Zusammenfassung
Die Frage nach der „Beherrschbarkeit von Infektionsrisiken“ kommt häufig genug leider erst dann auf, wenn ein Arzt oder eine medizinische Einrichtung mit dem Vorwurf konfrontiert werden, schuldhaft einen Gesundheitsschaden, zum Beispiel eine postoperative Wundinfektion, herbeigeführt zu haben. Welche Infektionsrisiken voll beherrschbar sind und wer für eine nosokomiale Infektion (NI) haften muss, ist indes in erster Linie keine rechtliche, sondern eine medizinisch-fachliche Frage. Die Haftung eines Arztes (einer Einrichtung) wird häufig mit dem (vermeintlichen) Rechtsbegriff „hygienisch beherrschbares Risiko“ assoziiert. Ob ein solches gegeben ist, ergibt sich aus Hygienestandards von Fachgesellschaften, Kommissionen und anderen sonst berufenen Einrichtungen. Deren Veröffentlichungen werden von der Rechtsprechung häufig als Standard bezeichnet, aber auch andere Termini wie Regel, Richtlinie, Leitlinie oder Empfehlung werden in Urteilen synonym verwendet. Die Ableitung zukunftsgerichteter rechtlicher Handlungsmaßstäbe erfordert eine systematische vom Gesetz ausgehende rechtliche Analyse. Zentrale Haftungsvoraussetzung ist gemäß § 280 Absatz 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) eine Pflichtverletzung des Arztes beziehungsweise der Einrichtung gegenüber dem Patienten. Diese Regelung akzeptiert, dass sich im Bereich NI Risiken verwirklichen können, die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik auch bei pflichtgemäßem Handeln gegenwärtig nicht vermeidbar sind. Deshalb ist im Haftungsprozess oft die Frage zu beantworten, welche Hygienemaßnahmen nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft zum Zeitpunkt des Schadensereignisses geboten und damit stets einzuhalten waren. Hier wird der Bereich der rechtlichen Maßstabsbildung verlassen und auf der Medizin eigene Maßstäbe abgestellt. Diese fachlichen Maßstäbe sind Gegenstand der Beweiserhebung durch das Gericht, zumeist im Wege der Einholung von Sachverständigengutachten. Wenn eine Beweiserhebung zu keinem eindeutigen Ergebnis geführt hat, stellt sich die Frage nach der Beweislast. Für den Kläger können Beweiserleichterungen greifen, wenn er darlegen kann, dass seine Infektion aus dem Bereich der Klinik beziehungsweise der Praxis hervorgegangen ist. Dann ist es an dem oder den Beklagten (Arzt, Krankenhausträger und andere), sich zu entlasten, indem er darlegt, dass in seinem Bereich alle Hygienestandards eingehalten wurden und ihn deshalb kein Verschulden trifft. Hygienestandards sollten, damit sie von Sachverständigen als zuverlässige Quelle herangezogen werden können, bestimmten Qualitätskriterien genügen: Eine Aussage über ein gebotenes Tun oder Unterlassen muss nachvollziehbar dargelegt sein. Dies ist dann gegeben, wenn in einer Veröffentlichung die herangezogene Fachliteratur zitiert und erläutert wird. Ein Entwurf sollte mit den Adressaten im Rahmen einer Anhörung im Vorfeld beraten werden; dies dient erheblich der Verbreitung und der Akzeptanz. Werden solche Empfehlungen (Standards) mit Evidenzkategorien versehen, kann jeder Leser, also auch ein Gutachter für Gerichte eine Beurteilung zur Verbindlichkeit einer Aussage vornehmen. Auch endogene NI haben ein beachtliches Präventionspotenzial. Dies lässt sich vor allen Dingen anhand der Empfehlung zur Prävention postoperativer Infektionen im Operationsgebiet der Richtlinie für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention belegen. Ein sensibler Bereich im breiten Fragenspektrum zum beherrschbaren Risiko ist die Wahrung von Freiheitsrechten. Die Isolierung zum Beispiel eines MRSA-Trägers ist für medizinische Einrichtungen auch deshalb eine besondere Herausforderung, weil für Patienten wie deren Besuchern nachvollziehbar vermittelt werden muss, warum die Bewegungsfreiheit unter Umständen recht drastisch, aber dennoch gerechtfertigt eingeschränkt werden muss.
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Nassauer, A., Fouquet, H. & Mielke, M. Zur Beherrschbarkeit von Infektionsrisiken – Primum non nocere. Bundesgesundheitsbl. 52, 689–698 (2009). https://doi.org/10.1007/s00103-009-0873-x
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