Interviewten das Versorgungssystem weder ambulant noch stationär aufgrund aktueller Beschwerden in Anspruch genommen.

Bei Betrachtung der Konsultationsanlässe, mit denen die Studienteilnehmenden die Notaufnahme aufgesucht hatten, wurden in der Gesamtgruppe bzw. in den untersuchten Einzelgruppen am häufigsten Traumata am Bewegungsapparat (z. B. Verstauchungen oder Frakturen) genannt. Die Fälle mit maximal einer chronischen Erkrankung gaben doppelt so häufig diesen Beratungsanlass in der Notaufnahme an im Vergleich zu den mehrfach chronisch Kranken. Weitere Anliegen zeigen sich in der Häufigkeit von 3–8 % (s. Zusatzmaterial online, Tab. A1).

Nach Organgruppen betrachtet, waren bei Patienten mit mindestens zwei chronischen Erkrankungen die häufigsten Konsultationsanlässe (Mehrfachantworten waren möglich): Beschwerden am Bewegungsapparat (z. B. Wirbelsäulenbeschwerden, schmerzende Beine, rheumatische Beschwerden), allgemeine bzw. unspezifische Konsultationsanlässe (z. B. allgemeine Müdigkeit und Schwäche, Allergien oder Fieber) und Kreislaufbeschwerden (z. B. Herzinsuffizienz, Bluthochdruck, Thoraxschmerzen). In der Gruppe der Patienten mit max. 1 chronischen Erkrankung wurden am häufigsten ebenfalls Beschwerden am Bewegungsapparat und allgemeine bzw. unspezifische Konsultationsanlässe sowie dermatologische Anlässe (z. B. Schnittwunden, maligne Erkrankungen, Krampfadern) angegeben (siehe Zusatzmaterial online, Tab. A2).

Eine Übersicht der Entlassungsdiagnosen unter Berücksichtigung des Konsultationsanlasses zeigt Tab. 3. Ungeachtet des Status „mehrfach chronisch krank“ zeigte sich eine hohe Übereinstimmung zwischen Konsultationsanlass und Entlassungsdiagnose nach Organgruppen.

Tab. 3 Konsultationsanlässea für das Aufsuchen der Notaufnahme und Anteil der Entlassungsdiagnosena nach Status chronisch krank

In Abb. 2 ist die Beschwerdedauer dargestellt, in den Kategorien „weniger als eine Stunde“ bis zu „über einem Jahr“. Je länger die Beschwerdedauer, desto häufiger gaben die Patienten in dem untersuchten Kollektiv an, bereits ambulante ärztliche Strukturen aufgrund ihrer aktuellen Beschwerden in Anspruch genommen zu haben. Der Großteil beider Patientengruppen kam mit einer Beschwerdedauer von weniger als drei Tagen in die Notaufnahme. Bei den Fällen mit ≥ zwei chronischen Erkrankungen zeigte sich, dass häufiger bei einer längeren Beschwerdedauer von drei oder mehr Tagen die Notaufnahme aufgesucht wurde. Bei Betrachtung der Beschwerdedauer in Verbindung mit den Entlassungsdiagnosen zeigte sich, dass 36 % der Patienten mit ≥ zwei chronischen Erkrankungen mit einer Entlassungsdiagnose im Bereich Bewegungsapparat eine Beschwerdedauer von weniger als sechs Stunden angaben, bevor die Notaufnahme aufgesucht wurde.

Abb. 2
figure 2

Dauer der Beschwerden nach Status mehrfach chronisch krank

Patienten äußerten ganz unterschiedliche Gründe, mit ihrem Anliegen die Notaufnahme aufzusuchen, z. B. Stärke der Beschwerden, Zunahme der Beschwerden oder Angst vor gefährlichen Verläufen (siehe Tab. A3, Zusatzmaterial online). Beide Patientengruppen gaben ähnlich häufig die gleichen Gründe an. Die Befragten sahen in der Verfügbarkeit oder der Kompetenz der hausärztlichen oder fachärztlichen Versorgung in den Notaufnahmen (98 %) als auch den diagnostischen oder Behandlungsmöglichkeiten (94 %) selten einen Grund für das aktuelle Aufsuchen der Notaufnahme. Patienten mit mindestens zwei chronischen Erkrankungen sahen eher die Möglichkeit, stationär aufgenommen zu werden (3 % vs. 1 %). Über mögliche Alternativen zur Notaufnahme hatten beide Patientengruppen (100 % vs. 99 %) mehrheitlich nicht nachgedacht.

Empfehlungen, die Notaufnahme aufzusuchen, kamen bei den Befragten von unterschiedlichen Personen. Knapp 40 % aller Befragten gingen auf eigenen Entschluss in die Notaufnahme. Statistisch signifikant häufiger gingen Patienten mit ≥ zwei chronischen Erkrankungen auf Anraten anderer Personen mit ihrem Anliegen in die Notaufnahme (38 % vs. 26 %; s. Zusatzmaterial online, Abb. A1). Am häufigsten wurden das private Umfeld mit Ehe‑/Lebenspartnern, Angehörigen oder Bekannten (39 % vs. 18 %) bzw. die Empfehlung/Einweisung des Hausarztes (61 % vs. 72 %) genannt. Von 114 Befragten, die auf Empfehlung ihres Hausarztes oder eines Fachspezialisten die Notaufnahme aufsuchten, gaben gleichzeitig 10 % (n = 11) an, dass sie diesen Rat auch vom privaten Umfeld erhielten.

In einer ersten multivariaten logistischen Regression wurden als Prädiktoren für ein vorheriges Aufsuchen ambulanter Strukturen die Beschwerdedauer (p < 0,001), die subjektive Behandlungsdringlichkeit (p = 0,034), das Vorhandensein von mindestens zwei Komorbiditäten (p = 0,015) und der Migrationsstatus „Einheimischer mit Migrationshintergrund“ (p = 0,043) identifiziert (s. Zusatzmaterial online, Tab. A4). Mit zusätzlichem Einschluss der Konsultationsanlässe in eine zweite multivariate logistische Regression verloren sowohl die subjektive Behandlungsdringlichkeit (p = 0,204) als auch der Migrationsstatus (p = 0,070) ihren Einfluss, wohingegen ein den Bewegungsapparat betreffender Konsultationsanlass (p = 0,003) als neuer Prädiktor für das vorherige Aufsuchen ambulanter Strukturen identifiziert werden konnte. Das Vorhandensein von mindestens zwei chronischen Erkrankungen (p = 0,022) sowie die Beschwerdedauer (p < 0,001) zeigten in diesem zweiten Modell weiterhin einen signifikanten Einfluss (s. Tab. 4).

Tab. 4 Prädiktoren für das Aufsuchen einer ambulanten ärztlichen Behandlung in den letzten 6 Monaten vor Notaufnahme aufgrund der aktuellen Beschwerden (Regressionsmodell 1 mit ICPC‑2)

Diskussion

Ziel der Untersuchung war es, die Häufigkeit von Patienten mit mindestens zwei und maximal einer chronischen Erkrankung in norddeutschen Notaufnahmen zu erfassen, zu beschreiben und hinsichtlich verschiedener Faktoren auszuwerten. Das Ergebnis liefert einen wichtigen Anhaltspunkt dafür, ob wir es mit einer besonderen Patientenklientel zu tun haben, und ermöglicht einen Ausblick zum Stellenwert und Ausbau ambulanter Strukturen.

In unserer Studie lag der Anteil von Patienten mit mindestens zwei chronischen Erkrankungen bei 25 %. In dieser Patientengruppe beurteilten knapp 60 % ihre subjektive Behandlungsdringlichkeit als hoch. In der Vergleichsgruppe war dieses Zahlenverhältnis umgekehrt. Übereinstimmend dazu zeigten andere Studien bei jüngeren Personen eine subjektiv niedrigere Behandlungsdringlichkeit im Vergleich zu Älteren [2, 34]. Die Patienten mit maximal einer chronischen Erkrankung waren in unserer Studie im Mittel 18 Jahre jünger als die Vergleichsgruppe.

Aufgrund ihrer aktuellen Beschwerden waren 40 % der Patienten mit mindestens zwei chronischen Erkrankungen bereits vor Aufsuchen der Notaufnahme in ärztlicher Behandlung beim Hausarzt oder Fachspezialisten. Schleef et al. berichteten in ihrer Studie von allgemeinmedizinisch versorgten Patienten in einer universitären Notaufnahme von einem Patientenanteil von 47 % mit mindestens einem vorherigen Arztkontakt aufgrund der aktuellen Beschwerden [35]. Gründe für das Aufsuchen der Notaufnahme können in dem Auftreten einer akuten Notfallsituation, passend zu dem in unserer Studie häufigsten Konsultationsanlass Trauma am Bewegungsapparat (z. B. Verstauchungen oder Frakturen), oder in der Unzufriedenheit mit der ambulanten ärztlichen Vorversorgung liegen [11].

Unsere Untersuchung zeigt, dass Patienten mit mindestens zwei chronischen Erkrankungen im Vergleich zu Patienten mit maximal einer chronischen Erkrankung mit 33 % vs. 42 % Trauma am Bewegungsapparat einen echten medizinischen Notfall darstellten und der Konsultationsanlass nicht auf den Status chronisch krank zurückführbar war.

Weiterhin konnte gezeigt werden, dass knapp 40 % der Patienten mit mindestens zwei chronischen Erkrankungen aufgrund ihrer aktuellen Beschwerden in den letzten 6 Monaten hausärztliche Behandlung in Anspruch genommen hatten, bevor sie die Notaufnahme aufsuchten. Die Ausstattung hinsichtlich Diagnostik oder Therapie sowie die Kompetenzen im ambulanten Bereich schienen für die Entscheidung, in die Notaufnahme zu gehen, keine Rolle zu spielen. Unseren Daten zeigten dahin gehend keine auffälligen Unterschiede zwischen Patienten mit mindestens zwei und maximal einer chronischen Erkrankung. Die in anderen Studien [36, 37] beschriebene Erwartungshaltung einer besseren Versorgung in der Notaufnahme konnte als Barriere zur Inanspruchnahme ambulanter Versorgungsstrukturen in unserer Studie nicht nachgewiesen werden.

Unabhängig von der Anzahl chronischer Erkrankungen wurden in allen Organgruppen hohe Übereinstimmungen der Entlassungsdiagnosen mit den Konsultationsanlässen festgestellt. Die Gegenüberstellung der ICPC-2-Kategorien von Konsultationsanlass und Entlassungsdiagnose zeigt eine hohe Übereinstimmung mit Anteilen von 50–100 %. Ähnliche Raten zeigte Ruud et al. [38]. Der Großteil aller Befragten gab eine Beschwerdedauer von nur wenigen Stunden bis zu drei Tagen vor dem Aufsuchen der Notaufnahme an. Dies deckt sich mit Daten von Schleef et al., bei 30 % von Selbstzuweisern bestanden die Beschwerden seit demselben Tag [35]. Der Anteil der Patienten mit maximal einer chronischen Erkrankung war in diesem Beschwerdezeitraum höher im Vergleich zu der Gruppe mit mindestens zwei chronischen Erkrankungen. Diese Patientengruppe gab auch doppelt so häufig als Konsultationsanlass Traumata am Bewegungsapparat an, wodurch ihr zeitnahes Aufsuchen der Notaufnahme hinreichend begründet werden kann.

In unserer Untersuchung konnte im Gesamtkollektiv eine längere Beschwerdedauer als Prädiktor für eine vorherige Inanspruchnahme ambulanter Strukturen identifiziert werden.

Als weitere Prädiktoren wurden das Vorliegen von mindestens zwei chronischen Erkrankungen, ein den Bewegungsapparat betreffender Konsultationsanlass sowie subjektiv hohe Behandlungsdringlichkeit identifiziert [35].

Es gibt Überlegungen und Modelle, dass im Gesundheitswesen die Patientenströme in Richtung Notaufnahmen vorher gezielt „umgeleitet“ werden können. Politik und Selbstverwaltung arbeiten an einer Lösung zur Ersteinschätzung des Gesundheits- bzw. Krankheitszustandes, bevor ein Patient die Notaufnahme im Krankenhaus aufsucht. Dies könnten integrierte Notfallzentren bzw. Portalpraxen an Krankenhäusern sein. Der dort angestellte, erfahrene Arzt beurteilt, an welche Stelle der Patient weiter überwiesen werden soll, ggf. dann auch in die Notaufnahme [8].

Über die bundesweite einheitliche Nummer 116117 ist der ärztliche Bereitschaftsdienst außerhalb der Sprechzeiten niedergelassener Ärzte erreichbar. Auf diesem Weg können Patienten in dringenden medizinischen Fällen ambulant behandelt werden – auch nachts, an Wochenenden und an Feiertagen. Seit mehr als sechs Jahren gibt es diesen Bereitschaftsdienst, der aber vielen Menschen noch nicht bekannt ist [9]. Hinsichtlich ihres Bekanntheitsgrades zeigte sich schon in den von Scherer et al. 2017 publizierten Ergebnissen zur PiNo-Nord Studie, dass die KV-Notfallversorgung deutlich weniger als der Hälfte der Patienten geläufig ist [1].

Ein weiterer Ansatz sind Überlegungen zur Ausdehnung der Öffnungszeiten von Arztpraxen in die Abendstunden und am Wochenende, um die Wartezeiten auf Termine zu verkürzen [39].

Durch eine langjährige Anbindung an den Hausarzt können die komplexen Problemlagen von Patienten mit mehreren gleichzeitig vorhandenen chronischen Erkrankungen aufgrund der Patientenvorgeschichte besser eingeschätzt und Problemlagen priorisiert werden, die zur Erschwernis in Diagnostik und Therapie führen. Die negativen Folgen für den Patienten, wie z. B. Hospitalisierungen, schlechtere Lebensqualität, Einschränkung der Funktionalität, könnten reduziert werden. Daher wäre ein Ausbau dieser Strukturen wünschenswert [21,22,23,24].

Stärken und Limitationen der Untersuchung

Insgesamt konnte ein 1140 Patienten umfassendes, großes Kollektiv hinsichtlich verschiedener Fragestellungen untersucht werden. Einschränkend muss bedacht werden, dass es sich bei der Untersuchungsklientel um Patienten aus großen norddeutschen Universitätsstädten handelt (4 von 5) ohne Berücksichtigung des ländlichen Raumes in Norddeutschland. Die Angaben zu den Erkrankungen stammen aus persönlichen Interviews. Nicht alle abgefragten Erkrankungen stellen chronische Erkrankungen dar ([14,15,16], s. Abb. 1). Eine Stärke zeigte sich in der Einschätzung und konsentierten Klassifizierung von Freitextangaben durch die Vorerfahrungen der klinisch Tätigen auf dem Forschungsgebiet Multimorbidität. Bei den Patientencharakteristika wurde auf das gleichzeitige Vorliegen von mindestens zwei chronischen Erkrankungen fokussiert, unabhängig von der Dauer der Erkrankung oder der Stärke der Beschwerden. Auch Krankheitskonstellationen wurden nicht berücksichtigt.

Unabhängig der Anzahl chronischer Erkrankungen war der Anteil der Patienten, die in den letzten sechs Monaten aufgrund ihrer aktuellen Beschwerden ambulante Strukturen wie Hausarzt/Facharzt oder Notdienst aufgesucht hatten, geringer als der Anteil derer, die diese Strukturen nicht aufgesucht hatten. Auf Grundlage der Daten kann nicht weiter differenziert werden, welche spezielle Einrichtung, wie Hausarzt/Facharzt oder KV-Notdienst, sie aufgesucht hatten.

Aufgrund der geringen Fallzahl sind die statistisch auffälligen Ergebnisse hinsichtlich der klinischen Relevanz mit Vorsicht zu interpretieren. Dies gilt z. B. für die 1 % Patienten mit mindestens zwei chronischen Erkrankungen, welche angaben, bei Aufsuchen der Notaufnahme die Möglichkeit, stationär aufgenommen zu werden, im Blick zu haben.

Da es sich bei dem Regressionsmodell, das in Tab. 4 und Tab. A4 (Zusatzmaterial online) vorgestellt wird, um ein präfinales Modell handelt, könnten die identifizierten Einflussvariablen verzerrt sein. Bei dem zur Modellgüte berechneten Nagelkerkes R2 handelt es sich um ein Pseudo-R-Quadrat, welches vergleichbar in beiden Modellen zu einer quasi erklärten Varianz von 41 % (Zusatzmaterial online, Tab. A4) bzw. 42 % (Tab. 4) führt. Der zur weiteren Interpretation der Modellgüte berechnete Hosmer-Lemeshow-Test beruht auf einer Chi2-Statistik und zeigt damit im Vergleich der beiden Regressionsmodelle seine rechnerische Anfälligkeit bei größeren Stichproben (>1000 Beobachtungen): Während im Rechenmodell mit weniger Kovariaten und einer Stichprobengröße von 1008 Fällen der Chi2-Wert 17,133 beträgt und damit die Teststatistik signifikant wird, zeigt sich in dem Rechenmodell mit Einbezug zusätzlicher Kovariaten (Konsultationsanlässe) und insgesamt 919 Beobachtungen ein akzeptabler Chi2-Wert von 8759 [40, 41].

Fazit

Die hier untersuchte Klientel nutzt vor dem Aufsuchen der Notaufnahme die ambulanten Strukturen. Dabei ist es unerheblich, ob es sich um gesunde oder chronisch kranke Personen handelt. Somit ist diese Personengruppe nicht dafür verantwortlich, dass die Notaufnahmen überfüllt sind. Die häufigsten angegebenen Konsultationsanlässe sind mit Verletzungen, wie Frakturen am Bewegungsapparat, medizinische Notfälle, die in Notaufnahmen behandelt werden müssen.

Die hier vorgestellte Untersuchung zeigt, dass ambulante Strukturen in der untersuchten Klientel bekannt sind und genutzt werden. Die Arbeitsbelastung in Notaufnahmen könnte durch einen Ausbau und die weitere Etablierung dieser Strukturen verringert werden.