Zusammenfassung
Gewalt gegen alte Menschen ist – schon im Hinblick auf die demografische Entwicklung – ein gesellschaftlich und gesundheitspolitisch, aber auch in der Forschung immer noch vernachlässigter Themenbereich. Die Definitionen zur Gewalt sind je nach Fachdisziplin unterschiedlich und nicht einfach zu formulieren. Bevorzugt wird in der Gerontologie ein eher weiterer Rahmen zur Beschreibung des Phänomens Gewalt. Deren Formen sind mehrschichtig und vielfältig (z. B. körperliche Gewalt, psychische Gewalt, Freiheitseinschränkung, Vernachlässigung, finanzielle Ausbeutung sowie strukturelle und kulturelle Gewalt). Jede Gewalthandlung bedeutet prinzipiell auch einen Rechtsbruch. Gewalt kann im öffentlichen Raum sowie im familiären und institutionellen Bereich (Klinik und ambulante sowie stationäre Altenpflegeeinrichtungen) auftreten. Häufigkeitsangaben für den familiären Bereich liegen um 25 %, für den stationären zwischen 11 und 24 %. Gewalthandlungen sind meist Ausdruck von Hilflosigkeit, Scham, Ohnmacht, Überforderung, mangelhafter Unterstützung und Unkenntnis von Alternativen. Oft besteht eine pathologische Beziehung, in der die Rollen von „Täter“ und „Opfer“ wechseln können. Gewalthandlungen haben massive Folgewirkungen für die Betroffenen. Präventive Maßnahmen zu Verringerung von Gewalt haben mehrere Ansatzpunkte (z. B. Gesellschaft, Region, Institution, Professionelle). Bisher gibt es für Opfer im höheren Lebensalter kaum Anlaufstellen und professionelle Hilfe.
Abstract
Elder abuse is—especially in view of the demographic development—a topic that is still neglected socially and in health policy, but also in terms of scientific research. There are different definitions of violence and these can be difficult to formulate, depending on the field. In gerontology, a rather broad frame is usually used to describe the phenomenon of violence. Its shapes are multilayered and diverse (e.g., physical, psychological, restriction of freedom, neglect, financial exploitation, and structural and cultural). In principle, any act of violence is also a breach of the law. Violence can occur in public places and in family and institutional settings (e.g., hospital and outpatient and inpatient care for the elderly). The statistical occurence in family settings is around 25 % and in institutional settings between 11 and 24 %. Acts of violence are usually an expression of helplessness, shame, overwork, poor support and lack of knowledge of alternatives. Often there is a pathological relationship, in which the roles of “perpetrators” and “victims” can change. Acts of violence have massive consequences for those affected. Preventative measures to reduce violence have various points of departure (e.g., company, region, institution, professional). So far, there are hardly any points of contact and professional assistance for elderly victims.
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Hirsch, R. Gewalt gegen alte Menschen. Bundesgesundheitsbl. 59, 105–112 (2016). https://doi.org/10.1007/s00103-015-2268-5
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