Telemedizinische Konsultationen sind in verschiedenen klinischen Bereichen, z. B. in der Teleradiologie, erfolgreich etabliert. Zunehmend werden auch in Deutschland telemedizinische Konzepte in der präklinischen Situation (Telenotarzt) umgesetzt. Im vorliegenden Beitrag werden die Ziele und Voraussetzungen sowie die praktische Umsetzung und mögliche Einsatzindikationen für ein Telenotarztsystem beleuchtet.

Hintergrund

Im deutschen Rettungsdienstsystem werden – mit regionalen Unterschieden – Notfallpatienten ungefähr zur Hälfte ohne die Anwesenheit eines Notarztes versorgt (d. h. durch Rettungsdienstpersonal allein; [3, 19]). Handreichungen, wie der Indikationskatalog der Bundesärztekammer (BÄK), sollen den Leitstellendisponenten in seiner Entscheidung, ob primär ein arztbesetztes Rettungsmittel entsandt wird, unterstützen [9].

Die steigende Inanspruchnahme des Rettungsdienstsystems, verbunden mit der zunehmenden Schwierigkeit, Notarztdienste v. a. in ländlichen Regionen adäquat zu besetzen, führt zur Verknappung der Ressource Notarzt [17, 24]. Die genannten Faktoren begünstigen ferner, dass zunehmend mehr Patienten die Notaufnahmen der Krankenhäuser selbst oder über die Inanspruchnahme des Rettungsdienstes aufsuchen [21]. Eine Entlastung der Notaufnahmen ist potenziell möglich, wenn weniger Patiententransporte stattfinden, weil Rettungsdienstpersonal vor Ort durch Konsultation des Telenotarztes mehr Optionen hat, den Patienten beispielsweise an eine geeignetere Einrichtung als die Notaufnahme eines Krankenhauses verweisen zu können [12, 14].

Nachdem in Deutschland erstmals 2014 in Aachen ein telenotärztliches Konzept für verschiedene Notfallbilder etabliert wurde [4], steigt die Zahl ähnlicher Projekte. Im Rettungsdienstbereich Straubing, Bayern, werden beispielsweise aktuell im „Pilotprojekt zur telemedizinischen Unterstützung der Notfallversorgung im Rettungsdienst – Telenotarzt Bayern“ Erfahrungen zum Einsatz eines Telenotarztes in einer ländlichen Region gesammelt.

Ziele

Primäres Ziel des Telenotarzteinsatzes ist die Verkürzung des ärztlichen therapiefreien Intervalls mit dem sekundären Ziel der Verbesserung des Patienten-Outcome. Insbesondere für „Tracer“-Diagnosen (wie beispielsweise Herzinfarkt, Schlaganfall, Polytrauma) ist der positive Effekt der schnellen Versorgung entsprechend gültiger Leitlinien belegt, die aber in der Regel nur unter ärztlicher Beteiligung vollständig möglich ist [11, 23].

Ziel des telenotärztlichen Einsatzes ist die Verbesserung des Patienten-Outcome

Ein zusätzlicher, möglicher Effekt ist die seltenere Inanspruchnahme des konventionellen Notarztes. Erfahrungen aus dem Aachener Projekt zeigen, dass dieser von der Leitstelle im Verlauf weniger häufig eingesetzt wurde [24]. Eine nicht nur häufigere, sondern auch schnellere Wiederverfügbarkeit der Ressource konventioneller Notarzt wird dadurch ermöglicht, dass in bestimmten Fällen eine Übergabe des Patienten vom initial versorgenden, konventionellen an den transportbegleitenden Telenotarzt stattfinden kann. Da – abhängig vom Konzept – der Telenotarzt bei Bedarf auch von konventionellen Notärzten konsultiert werden kann, ergibt sich außerdem die Möglichkeit der kollegialen Supervision.

Voraussetzungen und Anforderungen

Das Telenotarztsystem stellte eine Ergänzung des bisherigen boden- und luftgebundenen Rettungssystems dar und setzt spezielle Anforderungen an die personelle und technische Ausstattung voraus. In einer Strukturempfehlung der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) zur Telemedizin in der prähospitalen Notfallmedizin wird gefordert, dass die Telenotarztzentrale mit einem Facharzt in einem notfallmedizinisch relevanten Fachgebiet mit der Zusatzbezeichnung Notfallmedizin besetzt wird. Außerdem sollen Telenotärzte einen zertifizierten Reanimationskurs, zertifizierte Traumakurse sowie mindestens 400 bis 500 Notarzteinsätze vorweisen können. Sinnvoll ist auch die Qualifikation zum leitenden Notarzt. Hinzu kommt eine projektbezogene mehrtägige Schulung der Telenotärzte.

Für den Erfolg eines Telenotarztprojekts ist es entscheidend, auch alle anderen beteiligten Personen (Mitarbeiter der Hilfsorganisationen und der Leitstellen, Notärzte und Klinikpersonal der Notaufnahmen) zu schulen sowie regelmäßig zu informieren. Empfehlenswert ist ein begleitendes Qualitätsmanagement, das neben routinemäßigen Datenerhebungen und -auswertungen die strukturierte Befragung der Beteiligten zu ihren Erwartungen beinhaltet [10, 20]. So kann auf identifizierte Probleme eingegangen und diesen gezielt gegengesteuert werden.

Das Konzept Telenotarzt beinhaltet Schulungen sowie definierte Strukturen und Prozesse

Für den Routineeinsatz eines Telenotarztsystems wird ein Konsultationssystem benötigt, das aus verschiedenen technischen Komponenten besteht und besonderen Ansprüchen genügen muss. In der Strukturempfehlung der DGAI werden technische Mindeststandards für telemedizinische Unterstützungssysteme unter Berücksichtigung geltender Datenschutzbestimmungen definiert, wie die forensisch sichere und MIND3-kompatible Befunddokumentation sowie die verschlüsselte Datenübertragung und die sichere Datenspeicherung (MIND: Minimaler Notfalldatensatz, [10]). Die Informationen aus den verwendeten Systemen laufen am Telenotarztarbeitsplatz zusammen (Abb. 1). Neben der Anzeige von einsatzrelevanten Daten aus der Leitstelle besteht die Möglichkeit, Vitalparameter der Patienten in Echtzeit, Fotos oder Videos übertragen zu lassen. Weiterhin besteht Zugang zu medizinischen Datenbanken, in denen beispielsweise Algorithmen oder Detailinformationen zu den Zielkliniken hinterlegt sind [5].

Abb. 1
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Telenotarztarbeitsplatz im Pilotprojekt in Straubing. (Mit freundlicher Genehmigung der Integrierten Leitstelle Straubing)

Die Kommunikation mit dem Telenotarzt erfolgt am Einsatzort mithilfe eines mobilen Geräts, das je nach Modell über eine Video- und Audiofunktion oder über eine reine Audioverbindung verfügt. Über eine geeignete Bluetooth-Schnittstelle werden Medizingeräte und Headsets zur Datenübertragung gekoppelt, sodass auch die Übertragung der Vitalparameter des Patienten aus einer mobilen Monitor-Defibrillator-Einheit möglich ist. Als weitere audiovisuelle Kommunikationsmöglichkeit ist im Rettungswagen eine schwenkbare Kamera mit Freisprecheinrichtung installiert. Alle Daten werden nach Aufklärung und Einwilligung des Patienten verschlüsselt über vorhandene Mobilfunknetze übermittelt.

Für die zuverlässige, möglichst störungsfreie Kommunikation und Datenübertragung spielen die Verfügbarkeit und Bandbreite der verwendeten Übertragungswege eine entscheidende Rolle. Besonders in ländlichen Regionen kann die ungenügende Netzabdeckung trotz Ausschöpfen aller technischen Möglichkeiten wie Bündelung der Mobilfunknetze und Installation von Dachantennen für alle verfügbaren Mobilfunkstandards ein Problem darstellen und sogar zum Abbruch eines Telenotarzteinsatzes führen. Häufig ist jedoch mit einer geringen Netzabdeckung zumindest eine Audioverbindung möglich, die je nach Situation als ausreichend erachtet werden kann, wenn es sich beispielsweise um die Delegation einer Medikamentengabe bei ansonsten unkompliziertem Krankheitsbild handelt. Für telemedizinische Projekte sind Kenntnisse der lokalen Netzabdeckung sowie der technischen Möglichkeiten zur Optimierung der Netzabdeckung mit dem Ziel einer möglichst zuverlässigen Datenübertragung unabdingbar. Darüber hinaus sollten potenzielle systembedingte technische und medizinische Komplikationen systematisch erfasst und ausgewertet werden.

Neben der Beachtung von Datenschutzbestimmungen gilt es, die rechtliche Situation bei der Delegation von Maßnahmen und Medikamentengaben an nichtärztliches Rettungsdienstpersonal des jeweiligen Bundeslandes zu berücksichtigen. In Bayern beispielsweise ist die Delegation durch einen Telenotarzt in den „Hinweisen des Bayerischen Staatsministeriums des Innern, für Bau und VerkehrFootnote 1 zur Durchführung heilkundlicher Maßnahmen durch das nichtärztliche Rettungsdienstpersonal mit besonderem Blick auf die Delegation heilkundlicher Maßnahmen an das nichtärztliche Rettungsdienstpersonal“ vom 22.02.2017 dargestellt [1]. Hier wird die Delegation von Maßnahmen und Medikamentengaben durch den Telenotarzt explizit der Delegation durch einen konventionellen, vor Ort anwesenden Notarzt gleichgestellt, solange ein kontinuierlicher interaktiver Kontakt zum Rettungsdienstpersonal gewährleistet ist.

Praktische Durchführung

Die Alarmierung des Telenotarztes erfolgt über die Leitstelle, nachdem die Telenotarztkonsultation durch die Rettungswagen(RTW)-Besatzung, einen konventionellen Notarzt oder auch einen Hausarzt oder Arzt im kassenärztlichen Notfalldienst angefordert wurde. Mit der Alarmierung erhält der Telenotarzt die Einsatzdaten aus der Leitstelle und steht für die Kontaktaufnahme zur Verfügung. Er kann im Regelfall Leitstellendaten nicht selbstständig einsehen oder Kontakt mit der RTW-Besatzung aufnehmen. Die RTW-Besatzung wiederum ist für die Aufklärung und das Einholen der Zustimmung des Patienten bzw. der Angehörigen zur Telenotarztbehandlung verantwortlich.

Aufseiten des Rettungsdienstpersonals ergibt sich kein zusätzlicher Dokumentationsaufwand

Die Dokumentation der Telenotarzteinsätze erfolgt mithilfe einer speziellen Software, die meist dem Notarztprotokoll der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) nachempfunden ist. Auch die übermittelten Vitalparameter, einschließlich Zeitangabe, können direkt in die Dokumentation übernommen werden. Aufseiten des Rettungsdienstpersonals ergibt sich kein zusätzlicher Dokumentationsaufwand.

Im Telenotarztprojekt in Straubing waren in der Pilotphase von Juli bis Dezember 2018 neun Telenotärzte aus 4 umliegenden Kliniken beteiligt, die die Tracer-Diagnosen (schweres Schädel-Hirn-Trauma, Schlaganfall, Polytrauma, ST-Hebungsinfarkt, Sepsis und plötzlicher Herz-Kreislauf-Stillstand) vollumfänglich regelmäßig behandeln. Der Telenotarztarbeitsplatz ist in die integrierte Leitstelle (ILS) lokalisiert, jedoch aus Datenschutzgründen räumlich von den Disponenten getrennt, und täglich von 7:30 bis 19:30 Uhr besetzt. Im Schnitt wurde der Telenotarzt in der Pilotphase 2,5-mal/Schicht kontaktiert, maximal erfolgten 9 Kontakte/Schicht.

Einsatzindikationen

Prähospitale Notfallversorgung

Bei der Versorgung von Notfallpatienten, die nicht vital bedroht sind, steht häufig die ärztliche Expertise im Sinn einer Mitbeurteilung des Patienten, der Anordnung von Medikamentengaben oder der Klärung einer Transportindikation im Vordergrund. Diese Aufgaben können ohne Nachteile für den Patienten von einem Telenotarzt übernommen werden, wie die Erfahrungen aus Aachen zeigen. Dort wurde lediglich in 8,7 % der Einsätze, die als RTW-Einsatz disponiert und bei denen der Telenotarzt nachgefordert wurde (n = 312), zusätzlich ein konventioneller Notarzt nachalarmiert. Auch kam es bei insgesamt 268 durchgeführten Anordnungen zu keiner Komplikation aufgrund einer delegierten Medikamentengabe [6]. Weitere Beispiele für geeignete Indikationen sind hypertensive Entgleisung, Schmerztherapie bei Verletzungen, Schlaganfall ohne Bewusstlosigkeit, Hypoglykämie und grundsätzlich die Überbrückung bis zum Eintreffen des Notarztes [5]. Hingegen sind Einsätze, bei denen die Notwendigkeit des manuellen Eingreifens sehr wahrscheinlich ist, nicht für den ausschließlichen Einsatz des Telenotarztes geeignet, wie beispielsweise Reanimation, Bewusstlosigkeit, Polytrauma oder schwere Unfälle mit eingeklemmter Person [10].

Die häufigsten Meldebilder bei Telenotarztalarmierungen im Pilotprojekt in Straubing im Jahr 2018 zeigt Abb. 2. Die Kategorien entstammen der Alarmierungsbekanntmachung in Bayern (ABek, [2]). Auch hier zeigt sich, dass Trauma und Verkehrsunfälle mit knapp einem Viertel der Alarmierungen ein relevantes Einsatzgebiet für den Telenotarzt darstellen. Das Meldebild Analgesie enthält noch weitere Patienten mit Schmerzen nach Trauma, aber auch internistische Krankheitsbilder.

Abb. 2
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Meldebilder gemäß Dokumentation der integrierten Leitstelle bei Einsätzen mit Rettungswagen und Alarmierung eines Telenotarztes im Pilotprojekt in Straubing im Zeitraum 01.01.2018–31.12.2018. THL technische Hilfeleistung, VU Verkehrsunfall. (Quelle: Auswertung INM, Pilotprojekt Telenotarzt Straubing)

Durch Konsultation eines Telenotarztes kann die leitliniengerechte Versorgung in der präklinischen Notfallmedizin verbessert werden [5, 7, 8]. So wurde bei Konsultation eines Telenotarztes häufiger eine adäquate Schmerzreduktion erreicht als bei Standardversorgung ohne Arzt. Ebenso verbesserte sich die Dokumentationsqualität [7]. Unter Aufsicht eines Telenotarztes mit entsprechender Überwachungsmöglichkeit können Opioide zum Einsatz kommen; hierbei sollten standardisierte Behandlungsalgorithmen unter Berücksichtigung der gesetzlichen Dokumentationsvorschriften verwendet werden.

Interhospitaltransfer/Sekundärtransport

Eine weitere mögliche Indikation für den Einsatz des Telenotarztes nach den Strukturempfehlungen der DGAI ist der Interhospitaltransfer nach definierten Kriterien [10]. Gemeint ist die alleinige – außer dem nichtarztbesetzten Rettungsmittel – Alarmierung des Telenotarztes zur Begleitung eines Sekundärtransports. Somit ist primär keine Begleitung durch einen Klinikarzt oder einen boden- oder luftgebundenen Notarzt vorgesehen. Abhängig vom Konzept kann Letzterer jedoch vom Rettungsdienst und/oder dem Telenotarzt jederzeit nachgefordert werden.

Die Zahl konventionell arztbegleiteten Sekundärtransporte nichtkritisch kranker Patienten wird reduziert

Der Einsatz des Telenotarztes zur Transportbegleitung ist bei nichtbeatmeten und kreislaufstabilen Patienten unproblematisch möglich und kann die Zahl der konventionell arztbegleiteten Sekundärtransporte nichtkritisch kranker Patienten reduzieren. Die Übernahme dieser Transporte ist ebenso möglich wie die überregionale Koordinierung von Sekundäreinsätzen [6, 24]. Idealerweise wird vor dem Sekundärtransport im Arzt-Arzt-Gespräch (z. B. auch durch den Telenotarzt) die Art der medizinischen Begleitung festgelegt (Rettungsdienstpersonal, Telenotarzt, konventioneller Notarzt, Intensivtransportarzt). Da der Transport von Patienten – insbesondere von kritisch Kranken – mit zahlreichen Risiken verbunden ist, müssen die Indikationen für die Art der Begleitung von Sekundärtransporten klar definiert sein [5, 18]. Im Fall einer medizinisch akut notwendig gewordenen Änderung des Zielkrankenhauses sind eine Anmeldung und Vorinformation des betroffenen Hauses durch den Telenotarzt möglich [6]. Der Telenotarzt ist zeitlich weniger gebunden als der konventionelle Notarzt, da seine Rückkehr zum Stützpunkt ohne Patienten entfällt. Telenotärzte können ferner unter bestimmten Voraussetzungen mehrere Einsätze parallel bearbeiten [5, 24]. Eine Abgrenzung zu den Aufgaben der ILS sowie – je nach Bundesland – zu weiteren Organisationstrukturen, wie einer Koordinationszentrale für Intensivtransporthubschrauber (KITH) oder eines beratenden Arztes für Notfall- und Intensivtransporte (BANI), ist zu berücksichtigen.

Beispielhaft ergeben sich, angelehnt an Brokmann et al. [5], folgende Charakteristika (Krankheitsbilder bzw. Gesundheitszustände), die die alleinige Begleitung durch den Telenotarzt realistisch erscheinen lassen:

  • Bewusstseinsklarheit,

  • Spontanatmung,

  • Kreislaufstabilität, insbesondere keine Katecholaminpflichtigkeit,

  • beschwerdefreier Patient mit NSTEMI (Nicht-ST-Elevations-Myokardinfarkt),

  • geplante Verlegung zur Herzkatheteruntersuchung zum Ausschluss einer koronarer Herzkrankheit (KHK),

  • Rückverlegung nach erfolgter Herzkatheteruntersuchung,

  • Schlaganfall ohne Bewusstlosigkeit.

Alternativ oder zusätzlich können – als ergänzende Möglichkeit zur Entscheidungsfindung – auch im arztbegleitenden Patiententransport Ausschlusskriterien definiert werden. Zutreffendenfalls soll hier nicht (ausschließlich) der Telenotarzt begleitend zum Rettungsmittel disponiert werden, sondern ein konventioneller (Not‑)Arzt. Begründet werden kann ein solches Vorgehen mit der Notwendigkeit der persönlichen Anwesenheit eines Arztes im Rettungsmittel aufgrund einer anzunehmenden oder bestehenden vitalen Bedrohung sowie alternativ oder zusätzlich mit dem voraussichtlich notwendigen Einsatz spezifisch ärztlich-manueller Fähigkeiten.

Den Patienten betreffende Zwischenfälle beim Transport sind abhängig von der Erfahrung des Teams, dem aktuellen Zustand des Patienten (insbesondere Kreislaufinstabilität, Beatmungspflichtigkeit, Analgosedierung/Narkose) und der Transportdauer. Die meisten der unerwünschten Ereignisse beim Sekundärtransport betreffen das Gebiet der Medizintechnik, gefolgt vom Zustand des Patienten sowie Komplikationen im Zusammenhang mit invasivem Monitoring, Kathetern, Sonden und Infusionen, die die Möglichkeit der unmittelbaren Intervention durch einen anwesenden und erfahrenen Arzt erfordern. Insbesondere bei kritisch kranken Patienten besteht ein umgekehrter Zusammenhang zwischen dem Auftreten von unerwarteten Komplikationen und der Berufserfahrung des begleitenden Arztes [22]. Auf der anderen Seite konnte in einer prospektiven, randomisierten Studie aus Belgien kein Unterschied beim Auftreten von unerwünschten Ereignissen während des Transports von kritisch kranken Patienten bei Transportbegleitung durch erfahrenes Intensivpflegepersonal im Vergleich mit ärztlicher Begleitung nachgewiesen werden [15].

Weiterhin zeigen Untersuchungen aus den Niederlanden, dass die Qualifikation des begleitenden Personals und das eingesetzte Rettungsmittel die Entscheidung des abgebenden Krankenhausarztes bezüglich des Transports eines Intensivpatienten wesentlich bestimmen – mitunter sogar stärker als das Krankheitsbild selbst [16]. Risikofaktoren für das Auftreten von Komplikationen während des Transports, die von vorneherein die Anwesenheit eines begleitenden Notarztes erfordern, sind angelehnt an Brokmann et al. und im Folgenden beispielhaft aufgeführt [5]:

  • nichtgesicherter Atemweg,

  • intubierte Patienten,

  • dilatative Tracheotomie vor wenigen Tagen,

  • akute, schwere Atemnot,

  • Beatmung (invasiv und nichtinvasiv),

  • Kreislaufinstabilität, insbesondere Katecholaminpflichtigkeit,

  • akuter STEMI zur Herzkatheteruntersuchung,

  • lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen (z. B. ventrikuläre Tachykardie, VT),

  • invasives Monitoring (z. B. arterieller, intrakranieller Druck …),

  • schwere, akute Bewusstseinsstörung,

  • Analgosedierung,

  • extrakorporale Organersatz- und Organunterstützungsverfahren (z. B. Kunstherz, extrakorporale Membranoxygenierung [ECMO], extrakorporale Lungenunterstützung [ECLA]).

Indikationskatalog für den Telenotarzt

Aktuelle Grundlage für die Alarmierung eines Notarztes durch die ILS stellen der Indikationskatalog für den Notarzteinsatz der BÄK sowie länderspezifische Regelungen dar; in Bayern beispielsweise die ABek [2]. In dieser wird das Konzept des Telenotarztes weder berücksichtigt noch erwähnt. Die aktuell existierenden Prozesse in den meisten ILS sind ebenfalls nicht im Hinblick auf die Disposition eines Telenotarztes entwickelt worden – daher ist dessen Disposition auch dort inhaltlich nicht a priori abgebildet, sondern muss(te) im Verlauf implementiert werden. Eine strukturierte Notrufabfrage in den ILS, die seit der Veröffentlichung der Guidelines des European Resuscitation Council (ERC) 2010 [13] empfohlen ist, wurde bundesweit bisher kaum umgesetzt, was die flächendeckende Implementierung des Telenotarztsystems zusätzlich erschwert. Die BÄK hat zwar ihren Notarztindikationskatalog (NAIK) aus dem Jahr 2001 unter Berücksichtigung zahlreicher Gesichtspunkte überarbeitet und als Handreichung für Disponenten in ILS veröffentlicht. Das Telenotarztkonzept ist jedoch auch hier bisher nicht explizit abgebildet [9].

Um zukünftig landes- oder gar bundesweit das Konzept des Telenotarztes voranzubringen, ist – neben seiner Implementierung in die Prozesse der Disposition in den ILS – ein spezifischer Telenotarztindikationskatalog, wie er im Aachener Projekt implementiert wurde, wichtige Voraussetzung. Weiterhin steht die Verankerung des Telenotarztsystems in der Gesetzgebung der Länder aus. Neben der gesetzlichen Verankerung in den Rettungsdienstgesetzen muss ein Vergütungsmodell für Telenotarztsysteme mit den Kostenträgern verhandelt werden. Der gewünschte Effekt, die Ressource Notarzt für die relevanten, vital bedrohlichen Einsätze frei zu haben, kann mit einer Reduktion der Einsatzfrequenz und Gesamteinsatzzahl bei den Notärzten einhergehen. Es muss daher geprüft werden, inwieweit die Vergütungsmodelle der Notärzte dieser Entwicklung Rechnung tragen und ggf. der einsatzbezogene Anteil entsprechend angepasst wird.

Fazit für die Praxis

  • Das System Telenotarzt begegnet den sich ändernden Herausforderungen im präklinischen Gesundheitssystem und eröffnet neue Möglichkeiten der optimierten Patientenversorgung.

  • Zum Gesamtkonzept gehören – neben der Erfüllung bestimmter technischer Voraussetzungen – speziell geschulte Notfallmediziner, Rettungsdienstfachpersonal und Disponenten sowie die Implementierung in die Dispositionsprozesse der integrierten Leitstellen. Arbeitsabläufe und Kommunikationsmodelle müssen entsprechend geübt und angepasst werden.

  • Bei der Implementierung muss auf die Akzeptanz eines Telenotarztsystems beim Rettungsdienstfachpersonal und bei den Notärzten geachtet werden.

  • Die rechtliche Absicherung der telenotärztlich tätigen Kollegen durch Verankerung des Telenotarztsystems in der Gesetzgebung der Länder muss angestrebt werden.