Ein Blick in das von der E-Health-Initiative des Bundesgesundheitsministeriums gegründete Deutsche Telemedizinportal macht deutlich: Es gibt eine Vielzahl an Projekten zum Einsatz telemedizinischer Verfahren bei diversen Krankheitsbildern. Im Juli 2015 waren dort über 200 einzelne Projekte verzeichnet. Deutlich wird aber auch, dass nur wenige telemedizinische Verfahren regelhaft angewendet werden und die Nutzung in Deutschland regional sehr unterschiedlich verteilt ist. Aktuell werden nur drei telemedizinische Leistungen, u. a. die Funktionsanalyse eines Herzschrittmachers mittels telemetrischer Abfrage, im Rahmen der Vergütungskataloge oder expliziter gesetzlicher Regelungen finanziert. Dies steht nicht nur im Widerspruch zu internationalen Entwicklungen, sondern auch zu den offensichtlichen Nutzenpotenzialen der Telemedizin.

Telemedizin, verstanden als die Therapie, Beratung und Diagnostik via Nutzung moderner Telekommunikations- und Informationstechnik über Ortsgrenzen hinweg, weist ein vielfältiges Anwendungsspektrum auf. Sie kann entweder zwischen Arzt/Ärztin und Patient/Patientin („doc2patient“) oder zwischen zwei Ärzten/Ärztinnen, bspw. Haus- und Facharzt („doc2doc“) eingesetzt werden. Sie kann in drei unterschiedlichen Formen Anwendungen finden. Dazu gehören:

  • Telekonsile zum interdisziplinären Austausch zwischen ärztlichen Kolleginnen und Kollegen, z. B. bei Tele-Tumorkonferenzen,

  • Telemonitoring zum kontinuierlichen Monitoring von Vitalparametern durch medizinische Spezialisten, z. B. das Blutdruckomonitoring,

  • Teletherapie, wie z. B. die internetgestützte Psychotherapie.

Telemedizinischen Anwendungen werden vor dem Hintergrund des demografisch-epidemiologischen Wandels und des Mangels an medizinischen Fachkräften vielfältige Potenziale für die Sicherstellung einer zukunftsorientierten und effizienten Patientenversorgung zugeschrieben. Zu den Vorteilen gehören dabei u. a.:

  • Sicherstellung einer wohnortnahen und qualitativ hochwertigen Versorgung auch in ländlichen Regionen,

  • erhöhte Sicherheit für die Patientinnen und Patienten durch ein kontinuierliches Monitoring und zusätzliche ärztliche Expertise bspw. in Form von Televisiten,

  • Reduktion von vermeidbaren Hospitalisierungen und damit verbundenen Transportkosten durch frühzeitiges Erkennen von Komplikationen

  • Vermeidung von belastenden Doppeluntersuchungen, da Informationen zur Patientin bzw. zum Patienten gebündelt und ortsunabhängig zur Verfügung stehen,

  • Zeitersparnisse für Ärztinnen und Ärzte sowie Patientinnen und Patienten, da Visiten, z. B. Kontrolluntersuchungen, auch via Telemedizin abgehalten werden können.

Die hier benannten Vorteile haben sich sowohl in wissenschaftlichen Studien als auch in verschiedenen Modellprojekten bestätigt. Da erscheint es auf den ersten Blick bemerkenswert, dass telemedizinische Programme noch nicht weiter verbreitet und in den Vergütungskatalogen zu finden sind. Für diesen Umstand gibt es jedoch mehrere Gründe. Zum einen spielen Bedenken hinsichtlich der Sicherung des Datenschutzes und der Datensicherheit („IT-Sicherheit“) eine wichtige Rolle. Dem Datenschutz kommt zu Recht eine hohe Bedeutung zu, zählen Gesundheitsdaten doch zu den sensibelsten Daten überhaupt und sind daher besonders schützenswert. Weiterhin erschweren die oft proprietären Lösungen eine überregionale Versorgung, da die eingesetzten Systeme nicht kompatibel zueinander sind – fehlende Interoperabilität ist hier das Stichwort. Dies ist immer noch ein durchgängiges Problem, obwohl bereits international anerkannte Standards im Gesundheitswesen existieren und Organisationen wie IHE Deutschland (IHE: Integrating the Healthcare Enterprise) die Standardisierung im Gesundheitswesen fördern. Und nicht zuletzt spielt der für eine Aufnahme in den GKV-Leistungskatalog notwendige Nachweis des Nutzens eine wichtige Rolle. Viele Anwendungen haben ihren Nutzen in (internationalen) Studien bereits gezeigt. Bei einigen telemedizinischen Programmen finden sich jedoch widersprüchliche Studienergebnisse, und/oder die Art der Evaluation entspricht nicht den vom Gemeinsamen Bundesausschuss sowie Teilen der Selbstverwaltung vorgegebenen Kriterien.

Dieses Schwerpunktheft hat zum Ziel, einen umfassenden Überblick über den Status quo der Telemedizin in Deutschland sowie über erfolgreiche Anwendungsbeispiele zu liefern. Die Beiträge zeigen einerseits am Beispiel des Universitätsklinikums Aachen, wie telemedizinische Anwendungen eine hochwertige Versorgung sicherstellen können. Andererseits wird aufgezeigt, welche Hemmnisse eine Verbreitung verhindern, warum die richtige Nutzenbewertung so wichtig ist, welche technischen Lösungen bereits existieren und wie wichtig der Schutz von Gesundheitsdaten bei telemedizinischen Verfahren aller Art ist.

Prof. Gernot Marx und Kolleginnen und Kollegen vom Universitätsklinikum Aachen stellen in ihrem Beitrag drei telemedizinische Anwendungsfälle im Rahmen der Telekooperation für eine innovative Versorgung dar. Sie fokussieren dabei den Einsatz von Telemedizin in der Intensivmedizin, den sog. Telenotarzt und die telemedizinisch gestützte Rehabilitationsplanung über Sektorgrenzen hinweg bei geriatrischen Traumapatientinnen und -patienten. Sie berichten von internationalen Projekten, die bereits den Nutzen von Telekooperationen gezeigt haben, und von den bisherigen Projekterfahrungen. Dabei zeigen die Autoren die bereits erzielten Erfolge auf, z. B. hat es der Telenotarzt in die regelhafte Versorgung der Stadt Aachen geschafft, und auch die Teleintensivmedizin hat ganz aktuell den Sprung vom Projektstatus in die Regelversorgung erreicht.

Rainer Beckers und Veronika Strotbaum vom ZTG Zentrum für Telematik und Telemedizin weisen in ihrem Artikel darauf hin, dass unter den aktuellen Rahmenbedingungen des Gesundheitswesens in Deutschland der jeweils angemessenen Bewertung des Nutzens eine entscheidende Rolle zukommt. Sie machen deutlich, dass telemedizinische Anwendungen vielfach nur mit geringen Patientenrisiken verbunden sind und oftmals keine neuen medizinischen Modelle bzw. Methoden darstellen, sondern vielmehr prozessuale Veränderungen. Ein Nutzennachweis nach dem Design von randomisiert-kontrollierten Studien (RCT) ist daher nicht immer notwendig, vielmehr ist ein pragmatisches Evaluationsdesign legitim. In diesem Zusammenhang schlagen sie ein Kategorienmodell vor, das Telemedizin in drei Kategorien unterteilt und jeweils unterschiedliche Ansprüche an die notwendige Evaluation stellt.

Hans-Joachim Brauns und Wolfgang Loos von der Deutschen Gesellschaft für Telemedizin berichten in ihrem Beitrag über den aktuellen Stand, aber auch die Perspektiven telemedizinischer Verfahren in Deutschland. Sie zeigen Hemmnisse der flächendeckenden Verbreitung auf, verweisen jedoch auch auf die Fortschritte der letzten Jahre, wie z. B. die Gründung der E-Health-Initiative der Bundesregierung und aktuelle Gesetzesvorhaben. Sie verweisen auf die regional sehr unterschiedliche Förderung und politische Unterstützung in den einzelnen Ländern und plädieren dafür, Telemedizin auch bundesweit zu fördern.

Die Bedeutung der Bundesländer bei der Etablierung telemedizinischer Anwendungen wird ebenfalls im Beitrag von Rainer Beckers vom ZTG aufgezeigt. Im Artikel werden einzelne Telemedizin-Initiativen der Bundesländer vorgestellt, wobei ein Schwerpunkt auf den Erfahrungen in der Landesinitiative eGesundheit.nrw, welche die ZTG GmbH koordiniert, liegt. Der Autor stellt heraus, dass je nach Anwendungsfall regionale Projekte weiterhin eine wichtige Rolle spielen und an die regionalen Versorgungsprobleme und Gegebenheiten vor Ort (ländliche vs. urbane Region) angepasst werden können, während andere Verfahren, insbesondere das Telemonitoring, eher als nationale Aufgaben zu sehen sind.

Die Autoren Wolfgang Deiters und Salima Houta vom Fraunhofer Institut für Software und Systemtechnik verweisen in ihrem Beitrag auf die Bedeutung einer intersektoralen Kommunikation unter den behandelnden Ärztinnen und Ärzten und darauf, welchen Beitrag IT hier leisten kann. Sie stellen die elektronische Fallakte (EFA) vor, auf deren Basis ein effizienter und zweckgebundener Austausch von behandlungsbezogenen Informationen möglich wird. Sie bietet zudem die Option, telemedizinische Lösungen zu unterstützen. Die EFA wird durch den gemeinnützigen Verein Elektronische FallAkte e. V. betreut. Die Autoren berichten vom Konzept der EFA und stellen beispielhafte Anwendungsszenarien vor. Standards und Interoperabilität sind zentral bei der flächendeckenden Verbreitung von Telemedizin und Telematik im Gesundheitswesen. Internationale Standards sind hierbei hilfreich.

Aus diesem Grund stellen Björn Bergh und Kollegen vom Universitätsklinikum Heidelberg die Initiative „Integrating the Healthcare Enterprise (IHE)“ vor, in der sich Anwenderinnen und Anwender sowie Hersteller mit Bezug zum Gesundheitswesen mit der Nutzung von definierten Standards für konkrete Anwendungsfälle beschäftigen. Dies geschieht durch Beschreibung in sogenannten Profilen. Sie machen deutlich, dass sich nahezu alle relevanten Telemedizinszenarien mithilfe von IHE-Profilen umsetzen lassen.

Dass bei telemedizinischen Anwendungen dem Schutz der Gesundheitsdaten eine essentielle Bedeutung zukommt, machen Andrea Voßhoff als Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationssicherheit und Kollegen deutlich. Insbesondere muss vermieden werden, dass Daten an Dritte weitergegeben werden und damit die ärztliche Schweigepflicht unterlaufen wird. Auch sog. Big-Data-Anwendungen stellen eine Gefahr dar. Sie fordern, dass Patientenrechte durch den Gesetzgeber besser geschützt werden müssen. Zudem plädieren die Autoren in ihrem Beitrag an die Betreiber sowie Nutzerinnen und Nutzer von Telematikinfrastrukturen, wozu auch die elektronische Gesundheitskarte gehört, dafür, ein Sicherheitskonzept für Datenschutz und Datensicherheit zu entwickeln und im Alltag anzuwenden.

Telemedizinische Anwendungen werden bei der Sicherstellung einer hochwertigen medizinischen Versorgung in Zukunft wichtiger werden. Die Medizin, der Gesetzgeber, die Selbstverwaltung, die Hersteller, Anwenderinnen und Anwender und die Wissenschaft sind gefordert, den Prozess aktiv zu begleiten und die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Unter ethischen Gesichtspunkten darf es nicht dazu kommen, dass nur Patientinnen und Patienten von bestimmten Krankenkassen oder aus bestimmten Regionen die Vorteile einer telemedizinischen Mitbetreuung zu Gute kommen. Gleichzeitig darf Telemedizin keineswegs dazu missbraucht werden, Ärztinnen sowie Ärzte oder andere Gesundheitsberufe vor Ort durch Technik allein aus Kostengründen zu ersetzen. Telemedizin ergänzt die persönliche Arzt- und Patientenbeziehung, ersetzt sie jedoch keinesfalls. Der entscheidende Vorteil der Telemedizin ist die Verfügbarkeit von medizinischem Expertenwissen für Personal sowie für Patientinnen und Patienten unabhängig von Zeit und Raum.

Regionale Pilotprojekte werden weiterhin wichtig bleiben, um die Machbarkeit telemedizinischer Anwendungen und die Akzeptanz bei den Anwenderinnen und Anwendern zu testen. Zudem hat jede Region in Deutschland ihre eigenen Herausforderungen bezüglich der Sicherstellung der Versorgung.

Die (gesundheitsökonomische) Evaluation ist bei nahezu allen telemedizinischen Diensten sehr wichtig und sollte stets ein immanenter Teil von Projekten bzw. Vorhaben sein. Telemedizin soll sich zu keinem Zeitpunkt konstruktiver Kritik entziehen. Gleichzeitig ist jedoch darüber zu diskutieren, ob nicht auch qualitativ hochwertige Studien, die nicht das RCT-Design aufweisen, von den Entscheidungsträgern im Gesundheitswesen als Nutzennachweis akzeptiert werden können.

Die in diesem Schwerpunktheft enthaltenen Artikel zeigen den aktuellen Stand der Telemedizin in Deutschland, berichten über Fortschritte und Erfolge aus beispielhaften Anwendungen und stellen gleichzeitig die noch zu bewältigenden Aufgaben auf dem Weg zu einer flächendeckenden Verbreitung vor. In diesem Sinne bedanken wir uns bei allen Autorinnen und Autoren für die interessanten Beiträge – und wünschen Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, eine informative Lektüre und viele neue Anregungen.

Ihre

Gernot Marx und Rainer Beckers

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