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04.06.2025 | Klima | e-only | Online-Artikel

Interview

Hitzeschutz leicht gemacht!

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Interviewt wurde:
Anja Lehnertz, Hebamme (M.A.)

Der Sommer steht vor der Tür – und mit ihm werden wieder extreme Temperaturen erwartet. Im Interview erklärt Anja Lehnertz von den Midwives for Future, welche physiologischen Besonderheiten Schwangere anfällig für Hitzestress machen, welche Symptome ernst zu nehmen sind und wie eine effektive Prävention in der Betreuung gelingt.

© privatAnja Lehnertz, © privat

Frau Lehnertz, was hat Sie dazu motiviert, ein Hitzetool für Hebammen zu entwickeln? 

Lehnertz: Hebammen verfügen über ein breites Fachwissen und begleiten Schwangere und Familien ganzheitlich. Dabei können jedoch spezifische Themen wie der Hitzeschutz im Praxisalltag in den Hintergrund geraten. Angesichts der zunehmenden klimatischen Veränderungen ist es jedoch essenziell, dass Hebammen über eine praxistaugliche und schnell zugängliche Entscheidungsgrundlage verfügen.
Die von mir entwickelte Checkliste „CHILL’D-OUT“ dient als strukturierte Gedankenstütze, die es ermöglicht, das individuelle Hitzestressrisiko für die betreute Frau systematisch einzuschätzen, evidenzbasierte Informationen zu geben oder sogar Schutzmaßnahmen einzuleiten. Im Tool geht es nicht nur um Hitze - auch die Luftqualität wird als Screening-Faktor aufgegriffen.
Im Rahmen der kommunalen Hitzeschutzplanung wurde deutlich, dass die spezifischen Auswirkungen von Hitze auf Schwangerschaft und fetale Entwicklung bislang weder in der Gesundheitsversorgung noch in der Stadtplanung oder im Katastrophenschutz umfassend bekannt sind. Die Grundlage des Tools kommt von der CDC (Centers for Disease Control and Prevention), der US-Behörde für Katastrophenschutz. Mir war es wichtig, daraus ein praxisorientiertes Tool zu entwickeln.

Wie unterscheidet sich das Tool von bestehenden Informationsquellen oder Leitlinien zum Hitzeschutz?

Lehnertz: Im Gegensatz zu allgemeinen Hitzeschutzempfehlungen oder Leitlinien, die häufig übergeordnete Maßnahmen beschreiben, richtet sich die Checkliste gezielt an Hebammen in der direkten Betreuung. Sie kombiniert verschiedene Einflussfaktoren von der Wohnsituation über Medikamenteneinnahme bis hin zu sozialer Unterstützung und ermöglicht so eine individuelle Einschätzung des Hitzestressrisikos für die betreute Schwangere. Zudem ist sie als niedrigschwellige, praxisnahe Handlungshilfe konzipiert, die schnell eingesetzt werden kann. 

Warum sind Schwangere besonders anfällig für Hitze?

Lehnertz: Die erhöhte Vulnerabilität Schwangerer gegenüber Hitze beruht auf mehreren physiologischen Faktoren. Erst einmal ist da die veränderte Thermoregulation: Während der Schwangerschaft steigt das Blutvolumen, wodurch das Herz-Kreislauf-System stärker belastet wird. Gleichzeitig ist die Wärmeabgabe über die Haut reduziert, da sich der arterielle Blutfluss zur Gebärmutter und Plazenta verlagert. Durch das Wachstum des Fötus und die gesteigerte Stoffwechselrate produziert der Körper der Schwangeren mehr Wärme, wodurch das Risiko für Hitzestress steigt. Zudem führen hormonelle Veränderungen dazu, dass Schwangere oft langsamer und weniger effizient schwitzen, was die körpereigene Kühlung erschwert. Die veränderte Gefäßregulation ist ebenfalls ein wichtiger Faktor: Progesteron führt zu einer Weitstellung der Gefäße, was in Kombination mit Flüssigkeitsverlust an heißen Tagen zu einer erhöhten Kreislaufbelastung und einem Risiko für orthostatische Hypotonie führen kann.

Welche gesundheitlichen Risiken bestehen für Mutter und Kind bei großer Hitze? 

Lehnertz: Wissenschaftliche Studien zeigen, dass Hitzestress mit verschiedenen Schwangerschaftskomplikationen in Verbindung steht: 

  • Erhöhte Rate an Fehlbildungen: Besonders während der Embryogenese kann eine anhaltend hohe Körpertemperatur zu Neuralrohrdefekten und anderen Entwicklungsstörungen führen (Van Zutphen et al. 2012).
  • Erhöhtes Risiko für Frühgeburten: Hitzewellen sind mit einer gesteigerten Frühgeburtenrate assoziiert. Mechanismen hierfür umfassen uteroplazentäre Durchblutungsstörungen,
  • Steigerung der Totgeburtenrate: Ein Experten-Review ergab, dass extreme Hitzeepisoden mit einer erhöhten Totgeburtenrate korrelieren, insbesondere in den letzten Schwangerschaftswochen (Bonell et al. 2024).
  • Mütterliche Komplikationen: Hitze kann zu Präeklampsie, Dehydratation und Hitzschlag führen. Besonders betroffen sind Frauen mit vorbestehenden Erkrankungen wie Hypertonie oder Diabetes (Jiao A et al. 2023)

Welche Symptome sollten Schwangere ernst nehmen, wenn sie sich durch Hitze unwohl fühlen?

Lehnertz: Zu den Warnzeichen gehören anhaltende Kopfschmerzen, Schwindel oder Kreislaufprobleme, Übelkeit mit oder ohne Erbrechen, deutlich reduzierte oder dunkler gefärbte Urinausscheidung, plötzliche auftretende starke Müdigkeit oder Schwäche, Anzeichen vorzeitiger Wehentätigkeit (Druckgefühl, Unterleibsschmerzen) und Ohnmachtsgefühle.

Haben Sie besondere Tipps für Hebammen, wenn sie Schwangere in heißen Monaten betreuen? 

Lehnertz: Zunächst einmal können sie mit der Checkliste „CHILL’D-OUT“ individuelle Risikofaktoren systematisch erfassen. Die Liste kann über meine Mailadresse für eine bestellt werden (anja.lehnertz@web.de; gegen eine Gebühr von 2€ zzgl. Versand). Zusätzlich ist es von Vorteil, den kommunalen Hitzeschutzplan zu kennen und Schwangere gezielt auf „kühle Orte“ hinzuweisen. Schwangeren und ihre Familien können hilfreiche Informationen bereitgestellt werden wie etwa der Handzettel „Hitzeschutz“ von Midwives for Future oder die Materialien des Netzwerks Klimadocs. Hitzeschutzmaßnahmen der Wohnsituationen sollten angesprochen werden – besondere Aufmerksamkeit sollte dabei auf sozial benachteiligte Schwangere gerichtet werden, da diese oft in hitzebelasteten Wohnungen leben. Letzten Endes sind auch die Selbstschutzmaßnahmen für Hebammen zu beachten, um auch in Hitzeperioden handlungsfähig zu bleiben!

Das Interview führte Joana Rohr

Tipp der Redaktion:
Schritt für Schritt zu mehr Nachhaltigkeit! Die Leitfäden der Initiative „ambulant nachhaltig" bieten eine Übersicht konkreter Maßnahmen für die unterschiedlichen Akteursgruppen im ambulanten Gesundheitswesen und wurden in Zusammenarbeit mit Fachpersonen aus der ambulanten Praxis entwickelt. Sie sollen dabei helfen, Maßnahmen identifizieren, um den Ressourcenverbrauch, die Umweltbelastung und Klimagasemissionen nachhaltig zu reduzieren. 

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Literatur

Bonell A, et al. An expert review of environmental heat exposure and stillbirth in the face of climate change: Clinical implications and priority, issues. BJOG. 2024;131(5):623–631. https://doi.org/10.1111/1471-0528.17622

Basu R, Rau R, Pearson D, Malig B. Temperature and term low birth weight in California. Am J Epidemiol. 2018; 187(11): 2306–2314.

Chersich MF, Pham MD, Areal A, Haghighi MM, Manyuchi A, Swift CP, et al. Associations between high temperatures in pregnancy and risk of preterm birth, low birth weight, and stillbirths: systematic review and meta-analysis. BMJ. 2020; 371:m3811.

Edwards MJ, Saunders RD, Shiota K. Effects of heat on embryos and foetuses. Int J Hyperthermia. 2003; 19(3): 295–324.

Jiao A, et al. Analysis of Heat Exposure During Pregnancy and Severe Maternal Morbidity. JAMA Netw Open. 2023 Sep 5;6(9):e2332780. doi: 10.1001/jamanetworkopen.2023.32780. PMID: 37676659; PMCID: PMC10485728.

Sexton J, et al. Systematic review of ambient temperature exposure during pregnancy and stillbirth: methods and evidence. Environ Res. 2021; 197:111037.

Van Zutphen AR, Lin S, Fletcher BA, Hwang SA. A population-based case-control study of extreme summer temperature and birth defects. Environ Health Perspect. 2012 Oct;120(10):1443-9. doi: 10.1289/ehp.1104671. Epub 2012 Jun 27. PMID: 23031822; PMCID: PMC3491926.

Rekha, S., Nalini, S. J., Bhuvana, S., Kanmani, S., Hirst, J. E., & Venugopal, V. (2024). Heat stress and adverse pregnancy outcome: Prospective cohort study. BJOG : an international journal of obstetrics and gynaecology131(5), 612–622. https://doi.org/10.1111/1471-0528.17680
Moodley Y, Asare K, Tanser F, Tomita A. Maternal exposure to heat and its association with miscarriage in rural KwaZulu-Natal, South Africa: A population-based cohort study. Women’s Health. 2024;20. doi:10.1177/17455057241259171

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