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Verantwortung und Solidarität bei der Adipositasprävention

Responsibility and solidarity in obesity prevention

  • Leitthema
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Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz Aims and scope

Zusammenfassung

Beim Versuch, die Adipositasproblematik zu lösen, entstehen Kontroversen über das Verhältnis zwischen Eigenverantwortung und Solidarität. Es ist umstritten, welche Lasten kollektiv und welche individuell zu tragen sind. Die Streitigkeiten rühren maßgeblich daher, nicht hinreichend zu berücksichtigen, dass die Adipositasproblematik im Grunde zwei verschiedene Probleme umfasst: Das eine, das soziale Adipositasproblem, ist quantitativ bestimmt und bezieht sich auf die Prävalenz der Adipositas. Das andere, das individuelle Adipositasproblem, ist qualitativ bestimmt und bezieht sich auf das Ernährungsverhalten des Einzelnen. Auf Basis dieser Unterscheidung lässt sich begründen, dass eine kollektive Pflicht zur Solidarität mit den Betroffenen besteht. Darüber hinaus trägt die gesamte Gesellschaft Verantwortung für die Verursachung und Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen, die Einzelne daran hindern, so schlank zu sein, wie sie sein wollen. Erst wenn in dieser Hinsicht Autonomie faktisch praktiziert werden kann, ergeben sich Möglichkeiten, eine Eigenverantwortung des Einzelnen zu fordern.

Abstract

Attempts to solve the problem of obesity raise controversies regarding individual responsibility and solidarity. The arguments concern which burdens are to be carried privately and which are to be absorbed collectively. To some extent, the disputes stem from a reluctance to acknowledge that obesity in fact covers two issues: the first, i.e., the social issue, covers the prevalence of obesity and is thus determined by quantity. The second, i.e., the individual issue, is determined by quality and addresses individual behavior and choice. On grounds of this distinction, it can be argued that there is a collective duty to show solidarity with concerned persons. Moreover society as a whole has to acknowledge responsibility with regard to the causation and alteration of conditions that prevent individuals from being as slim as they want to be. Not until autonomy in this respect can be factually exercised, is the claim for self-responsibility legitimate.

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Notes

  1. Im Rahmen des EU geförderten EUROBESE-Projekts, an dem die Autorin beteiligt war, wurden deshalb Leitlinien entwickelt, die trotz der laufenden Kontroversen auf der politischen Entscheidungsebene ethische Orientierung ermöglichen sollen. Die Ergebnisse des EUROBESE-Projekts werden in Kürze veröffentlicht werden. Erste Hinweise finden sich unter http://www.eurobese.com.

  2. Der Ausdruck pragmatisch wird hier und an späteren Stellen nicht im Sinne philosophischer Theorien des Pragmatismus beziehungsweise Pragmatizismus verwendet, sondern in einem eher umgangssprachlichen, rein zweckrationale Handlungsgründe bezeichnenden Sinne.

Literatur

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  2. Klotter C (2008) Von der Diätetik zur Diät – Zur Ideengeschichte der Adipositas. In: Schmidt-Semisch H, Schorb F (Hrsg) Kreuzzug gegen Fette. Sozialwissenschaftliche Aspekte des gesellschaftlichen Umgangs mit Übergewicht und Adipositas. VS, Wiesbaden, S 21–34

  3. Dass mit der hohen Prävalenz von Adipositas erhebliche (volkswirtschaftliche) Kosten verbunden sind, wird aus naheliegenden Gründen vor allem im politischen Kontext fortwährend thematisiert. Interessant ist allerdings, dass die Angaben erheblich schwanken. Die Deutsche Adipositas-Gesellschaft e.V. gibt in einer Presseerklärung vom 20.4.2007 für die Folgen von Übergewicht und Adipositas beispielsweise ein Kostenvolumen von „ca. 6% der Gesundheitsausgaben, also je nach Schätzung 10 bis 20 Milliarden Euro pro Jahr“ an. Nur knapp einen Monat später, am 10. Mai 2007, verweist Horst Seehofer in seiner Regierungserklärung zur Ernährungspolitik den Deutschen Bundestag auf Folgendes: „Die Kosten für die Behandlung von Krankheiten, die durch Fehlernährung und Übergewicht mitbedingt sind, werden in Deutschland mit 30%, also mit einem Drittel, aller Gesundheitskosten kalkuliert. Das sind mehr als 70 Milliarden Euro.“ Weitere Angaben sind im Umlauf, und es wird letztlich nicht klar, auf was sich die jeweils veranschlagten Summen beziehen

  4. Als eine Leitlinie formuliert beispielsweise Kass: „The first step for any proposed public health program is to identify the program’s goals. These goals generally ought to be expressed in terms of public health improvement, that is, in terms of reduction of morbidity or mortality.“ Kass NE (2001) An Ethics Framework for Public Health. Am J Public Health 11:1776–1782, 1777

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  5. Den „hochfrequenten Gebrauch“ des Ausdrucks Eigenverantwortung und seine gleichzeitige Unbestimmtheit kritisiert beispielsweise auch Ried. Siehe: Ried J (2008) Eigenverantwortung und Konsumverhalten. In: Hilbert H, Dabrock P, Rief W (Hrsg) Gewichtige Gene. Hans Huber, Bern, S 47–68, 49

  6. Dass diese Unklarheit nicht erst bei den Adressaten der diversen Maßnahmen aufkommt, sondern schon auf der politischen Steuerungsebene besteht, thematisieren Lang und Rayner: „For policymakers... there is a situation we describe as policy cacophony – noise drowning out symphony of effort. This cacophony is not helpful because policymakers need coherent directions on which they feel thy can deliver.“ Lang T, Rayner G (2007) Overcoming policy cacophony on obesity: an ecological public health framework for policymakers. Obes Rev 8:165–181 166

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  8. Ähnlich argumentiert auch Goertz: „Die emphatische Rede von Eigenverantwortung droht zynisch zu werden, sobald die konkreten Bedingungen ihrer Ausübung ausgeblendet werden.“ Goertz S (2005) Privatsache gesund? Eine Kritik des Prinzips Eigenverantwortung. ETHICA 13:339–356 348

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  9. Pauer-Studer verdeutlicht, „dass ein adäquater Freiheitsbegriff auch die konkreten Möglichkeiten von Individuen, ihre Freiheit zu nutzen, berücksichtigen sollte“. Pauer-Studer H (2000) Autonom Leben. Suhrkamp, Frankfurt a. M., S 167

  10. Ohne Bezugnahme auf die Adipositasproblematik argumentiert in diesem Sinne: Marckmann G (2007) Eigenverantwortung als Rechtfertigungsgrund für ungleiche Leistungsansprüche in der Gesundheitsversorgung? In: Rauprich O, Marckmann G, Vollmann J (Hrsg) Gleichheit und Gerechtigkeit in der Modernen Medizin. mentis, Paderborn, S 299–314

  11. Eine ausführliche, kritische Auseinandersetzung hiermit findet sich beispielsweise bei: Wikler D (2004) Personal and social responsibility for health. In: Anand S, Peter F, Sen A (eds) Public health, ethics and equity. Oxford Univ. Press, Oxford New York, S 109–134

  12. Die Grundlagen für Rechtsansprüche auf solidarische Hilfe verdeutlicht: Bayertz K (1998) Begriff und Problem der Solidarität. In: Bayertz K (Hrsg) Solidarität. Begriff und Problem. Suhrkamp, Frankfurt a. M, S 11–53, bs. 37ff

  13. Ausführlicher hierzu: Dabrock P (2006) Stigmatisierungskreuzungen zwischen Adipositas und genetischem Wissen. Sozialpsychologische und -ethische Beobachtungen zu neuen Ambivalenzen und Herausforderungen gelingender Prävention. In: Hilbert A, Rief W (Hrsg) Adipositasprävention. Eine interdisziplinäre Perspektive. Hans Huber, Bern, S 127–154

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Kaminisky, C. Verantwortung und Solidarität bei der Adipositasprävention. Bundesgesundheitsbl. 52, 527–534 (2009). https://doi.org/10.1007/s00103-009-0840-6

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