11.2.1 Versorgungsplanung
Die gegenwärtigen ambulanten und stationären Angebotsplanungen stellen trotz neuerer Entwicklungen
4 im Kern Fortschreibungen historisch bestehender Kapazitäten dar. Eine Abstimmung zwischen den sektoralen Planungen findet nur sehr begrenzt statt. Die zukünftigen Herausforderungen infolge sich verändernder Versorgungsstrukturen und Patientenansprüche sowie die Substitution stationärer Leistungen bedingen aber die Weiterentwicklung und Verschränkung der Planungen. Dabei sollten folgende Kernprinzipien berücksichtigt werden (siehe auch SVR
2018, Ziffer 854 ff.).
In der stationären Versorgung sind zuvorderst ärztliche und pflegerische Kapazitäten sowie technische Ressourcen maßgeblich, nicht die Anzahl der Betten. Es werden außerdem Betten geplant, die zum Teil personell gar nicht versorgt werden können und – in nicht unerheblichen Umfang (Karagiannidis et al.
2019) – gesperrt werden müssen. Mit der zunehmend ambulanten Versorgung in Krankenhäusern steht die Anzahl der Betten ebenfalls kaum in Zusammenhang.
Mit umfangreichen Daten und hohem methodischen Aufwand einen konkreten medizinischen Versorgungsbedarf zu bestimmen, um diesen dann wieder in Arztsitze oder Betten umzurechnen, kann daher nicht Ziel einer modernen Versorgungsplanung sein. Stattdessen sollten auf Basis des erwarteten medizinischen Bedarfs leistungsorientierte Versorgungsaufträge geplant und vergeben werden.
Ausgangspunkt ist die Definition der Versorgungsaufträge, die diese Strukturen erbringen sollen. Diese sind einerseits fachlich abzuleiten, andererseits bietet der umfangreiche DaTraV-Datenkörper die Chance, auch die tatsächliche Versorgung umfassend abzubilden. Mit der Neuregelung der Datentransparenzverordnung (DaTraV)
wird die zentrale Datenzusammenführung gestärkt und ausgebaut, sodass de facto der gesamte Abrechnungsdatenkörper der Krankenkassen zur Verfügung stehen wird (BMG
2020b, § 3). Eine derartig umfassende Datensammlung soll nicht nur der Versorgungsforschung dienen, sondern insbesondere der Wahrnehmung von Steuerungs- und Planungsaufgaben (vgl. § 303e Abs. 2 SGB V).
Aus der Synthese von fachlich gewünschter Versorgung, tatsächlichem Leistungsgeschehen und medizinisch-technischer Entwicklung werden Versorgungsaufträge generiert. Diese enthalten eine Beschreibung der Leistungen sowie der benötigten Kapazitäten und Qualifikationen. Analog zur bisherigen vertragsärztlichen Bedarfsplanung müssen abhängig von der Art der Versorgungsaufträge räumliche Planungsbereiche festgelegt werden. Spezielle Leistungen (z. B. Katarakt-OPs) gehen mit tendenziell genauer spezifizierten Versorgungsaufträgen und größeren Einzugsgebieten einher. Breitere Versorgungsspektren (z. B. die verantwortliche Betreuung bestimmter chronischer Krankheiten) benötigen hingegen umfassender formulierte Versorgungsaufträge und eher kleinere räumliche Einheiten.
Ein Beispiel können die Ausschreibungen im Rahmen des Mammographie-Screenings bieten (z. B. KV Nordrhein
2019). Dort werden für Einzugsbereiche von etwa 100.000 bis 150.000 anspruchsberechtigten Frauen Versorgungsaufträge für die Früherkennung ausgeschrieben. Interessierte (Vertrags-)Ärztinnen und Ärzte können sich als Programmverantwortliche bewerben und müssen dafür persönliche und sachliche Voraussetzungen nachweisen, aber auch die Verfügbarkeit und Qualifikation kooperierender Fachkräfte darstellen.
Für die Zusammenstellung derartiger Versorgungsaufträge könnten die bisherigen Leistungsdefinitionen des EBM oder des DRG-Katalogs ungeeignet sein, da dort Leistungen oft in Pauschalen zusammengefasst werden und somit nicht identifizierbar sind. Wünschenswert wäre stattdessen ein breiter Leistungskatalog, auf dessen Basis Versorgungsaufträge bedarfsgerecht zusammengestellt werden können. Eine umfassende gemeinsame Leistungslegendierung und relative Bewertung, wie von der Honorarkommission vorgeschlagen
6 (KOMV
2019), würde dies ermöglichen und zusätzlich eine Brücke zum privatärztlichen Bereich schlagen.
Die Definition der Versorgungsaufträge und die datenbasierte Prognose des zugehörigen Versorgungsbedarfs stellt hohe methodische Anforderungen und benötigt umfangreiche Ressourcen. Beides sollte daher im Regelfall bundesweit einheitlich an zentraler Stelle, z. B. beim G-BA, erfolgen. Ähnliche Forderungen werden für die Festlegung von sogenannten Leistungsgruppen bereits für die Krankenhausplanung erhoben (Augurzky et al.
2020). Der G-BA sollte daher – ähnlich wie vom SVR in seinem Modell einer leistungsorientierten, sektorenübergreifenden Angebotskapazitätsplanung vorgeschlagen (SVR
2018, Ziffer 892 ff.) – Leistungsaufträge je Einwohner als Richtwerte definieren.
Die so definierten Leistungsaufträge werden durch ein regionales Planungsgremium unter Berücksichtigung der Morbiditäts- und Bevölkerungsentwicklung zeitlich begrenzt ausgeschrieben. Zur Erleichterung der regionalen Ausgestaltung ist ein „methodischer Werkzeugkasten“ zu erstellen, der u. a. Instrumente zur Anpassung an Morbiditätsentwicklungen vorsieht. Ansatzpunkte könnten die Methodik im G-BA-Gutachten zur Bedarfsplanung (Sundmacher et al.
2018) oder Innovationsfondsprojekte wie „BURDEN 2020“ oder „PopGroup“ liefern. Diese haben das Ziel, die Akteure der Gesundheitsversorgung bei der bedarfsgerechten Planung mit einem transparenten Informationssystem bzw. einer Klassifikation des morbiditätsbezogenen Versorgungsbedarfs zu unterstützen (Quentin et al.
2020; Rommel et al.
2018). Für eine leistungs- und morbiditätsorientierte Planung gibt es mit der Krankenhausplanung im Kanton Zürich bereits Vorbilder (SVR
2018, Ziffer 218); auch in Deutschland ist dies z. B. für die Krankenhausplanung in Nordrhein-Westfalen beabsichtigt. Im vorliegenden Krankenhaus-Report wird in
Kap. 12 eine koordinierte Leistungsplanung am Beispiel Basels vorgestellt.
Dauerhafte Besitzansprüche der Leistungserbringer auf Versorgungsaufträge wären passé. Letztendlich wird ein Wettbewerb zwischen ambulanten und stationären Leistungserbringern sowie neuen sektorenübergreifenden Organisationsformen initiiert, die sich zu gleichen Bedingungen für die Aufträge bewerben können. Die Auswahl sollte insbesondere auf Basis der Qualifikation sowie prozessualer und struktureller Qualitätsanforderungen unabhängig von der Art des Leistungserbringers erfolgen. Verbund- und Netzwerkstrukturen könnten berücksichtigt werden, indem sich z. B. neben einzelnen Leistungserbringern vor allem deren Gemeinschaften auf Leistungsaufträge bewerben und für ausgewählte Versorgungsaufträge die Delegation an nicht-ärztliche Fachkräfte explizit vorgesehen wird. Für die Verortung dieser Verantwortlichkeit liegen (überarbeitete) und in ihren Funktionen gestärkte gemeinsame Landesgremien nach § 90a SGB V nahe. Um dem wachsenden Aufgabenumfang und der methodisch anspruchsvollen Fragestellung gerecht zu werden, müssen gut ausgestattete Geschäftsstellen die Arbeit unterstützen.
Zur Berücksichtigung von Mitversorgungseffekten könnten die Gremien auch überregionale Aspekte bei der Vergabe einbeziehen. Höhere Vergütungen oder längerfristige und umfassendere Versorgungsaufträge könnten in Regionen mit geringerer Versorgungsdichte Anreize schaffen.
Die sektoralen Grenzen werden für die betroffenen Leistungen schrittweise aufgelöst. Im Ergebnis entsteht – zumindest übergangsweise – ein dritter Sektor, der die (sich entwickelnde) Versorgungsrealität aber besser abbilden kann. Die eindeutig stationäre Versorgung und die primärärztliche Versorgung werden mit eigenen, möglichst angepassten Regelungen zunächst fortbestehen.
Rechtlich muss somit ein neuer Regelungsbereich geschaffen werden. Dieser kann jedoch zum Teil auf adaptierten bestehenden Vorschriften beruhen. Der Unterschied zur heutigen Situation wären einheitliche Bedingungen unabhängig von Art und Ort des Leistungserbringers; maßgeblich wäre die Leistung selbst.
Institutionell stehen die bislang streng sektoral orientierten Interessenvertretungen vor Veränderungen. Die in Grundzügen bereits bestehende Trennung der vertragsärztlichen Versorgung in einen haus- und einen fachärztlichen Bereich wird durch die Einteilung in die primärärztliche Grund- und die fachärztliche Sekundärversorgung endgültig vollzogen. Dem folgend wird das breite Aufgabenspektrum der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) einem Wandel unterliegen.
Neben der Übernahme des Sicherstellungsauftrags – bis hin zum (Mit-)Aufbau von Impfzentren – verhandeln die KVen die Ärztehonorare und Arzneimittelbudgets, sind für die Qualitätssicherung verantwortlich und übernehmen als Abrechnungsdienstleister sowohl die Abrechnungsprüfung als auch die Verteilung des zur Verfügung stehenden Honorars. Die Aufgaben werden sich in einem kollektivvertraglich organisierten fachärztlichen Sekundärbereich verändern, aber nicht verschwinden.
Dementsprechend stellt sich die Frage, wem diese Aufgaben künftig institutionell zugewiesen werden sollten. Bei einer selektivvertraglichen Versorgung (siehe unten) wären die Krankenkassen zuständig. In einer gemeinsamen kollektivvertraglichen Versorgung ist dieser Weg weder gangbar noch sinnvoll. Individuelle Verhandlungen und Vereinbarungen mit den Leistungserbringern – wie im stationären Bereich mit den Krankenhäusern
7 – sind für den fachärztlichen Sekundärbereich kaum vorstellbar.
Möglich wäre stattdessen eine weitere Aufwertung der gemeinsamen Landesgremien nach § 90a SGB V bzw. der einzurichtenden Geschäftsstellen. Die Übertragung des Sicherstellungsauftrags an das planende und organisierende Gremium erscheint folgerichtig. Inwiefern Bestandteile des Sicherstellungsauftrags dabei im Rahmen der Ausschreibungen auf die Leistungserbringer übergehen, hängt von der Ausgestaltung ab. Die Auslegung und Zuordnung des Sicherstellungsauftrags wird in Zukunft ohnehin flexibler zu handhaben sein, wie auch die angedachte Reform der Notfallversorgung zeigt.
Der Aufbau völlig neuer Strukturen z. B. für die Abrechnung wird angesichts der großen organisatorischen Umwälzungen und des benötigten starken Kapazitätsaufbaus hingegen nur schwer zu begründen sein. Zielführender ist es, die Aufgabenvielfalt der KVen auch im fachärztlichen Sekundärbereich beizubehalten. Hierfür ist jedoch ein Wandel von einer vertragsärztlichen Interessenvertretung zur gleichberechtigten Berücksichtigung aller dort Teilnehmenden notwendig – ein schwieriges Unterfangen.
Eine gewisse institutionelle Konstanz würde aber dem Sachverhalt Rechnung tragen, dass zahlreiche Regelungskreise außerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung gesetzgeberisch bedacht werden müssen. So gewährleisten die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die KVen die Versorgung u. a. gegenüber den Unfallversicherungsträgern, der Bundespolizei oder im PKV-Basistarif.
Ökonomisch sind durch eine schrittweise Einführung, bei der zunächst die bisher unterschiedlich vergüteten Bereiche an der ambulant-stationären Schnittstelle unter einheitlichen Rahmenbedingungen zusammengeführt werden, kaum Verwerfungen zu erwarten. Bei der anschließenden sukzessiven Ausweitung auf die fachärztliche Versorgung und potenziell ambulantisierbare stationäre Leistungen ist eine Bereinigung der Budgets voraussichtlich mit relativ geringem Aufwand umsetzbar. Denn in der vertragsärztlichen Versorgung werden bereits Honorartöpfe entlang der ärztlichen Fachgruppen gebildet, in der stationären Versorgung werden die Budgets leistungsbasiert vereinbart.
Versorgungspolitisch sind noch viele Fragen (was wären z. B. die Folgen für den Zulassungsprozess?) zu klären. Deren Beantwortung wird von der konkreten Ausgestaltung abhängen. Absehbar ist, dass bestimmte Aufgaben wie die Definition der Versorgungsaufträge zentralisiert werden. Der lokale Versorgungskontext wird im Rahmen der Anpassung und Ausschreibung durch regionale Gremien berücksichtigt werden. Herausfordernd wird es dabei sein, in den Ausschreibungen die Balance zwischen dem notwendigen Nachweis qualitativer Anforderungen und einer überbordenden Bürokratie – wie z. B. in der ASV – zu finden.
An vielen Stellen kann aber auch eine Entschlackung bisheriger Prozesse erfolgen. Die ambulanten Leistungen im Krankenhaus werden in einem Rechtsrahmen vereinheitlicht. Bisher gesetzlich zu berücksichtigende, aber methodisch kaum belastbar zu bestimmende Aspekte wie die Verlagerungseffekte zwischen den Sektoren entfallen weitgehend. Die vorgeschlagene Strukturierung der Versorgungsaufträge kann auch den Übergang zu umfassenderen Vergütungsformen wie z. B. bundled payments erleichtern.
Durch die explizite Vorgabe eines Leistungsumfangs und einer zu versorgenden Versichertenpopulation wird es außerdem erschwert vornehmlich ausgewählte, finanziell besonders attraktive Leistungen zu erbringen. Mittels der Definition leistungsorientierter Versorgungsaufträge kann somit dem steigenden Interesse institutioneller Investoren an der Gesundheitsversorgung begegnet und ein faires Wettbewerbsumfeld geschaffen werden.
11.2.2 Versorgungssteuerung
Die einleitend skizzierten Versorgungsdefizite werden letztlich nicht allein durch eine veränderte Planung und veränderte finanzielle Anreize behoben werden können. Um langfristig Verbesserungen der Versorgung zu erreichen, müssen darüber hinausgehende Maßnahmen getroffen werden. Ein wesentlicher, aber bisher vernachlässigter Bestandteil der Versorgung ist dabei deren Koordination. Im Folgenden sollen ausgewählte Bereiche dargestellt werden, in denen eine Verbesserung der sektorenübergreifenden Versorgungssteuerung erreicht werden könnte.
In Deutschland ist die „Koordination diagnostischer, therapeutischer und pflegerischer Maßnahmen“ Teil der hausärztlichen Versorgung (§ 73 Abs. 1 Nr. 2 SGB V). Angesichts der international unüblichen starken Arztzentrierung erscheint die organisatorische Weiterentwicklung hin zu Primärversorgungspraxen bzw. -zentren notwendig, die in größeren, multiprofessionellen Strukturen die kontinuierliche und koordinierte Versorgung der Patientinnen und Patienten sicherstellen (siehe SVR
2009, Ziffer 1153 ff. für eine genauere Ausarbeitung). Dieses Modell wird auch von der OECD als aussichtsreich bewertet, um den zukünftigen Ansprüchen an die Versorgung gerecht zu werden (OECD
2020). Im Optimalfall wären diese Praxen/Zentren in größere Versorgernetzwerke wie z. B. Praxisnetze nach § 87b Abs. 2 SGB V (SVR
2018, Ziffer 628 ff.) eingebunden und könnten auf dieser Grundlage eine umfassende koordinierende Rolle des gesamten Versorgungsprozesses wahrnehmen.
In solchen Strukturen könnte durch den Einsatz von Patientenlotsen
ein Fallmanagement
als zusätzliches Angebot für ausgewählte Zielgruppen sinnvoll sein. Gemäß dem Konzept von Braeseke et al. (
2018) würden vor allem vulnerable Personengruppen mit komplexen Versorgungsbedarfen und besonderem Unterstützungsbedarf durch die Hilfsangebote beraten und begleitet. Mithin geht es dabei nicht um zusätzliche medizinische Leistungen, sondern um eine individuelle und bedarfsgerechte Steuerung durch das Gesundheitssystem.
Zusätzlich benötigen Patientinnen und Patienten Hilfestellungen für ihre individuelle Situation, z. B. zu weiteren Versorgungsschritten. Hierbei kann das Versorgungsmanagement durch integrierte Versorgungspfade
unterstützt werden. Dies sind multidisziplinäre Pläne für Patienten mit ähnlichen Diagnosen oder Symptomen und deren zu erwartende Versorgung. Durch solche Schemata kann bei vorhersehbaren Behandlungspfaden sichergestellt werden, dass relevante Behandlungen zeit- und leitliniengerecht erfolgen (Allen et al.
2009). Außerdem besitzen sie das Potenzial, die kooperative Versorgung zu stärken, da eine klare Aufgaben- und Rollenverteilung möglich ist.
Perspektivisch können insbesondere datengetriebene Versorgungspfade die Koordination der Versorgung deutlich erleichtern. Basierend auf Abrechnungsdaten und den Daten elektronischer Patientenakten würden übliche Behandlungsabläufe identifiziert und anschließend medizinisch verifiziert. Die digitalen Versorgungspfade könnten von den koordinierenden Leistungserbringern mit geringen Aufwand ausgewählt und anschließend automatisiert nachverfolgt werden. Bei unvorhergesehenen Abweichungen in den individuellen Versorgungswegen – z. B. bei nicht zeitgerechter Durchführung weiterer Abklärungen – würden die Koordinierungsverantwortlichen benachrichtigt. Die bedarfsgerechte Koordination der Versorgung könnte umfassend ausgeweitet werden, ohne dass die personellen und finanziellen Ressourcen übermäßig beansprucht würden. Im Zusammenspiel mit der Erfassung patientenbezogener Ergebnisindikatoren würden sie weiterentwickelt und individualisiert. Zur Förderung der Nutzung wären Koordinationspauschalen zu vergüten und an die Einrichtung, Anpassung und Nachverfolgung von Behandlungspfaden zu binden.
Vor allem im internationalen Krankenhausumfeld werden datengetriebene Versorgungspfade bereits eingesetzt (Kempa-Liehr et al.
2020). Obwohl viele Studien eine Verbesserung der Behandlungsergebnisse nach der Implementierung von IT-gestützten Versorgungspfaden berichten, werden eindeutige Schlüsse noch durch methodische Schwächen erschwert (Neame et al.
2019).
In Deutschland wurde die mangelnde Digitalisierung hingegen einmal mehr während der Corona-Pandemie deutlich. Meldungen an Gesundheitsämter, Informationen zum Versorgungsgeschehen wie die Anzahl durchgeführter Tests oder die Meldung freier Kapazitäten hätten bei einem höheren Grad der Digitalisierung deutlich reibungsloser und schneller erfolgen können. Für die Krankenhäuser soll die digitale Ausstattung der Krankenhäuser mit dem Krankenhauszukunftsgesetz nun über den Strukturfonds gefördert werden. Für das Fortschreiten der Digitalisierung im niedergelassenen Bereich wären ähnliche Überlegungen wünschenswert, um Streitereien zur Finanzierungsverantwortung aufzulösen und die u. a. daraus resultierende langwierige Einführung zu beschleunigen.
Auch innerhalb der Ärzteschaft nimmt die Bedeutung kooperativer Strukturen nur auf den ersten Blick zu. Zwar war fast die Hälfte der Ärzteschaft 2018 in Berufsausübungsgemeinschaften (BAG) oder medizinischen Versorgungszentren (MVZ) tätig (KBV
2020b) – BAG mit sinkendem, MVZ mit steigendem Anteil. 90 % der BAG sind aber fachgleich; deutschlandweit gibt es nur etwas über 1.000 fach- oder versorgungsbereichsübergreifende Praxen (KBV
2020a). Der starke Anstieg fachgleicher MVZ-Gründungen (SVR
2018, Ziffer 620 f.) und die Umfragen zur Gründungsmotivation (KBV
2016) lassen ebenso daran zweifeln, dass diese „kooperativen Strukturen“ hauptsächlich für die bessere Zusammenarbeit gebildet werden. Stattdessen könnten finanzielle und organisatorische Gründe im Vordergrund stehen.
Andererseits gewann die Vernetzung über Praxisnetze
in den letzten Jahren an Bedeutung (SVR
2018, Ziffer 628 ff.). Die von der Bundesregierung beabsichtigte „Neujustierung der interprofessionellen Zusammenarbeit“ (Osterloh
2020) könnte zusätzlich Impulse setzen. Diese sind dringend notwendig, um die ambulanten und stationären Strukturen auf die zukünftige Versorgung vorzubereiten.
11.2.3 Versorgungsmanagement der Krankenkassen
Um in diesen Bereichen – und darüber hinaus – für den regionalen Kontext geeignete Maßnahmen auszuwählen und in der Praxis umzusetzen, ist eine stärkere Einbindung der Krankenkassen in die Versorgungssteuerung notwendig. Kollektivvertragliche Verhandlungen sind zumeist eher schwerfällig und aufgrund der auseinanderliegenden Interessen wird oft nur der kleinste gemeinsame Nenner erreicht. Es ist daher gut vorstellbar, Versorgungsaufträge an die Krankenkassen zu übertragen, die sie durch selektivvertragliche Vereinbarungen mit Leistungserbringern ausgestalten müssten. Besondere Bereiche wie die Notfallversorgung oder die Versorgung seltener Erkrankungen wären hiervon auszunehmen. Für andere Leistungen wären insbesondere in urbanen Verdichtungsräumen aber ausreichend Kapazitäten vorhanden, um einen funktionierenden Wettbewerb zu ermöglichen.
In von Unterversorgung bedrohten Regionen ist ein Wettbewerb
zwischen Leistungserbringern unwahrscheinlich. Diese Regionen werden von Forderungen nach mehr Wettbewerb oft ausgenommen (Jacobs
2020), unter anderem da die Niederlassungsentscheidung der Ärztinnen und Ärzte stark von sozialen und strukturellen, für die Gesundheitsversorgung also externen Faktoren, abhängt (Stengler et al.
2012). Auch dort ist Wettbewerb zwischen Krankenkassen aber grundsätzlich möglich, wenn ihnen eine größere Rolle in der Organisation der Versorgung übertragen würde. Die Krankenkasse, die in geeigneter Weise Anreize für eine angemessene Versorgung setzt und zusätzliche Leistungserbringer kontrahiert (oder z. B. telemedizinische Kapazitäten sicherstellt), besäße eine starke Anziehungskraft für die ansässigen Versicherten. Es müssten aber – so gesellschaftlich gewollt – entsprechende Anreize gesetzt werden, um die Versorgung unterversorgter Gebiete sowohl für Leistungserbringer als auch Krankenkassen attraktiv zu gestalten.
Ein aktives Versorgungsmanagement
und die damit einhergehende Übernahme des Sicherstellungsauftrags durch die Krankenkassen sollten einflussreiche Wettbewerbsparameter darstellen. Der kollektive Kontrahierungszwang und das (bisher) strenge Wirtschaftlichkeitsgebot der selektiven Verträge bilden in der Praxis aber kaum geeignete Rahmenbedingungen für einen echten Vertragswettbewerb
. Den Leistungserbringern steht die „kollektive Hängematte“ (Jacobs
2020, S. 27) als Rückfalloption zur Verfügung, sodass selektivvertragliche Lösungen in der Regel zusätzliche Vergütung bedeuten. Allerdings wird, solange beide vertraglichen Möglichkeiten parallel bestehen, stets ein Spagat zwischen der Sicherstellung kollektiver Versorgungsaufträge auf der einen und den selektiven Wettbewerbsmöglichkeiten auf der anderen Seite notwendig sein.
Für die Krankenkassen bestehen derzeit kaum Anreize, sich im Markt mit besonderen Versorgungsangeboten zu differenzieren (Schreyögg
2019). Einerseits wird befürchtet, eher die „falschen“ Versicherten zu attrahieren, was mit finanziellen Nachteilen im Risikostrukturausgleich (RSA) verbunden wäre. Andererseits sind die Gestaltungsspielräume der Krankenkassen oft auch zu eingeschränkt, um eine echte Differenzierung im Wettbewerb zu erreichen. Die geringen finanziellen Anreize im Morbi-RSA, u. a. zur Gesundheitsprävention bzw. zur Gesunderhaltung der Versicherten (Monopolkommission
2019), erschweren die Ausschöpfung des Potenzials von Selektivverträgen weiter. Mit dem Versorgungsverbesserungsgesetz
sollen daher die Rahmenbedingungen ab 2021 verbessert werden. So werden z. B. der separate Wirtschaftlichkeitsnachweis bei Verträgen nach § 140a SGB V gestrichen und die Spielräume der Krankenkassen erweitert. Darauf aufbauend sollte auch der weitere ordnungspolitische Rahmen umgebaut werden. Andere Versorgungsformen wie Disease-Management-Programme sollten ebenfalls liberalisiert werden. Stärkere Anreize – anstelle gesetzlicher Verpflichtungen – sollten das Abschließen integrierter (populationsorientierter) Versorgungsprogramme fördern (Schreyögg
2019).
Denn die fokussierte und durchdachte Ausgestaltung ist für den Erfolg der Versorgungsprogramme wesentlich, wie die wissenschaftliche Literatur zeigt. Die heterogenen Ergebnisse bisheriger Projekte (z. B. Milstein und Schreyögg
2016) unterstreichen, dass bei der Ausgestaltung der Anreizstrukturen besondere Aufmerksamkeit geboten ist und Reformen im lokalen Kontext betrachtet werden müssen. Verschiedenste Faktoren motivieren und befähigen Leistungserbringer, eine qualitativ hochwertige und dabei kosteneffiziente Versorgung zu erbringen. Der Erfolg einer Maßnahme hängt also nicht nur von der Art und Höhe des finanziellen Anreizes ab, sondern auch von den Begleitumständen (Emanuel et al.
2016). Verhaltensökonomische Prinzipien könnten so zu einer verbesserten Anreizsetzung beitragen. Erstens werden Individuen von dem Vergleich ihrer Leistung zu anderen beeinflusst. Soziales Benchmarking kann so bei geeigneter Ausgestaltung Verhaltensanreize
setzen. Zweitens haben Zeitpunkt und Art einer Vergütung Einfluss auf deren Wahrnehmung. Gehen Bonuszahlungen in den allgemeinen Wirrungen eines (Monate später erhaltenen) Honorarbescheides unter, werden sie vermutlich keine Auswirkung auf das Verhalten haben. Drittens sollten angepasste prozessuale Abläufe die Orientierung an der Qualität als Standard vorsehen und nicht als besonderen, mit Mühen verbundenen separaten Versorgungszweig (Emanuel et al.
2016). Insbesondere bei dem Versuch, die Koordinierung der Versorgung zu verbessern, muss außerdem zwischen der Anreizwirkung auf einzelne Leistungserbringer und auf deren Gruppen unterschieden werden (Heider und Mang
2020). Maßnahmen, die nicht nur auf monetäre Faktoren fokussieren, könnten dabei insgesamt effektiver in der Zielerreichung sein (Lagarde et al.
2019; Phipps-Taylor und Shortell
2016).
Verträge, die ausschließlich zur Einhaltung gesetzlicher Pflichten vereinbart werden, haben vor diesem Hintergrund wenig Aussicht auf längerfristigen Erfolg. Gestaltungswille lässt sich nicht verordnen. Daher ist auch das verpflichtende Angebot einer hausarztzentrierten Versorgung (§ 73b Abs. 1 SGB V) wenig zielführend. Eine stärkere Rolle der primärärztlichen Versorgung ist zweifelslos notwendig, aber durch den derzeitigen Vereinbarungszwang werden eher Pro-forma-Abschlüsse mit fraglichem Nutzen als sinnvolle und zielgerichtete Versorgungsangebote geschaffen.
Letztendlich müssen Freiräume geschaffen werden, in denen sich aussichtsreiche Versorgungsmodelle ergeben können. Transparenz über die Versorgung vorausgesetzt, sollten qualitative und finanzielle Vorteile für die Durchsetzung koordinierter und integrierter Versorgungsmodelle ausreichen.