Die zunehmende Belastung von Krankenhausnotaufnahmen (KHN) durch wenig dringliche Patienten wirft Fragen nach Fehlsteuerungen bzw. Versorgungsdefiziten in anderen Bereichen auf.
Methode
Retrospektive Datenanalyse einer Zufallsstichprobe aus allen Fällen des Jahres 2019 zweier KHN in einer Metropolregion. Wir untersuchten Patienten, die ambulant versorgt, aber mit einem Krankentransportmittel (KT) wieder aus der Notaufnahme abtransportiert wurden.
Ergebnisse
1500 Patienten (767 [51,1 %] weiblich; Alter 56 ± 22,7 Jahre) aus einer Grundgesamtheit von 80.845 Patienten wurden analysiert. 888 (59,2 %) wurden ambulant versorgt. Jeweils 9 (0,5 %), 193 (12,9 %), 684 (45,6 %), 508 (33,9 %) und 48 (3,2 %) waren den Manchester-Triage-System-Kategorien Rot, Orange, Gelb, Grün bzw. Blau zugeordnet. Von 880 ambulanten Patienten wurden 731 (83,2 %) selbstständig und 149 (16,8 %) mit einem KT entlassen. Über die Hälfte der per KT entlassenen Patienten war mit urologischen Problemen, Extremitätenproblemen und nach Stürzen vorgestellt worden. Die liegend transportierten ambulant versorgten Patienten hatten ein höheres Alter (76,2 ± 16,2 vs. 45,1 ± 20,5 Jahre; p < 0,001), einen höheren Charlson Comorbidity Index (5 [3–6] vs. 0 [0–2]; p < 0,001), erhielten seltener eine CT-Diagnostik und häufiger lediglich eine einfache medizinische Maßnahme ohne diagnostischen Aufwand (24,8 % vs. 4,6 %; p < 0,001). Sie wurden zu einem größeren Anteil mehrfach vorgestellt (28,9 % vs. 8,5 %; p < 0,001). Der Anteil an Heimbewohnern war höher (59,5 % vs. 0 %; p < 0,001).
Schlussfolgerung
Etwa ein Zehntel der insgesamt in den KHN versorgten Patienten blieb ambulant und wurde mit einem KT entlassen. Mehr als die Hälfte wurde aus stationären Pflegeeinrichtungen vorgestellt. Ein Großteil erhielt einfache Leistungen und kaum Diagnostik und hatte eine niedrige Triagedringlichkeit.
Hinweise
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Die zunehmende Zahl ambulanter Patienten in Krankenhausnotaufnahmen (KHN) führt zur Überbeanspruchung. Die Analyse von Nutzergruppen kann einen Beitrag leisten, um effizientere Versorgungsmöglichkeiten für diese Patienten aufzuzeigen. Bisher stand vor allem das subjektive Dringlichkeits- bzw. Bedrohungsempfinden der Patienten im Zentrum des Forschungsinteresses. Andere Gründe für die Vorstellung von nicht potenziell schwer akut erkrankten Patienten in KHN können in besonderen Bedarfslagen der Patienten und der speziellen Infrastruktur von KHN liegen. Wir nehmen im Folgenden eine Charakterisierung von immobilen ambulanten Patienten in KHN vor.
Hintergrund
Immer mehr Menschen wenden sich mit gesundheitlichen Problemen an die Notaufnahmen der Krankenhäuser. Krankenhausnotaufnahmen (KHN) verfügen über eine breite diagnostische Ausstattung und eine zunehmend interdisziplinäre Ausrichtung. Sie haben direkten Zugang zu diagnostischen Leistungen wie Bildgebungsverfahren oder Laboruntersuchungen und können rasch konsiliarische Beurteilungen durch unterschiedliche Fachdisziplinen sicherstellen. KHN klären so auch komplexe Sachverhalte jenseits der unmittelbaren Notfallversorgung akut lebensbedrohlicher Erkrankungen in einem überschaubaren zeitlichen Rahmen. Für die Patienten bedeutet dies nicht nur rasche medizinische Hilfe, sondern auch eine schnelle Rückversicherung gegenüber krankheitsbezogenen Ängsten bei einem – von den allseits beklagten Wartezeiten abgesehen – geringen zeitlichen Aufwand.
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Relativ barrierefreie und rund um die Uhr zugängliche KHN können aus ihrer zentralen Position zwischen den Versorgungssektoren heraus auch empfindliche Indikatoren für Versorgungsdefizite in anderen Bereichen der Gesundheitsfürsorge sein.
Der Ausbau notfallmedizinischer Strukturen entwickelt sich dabei nicht im gleichen Maß wie die Patientenzahlen. Entsprechend überfüllte Notaufnahmen bieten unwürdige Versorgungsbedingungen [1] und schlechtere medizinische Ergebnisse [2]. Dies bedingt auch in Deutschland ein zunehmendes Forschungsinteresse an Nutzungsmustern von KHN.
Unumstritten ist deren Rolle in der Versorgung akut lebensbedrohlich erkrankter Patientinnen und Patienten. Eine stationäre Aufnahme wird oft vereinfachend als Nachweis für die Richtigkeit der Zuordnung von Patienten zu KHN interpretiert, eine ambulante Versorgung als Indikator für eine fehlerhafte Zuordnung im Sinne anderweitiger Versorgungsalternativen. Auf der Suche nach vermeidbaren Ineffizienzen in KHN liegt das Hauptaugenmerk deshalb auf ambulant entlassenen Patienten. Daten zu den Gründen der Vorstellung dieser Patientengruppe in KHN sind noch spärlich. Bisherige Untersuchungen haben sich sowohl im internationalen [3, 4] als auch im nationalen Kontext [5, 6] überwiegend mit subjektiven Vorstellungsgründen niedrig dringlicher fußläufiger Patienten befasst. Bei den Ergebnissen standen die subjektiv empfundene medizinische Dringlichkeit der Patienten sowie nichtmedizinische Gründe wie Zugänglichkeit, vermutete umfangreiche Ausstattung und die Erwartung einer raschen und umfassenden Abklärung als Ergebnisse im Vordergrund.
Die interdisziplinär angelegten und auf den Umgang mit immobilen Patienten eingerichteten KHN könnten aber auch aus anderen Gründen von Patienten mit niedriger Dringlichkeit und absehbar fehlendem stationärem Versorgungsbedarf aufgesucht werden. Multimorbidität und erhöhter Versorgungsbedarf bereits bei gering dringlichen Akuterkrankungen sind Faktoren, die Vorstellungen in KHN begünstigen [7].
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Barrierefreiheit gegenüber Immobilität verbunden mit der Möglichkeit einer Anfahrt von Transportmitteln zeichnet KHN gegenüber zahlreichen Versorgern im niedergelassenen Bereich aus. Immobilität im weiten Sinn könnte somit ein wichtiger Faktor sein, der zur Nutzung von KHN durch Patienten ohne akut lebensbedrohliche Erkrankungen beiträgt. Wir charakterisieren im Folgenden immobile, ambulant betreute Patienten aus zwei KHN.
Patienten und Methode
Retrospektive Datenanalyse einer zufallsgenerierten Stichprobe. Aus dem Krankenhausinformationssystem (KIS; Orbis, Daedalus, Florenz, Italien) wurden alle Triageprotokolle (in den beteiligten Häusern wird nach dem Manchester Triage System priorisiert), Zeitmarken und initiale Vitalparameter für sämtliche konsekutiven Patientenkontakte des Jahres 2019 der interdisziplinären Notaufnahmen von zwei Krankenhäusern der Schwerpunktversorgung im Nordwesten Berlins extrahiert. Alle Patientinnen und Patienten wurden in ein „spreadsheet“ eingegeben. Durch Zuordnung computergenerierter Zufallszahlen zu den einzelnen Datensätzen wurde eine zufallsgenerierte Stichprobe von 1500 Patienten gewonnen. Jeder Patient wurde nur einmal in die Stichprobe eingeschlossen. Die Datensätze dieser Patienten wurden durch manuelle Analyse der elektronischen Patientenakten inklusive der Digitalisate von Papierdokumenten (z. B. Einweisungsscheine, Überleitungsbögen, Vorberichte) erweitert. Demografische, klinische und prozedurale Variablen wurden aus den elektronischen Patientenakten übernommen. Die Zahl der Vorstellungen dieser Patienten in Notaufnahmen des Vivantes-Krankenhaus-Verbunds im vergangenen Jahr wurde ebenfalls aus den Patientenakten übernommen. Der diagnostische und therapeutische Aufwand innerhalb der Notaufnahme wurde aus Gründen der Vergleichbarkeit analog dem Emergency Severity Index (ESI; [8‐10]) dargestellt (Tab. 1).
Abweichend vom ESI wurden auch die Versorgung mit Schienen und Gipslonguetten sowie die einfache Wundversorgung als Ressourcen gewertet, um die Arbeitsbelastung der Notaufnahme besser abzubilden. Für jede in Anspruch genommene Ressource wurde ein Punkt addiert, für komplexe Maßnahmen 2 Punkte. Für alle Patienten wurde der Charlson Comorbidity Index (CCI) auf Grundlage der insgesamt zur Verfügung stehenden Dokumentation als Parameter der Multimorbidität ermittelt [11].
Wir verglichen die Gruppen ambulanter Patienten mit und ohne Abtransport durch ein Krankentransportmittel.
Ethische Aspekte
Diese retrospektive Kohortenstudie wurde von der Ethikkommission der Ärztekammer Berlin begutachtet und genehmigt, auf eine schriftliche Einwilligung der Patienten wurde unter der Voraussetzung der lediglich retrospektiven Datenerhebung verzichtet (Eth-22/19). Die Studie ist Konform zur Deklaration von Helsinki und orientiert sich an den STROBE-Kriterien für das „reporting“ observationeller Studien. Die Studie wurde ohne externe Finanzierung durchgeführt. Die Autoren geben keine Interessenkonflikte an.
Statistik
Die Patientendaten wurden in ein „spreadsheet“ eingegeben (EXCEL 16, Microsoft Corporation, Redmond, WA, USA) und in SPSS Statistics 26 (IBM, Armonk, NY, USA) ausgewertet. Streuungsmaße für ordinale und nichtnormalverteilte kardinale Daten wurden als Median (25.–75. Perzentil), für normalverteilte (nach visueller Inspektion der Histogramme) Daten als Mittelwert ± Standardabweichung angegeben.
Für Gruppenvergleiche nominaler Daten wurde der Chi2-Test angewandt, Vergleiche nichtparametrischer Daten zwischen unverbundenen Stichproben erfolgten mit dem Mann-Whitney-U-Test. Normalverteilte kardinale Daten wurden mit dem T‑Test für unverbundene Stichproben verglichen. Signifikanz wurde nach Bonferroni-Korrektur für multiples Testen (30 Hypothesen) für p-Werte < 0,0016 angenommen. Bezüglich des Zusammenhangs zwischen Triagestufe und stationärer Aufnahme wurde eine ROC-Analyse zur Ermittlung der c‑Statistik durchgeführt.
Ergebnisse
Vom 01.01.2019 bis zum 31.12.2019 stellten sich 80.845 Patientinnen und Patienten in den beiden teilnehmenden Notaufnahmen vor. Hieraus wurde eine Zufallsstichprobe von 1500 Patientinnen und Patienten (767 [51,1 %] weiblich; Alter 56 ± 22,7 Jahre) generiert (Tab. 2).
Tab. 2
Daten der Grundgesamtheit und Stichprobe
Grundgesamtheit
Stichprobe n (%; 95 %-CI)
Alter (Jahre), Mittelwert
56,5
56,0 ± 22,7
Geschlecht (weiblich), n (%)
40.582 (50,2)
767 (51,1; 48,6–53,6)
Zentrum I vs. Zentrum II
44.908 (55,5)
858 (57,2; 54,7–59,7)
Ambulant entlassen
47.458 (58,7)
888 (59,8; 57,3–60,3)
Vorstellung per
Notarztbegleitung
1821 (3,5)
58 (3,9; 2,9–4,9)
Rettungswagen ohne NA
26.767 (33,1)
464 (30,9; 28,6–33,2)
KTW
9475 (11,7)
198 (13,2; 11,5–14,9)
Selbstvorsteller
38.538 (47,7)
718 (47,9; 45,2–50,2)
Triagestufen
Rot
397 (0,5)
9 (0,6; 0,2–1,0)
Orange
10.119 (12,5)
193 (12,9; 11,2–14,6)
Gelb
34.620 (42,8)
684 (45,6; 40,2–45,3)
Grün
29.912 (37,0)
508 (33,9; 31,5–36,3)
Blau
2698 (3,3)
48 (3,2; 2,3–4,1)
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Von diesen Patienten hatten sich 718 (47,9 %) privat vorgestellt, die übrigen wurden von einem Krankentransportwagen (198 [13,2 %]) oder durch Rettungsfahrzeuge (Rettungswagen: 522 [34,8 %], davon notarztbegleitet: 58 [3,9 %]) oder durch die Polizei vorgestellt. Den MTS-Triagekategorien Rot, Orange, Gelb, Grün bzw. Blau wurden jeweils 9 (0,5 %), 193 (12,9 %), 684 (45,6 %), 508 (33,9 %) und 48 (3,2 %) zugeordnet. Insgesamt wurden 888 (59,2 %) der Patienten ambulant versorgt. Der Anteil stationär aufgenommener Patienten lag in den unterschiedlichen Triagekategorien bei 77,8 % (rot), 72,0 % (orange), 44,9 % (gelb), 27,9 % (grün) und 14,6 % (blau). Die Konkordanzstatistik der Triagestufe bezüglich des binären Ergebnisses einer stationären Aufnahme (ja oder nein) hatte einen Wert von 0,664 (0,636–0,692) und zeigte damit nur eine moderate Aussagekraft der Triagestufe bezüglich der Wahrscheinlichkeit einer stationären Aufnahme.
Bei 880 der ambulanten Patienten war der Modus des Abtransports (mit oder ohne Krankentransportmittel) dokumentiert. Von diesen wurden 731 (83,2 %) selbstständig und 149 (16,8 %) mit einem Krankentransport entlassen.
Die jeweils 10 häufigsten MTS-Präsentationsdiagramme für die Gesamtzahl der Patienten und die beiden Entlassungsgruppen sind in Tab. 3 aufgeführt.
Tab. 3
Häufigste MTS-Diagramme
Pos
Alle ambulanten Patienten
n (%)
Ambulante Patienten selbst mobil
n (%)
Ambulante Patienten nicht mobil
n (%)
1
Extremitätenprobleme
153 (17,2)
Extremitätenprobleme
129 (17,5)
Urologische Probleme
46 (30,9)
2
Urologische Probleme
101 (11,4)
Unwohlsein bei Erwachsenen
77 (10,4)
Extremitätenprobleme
24 (16,1)
3
Unwohlsein bei Erwachsenen
89 (10,0)
Abdominelle Schmerzen bei Erwachsenen
56 (7,6)
Stürze
14 (9,4)
4
Abdominelle Schmerzen bei Erwachsenen
65 (7,3)
Urologische Probleme
55 (7,4)
Unwohlsein bei Erwachsenen
12 (8,1)
5
Wunden
46 (5,2)
Thoraxschmerz
42 (5,7)
Kopfverletzung
9 (6,0)
6
Thoraxschmerz
44 (5,0)
Wunden
41 (5,5)
Abdominelle Schmerzen bei Erwachsenen
9 (6,0)
7
Psychiatrische Erkrankung
42 (4,7)
Psychiatrische Erkrankung
37 (5,0)
Wunden
5 (3,4)
8
Rückenschmerz
36 (4,1)
Rückenschmerz
32 (4,3)
Psychiatrische Erkrankung
5 (3,4)
9
Stürze
35 (3,9)
Stürze
21 (2,8)
Rückenschmerz
4 (2,7)
10
Kopfschmerz
18 (2,0)
Kopfschmerz
21 (2,8 %)
Auffälliges Verhalten
3 (2,0)
Es zeigt sich, dass über die Hälfte der per Krankentransport entlassenen Patienten mit urologischen Problemen, Extremitätenproblemen und nach Stürzen vorgestellt wurden. Demografische, klinische und prozedurale Parameter der Patienten sind in Tab. 4 dargestellt.
Tab. 4
Demografische, klinische und prozedurale Parameter ambulanter Patienten
Parameter
Alle ambulanten
Ambulant mobil
Ambulant immobil
P immobil vs. mobil
Alter (Jahre) (n = 888)
50,3 ± 23,0
45,1 ± 20,5
76,2 ± 16,2
< 0,0001*
Geschlecht n-w (%) (n = 888)
472 (53,2)
386 (52,2)
86 (57,7)
0,221
Triagegruppe (n = 844)
3 (3–4)
3 (3–4)
3 (3–4)
0,288
Schmerzskala (n = 844)
0 (0–0)
0 (0–0)
0 (0–0)
0,636
Vorstellung während „Praxiszeit“ (n = 888)
568 (64,0)
476 (64,4)
92 (61,7)
0,536
Vorher Arztkontakt (n = 888)
116 (13,1)
101 (13,7)
15 (10,1)
0,232
Heimbewohner (n = 888)
88 (10,3)
0 (0)
88 (59,5)
< 0,0001*
GCS (n = 278)
15 (15–15)
15 (15–15)
15 (14–15)
< 0,0001*
RR systolisch (n = 633)
143,3 ± 24,8
143,4 ± 24,3
142,9 ± 27,3
0,873
HF (n = 529)
81,6 ± 14,8
85,6 ± 16,4
82,8 ± 17,7
0,047
SO2 (n = 410)
98 (97–100)
98 (97–100)
97 (95–99)
< 0,0001*
EKG (n = 888)
180 (21,1)
147 (20,9)
33 (22,3)
0,701
Röntgen (n = 888)
166 (19,5)
130 (18,5)
36 (24,2)
0,102
Ultraschall (n = 888)
151 (17,7)
133 (18,9)
18 (12,2)
0,051
CT (n = 888)
57 (6,7)
36 (5,1)
21 (14,2)
< 0,0001*
Einfache medizinische Maßnahme (n = 888)
124 (14,0)
73 (9,9)
51 (34,5)
< 0,0001*
Medikamente i.v. (n = 888)
201 (22,6)
179 (24,2)
22 (14,8)
0,012
Infusion (n = 888)
139 (16,3)
118 (16,8)
21 (14,2)
0,437
Ressourcenverbrauch (n = 888)
2 (1–3)
2 (0–3)
1 (1–3)
0,134
Nur EMM, keine diagnostischen Ressourcen (n = 888)
71 (8,0)
34 (4,6)
37 (24,8)
< 0,0001*
Charlson Comorbidity Index
1 (0–3)
0 (0–2)
5 (3–6)
< 0,0001*
– Demenz
44 (5,0)
8 (1,1)
36 (24,2)
< 0,0001*
Mehr als 3 Vorstellungen in den vorhergehenden 12 Monaten (n = 879)
183 (11,2)
63 (8,5)
43 (28,9)
< 0,0001*
*p < 0,0016
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Unter den ICD-Diagnose-Hauptgruppen führten bei allen ambulant versorgten Patienten abdominelle Schmerzen, Kopfwunden und Rückenschmerzen. Bei den mit einem Krankentransportmittel entlassenen Patienten machten Komplikationen eines liegenden Harnwegskatheters, Kopfwunden und oberflächliche Kopfverletzungen über 25 % der Fälle aus (Abb. 1).
×
Diskussion
Wir finden in unserer Untersuchung einen erheblichen Anteil von Patienten, die offenbar am Wohnort unterversorgt waren und nicht selbstständig oder selbstbestimmt medizinische Hilfe aufsuchen konnten und weder nach medizinischer Dringlichkeit noch nach diagnostischem Aufwand auf die Ressourcen einer Krankenhausnotaufnahme angewiesen gewesen wären. Offenbar wurde ein Teil dieser Patienten wegen der Nutzung eines Krankentransports in unseren Notaufnahmen vorgestellt.
Bis zu der Coronapandemie haben die Fallzahlen in Deutschen KHN über Jahre erheblich zugenommen [12]. Vor dem Hintergrund angespannter Ressourcen bestimmt die Frage nach Fehlnutzung durch Bagatellfälle die Diskussion um Auswege aus der resultierenden Überlastung der Strukturen. Zahlreiche Notaufnahmepatienten werden als nicht dringlich eingestuft und nach ambulanter Versorgung wieder entlassen. Es besteht die Vermutung, dass zumindest ein relevanter Anteil dieser Patienten im ambulanten Setting niedergelassener Ärzte effizienter versorgt werden könnte.
Mit ihrer niederschwelligen, kontinuierlichen Verfügbarkeit sind KHN allerdings auch Versorger der letzten Zuflucht, wo Versorgungsbedarfe manifest werden, die in anderen Bereichen der Gesundheitsversorgung und Sozialfürsorge ungedeckt bleiben. Ungedeckter medizinischer Versorgungsbedarf kann dauerhaft ungedeckt bleiben und somit zu entsprechenden negativen Konsequenzen für Patienten führen. Er kann für den Patienten verzögert gedeckt werden, oder auf eine im Ergebnis mangelhafte Art und Weise [13]. Medizinischer Versorgungsbedarf kann auch in einer für den Patienten zwar einwandfreien Qualität, aber mit einem ineffizienten, d. h. zu hohen Ressourcenaufwand gedeckt werden. Zu dieser Art von verschobenem Bedarf („diverted use“ [13]) existieren bislang keine dezidierten empirischen Untersuchungen aus Deutschland. Allerdings lassen sich aus der bereits vorhandenen Literatur Anhaltspunkte ermitteln.
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Vorliegende Untersuchungen zur Fehlnutzung von KHN in Deutschland konzentrieren sich überwiegend auf subjektive Gründe von Patientinnen und Patienten, KHN anstelle von niedergelassenen Ärzten aufzusuchen. Ein großer Teil dieser Kontakte findet während den regulären Praxisöffnungszeiten statt [14]. Als ein Beweggrund, KHN mit – ex post – wenig dringlich erscheinenden gesundheitlichen Störungen aufzusuchen, wurde zunächst die subjektive Einschätzung ihrer gesundheitlichen Bedrohung durch die Patienten ermittelt [6]. Weitere Ursachen wurden in der Weiterleitung durch Hausärzte, in der Erwartung umfassender und multidisziplinärer Ressourcen für alle möglichen Fälle und in der bequemen zeitlichen Verfügbarkeit über 24/7 gefunden [15]. Diesbezügliche Aussagen wurden typischerweise mittels Fragebogenuntersuchungen fußläufiger Selbstvorsteller gewonnen [6, 16]. Frühere Untersuchungen aus den Vereinigten Staaten von Amerika stellten vor allem sozioökonomische Gründe für die Nutzung von KHN durch niedrig dringliche, häufig unversicherte Selbstvorsteller in den Vordergrund [17]. Bereits damals und seither wiederholt wurden auch Transport- und Barriereprobleme sowie die Abhängigkeit von anderen Personen als Gründe für die Bevorzugung von KHN gegenüber ambulanten Versorgungsstrukturen erörtert [18, 19]. In Studien aus Spanien und aus dem Vereinigten Königreich wurde ein geringer Einfluss der Dichte von Primärarztpraxen auf die Nutzung von KHN festgestellt [20, 21], dafür aber ein erheblicher Einfluss komplexer sozioökonomischer Faktoren [19, 22], darunter auch Pflegeabhängigkeit und Transportprobleme. Dies legt nahe, dass auch Patienten, die sich nicht aus freien Stücken für die Versorgung in einer Krankenhausaufnahme entscheiden, aufgrund spezifischer infrastruktureller Gegebenheiten in KHN vorgestellt werden, auch wenn prinzipiell eine Versorgung effizienter in anderen Strukturen vorstellbar ist.
Etwa ein Zehntel (149 von 1500 Patienten insgesamt) aller in unseren Notaufnahmen im Studienzeitraum versorgten Patienten wurde ambulant versorgt, aber mit einem Krankentransport entlassen. Den Abtransport per Krankentransportwagen interpretieren wir als Surrogatparameter für physische Immobilität bzw. pflegerische Abhängigkeit aus anderen Gründen (z. B. Demenz). Diese Gruppe zeichnete sich gegenüber den übrigen ambulant entlassenen Patienten durch ein höheres Alter, eine ausgeprägtere Komorbidität, aber einen niedrigen Ressourcenverbrauch aus. Häufig wurde in dieser Gruppe nur eine einfache medizinische Maßnahme ohne weiteren diagnostischen Aufwand durchgeführt, überwiegend Harnwegskatheterwechsel oder einfache Wundversorgung bzw. Verbände. Die Triagedringlichkeit war ebenso niedrig wie bei den übrigen ambulant entlassenen Patienten. Bei mehr als der Hälfte der per Krankentransport entlassenen Patienten handelte es sich um Bewohner von Langzeitbetreuungseinrichtungen.
Pflegeheimbewohner haben in Studien aus Nordamerika in Abhängigkeit von Betreuungsdauer und Komorbiditäten ein hohes Risiko für Vorstellungen in Krankenhausnotaufnahmeeinrichtungen [23]. Die Wahrscheinlichkeit der notfallmäßigen Vorstellung war darüber hinaus negativ mit der Qualität der pflegenden Einrichtung assoziiert [23]. In den vorliegenden Studien wurde ein hoher Anteil vermeidbarer Vorstellungen festgestellt [23, 24]. Auch in diesen Untersuchungen war der diagnostische und therapeutische Aufwand für die Patientengruppe ambulant vorgestellter Pflegeheimbewohner niedrig und häufig waren nur einfache ärztliche Beurteilungen bzw. Wundversorgungen in der Krankenhausnotaufnahme erforderlich. Typische Ressourcen eines Krankenhauses wurden nicht oft in Anspruch genommen [24]. Wiederholte Vorstellungen waren häufig [25].
Im Vergleich zur internationalen Literatur fällt bei unserer Untersuchung der hohe Anteil urologischer Versorgungsprobleme, v. a. im Zusammenhang mit Blasenkathetern und suprapubischen Blasenkathetern, auf. Wir kennen bislang keine Daten aus Notaufnahmen zu diesem Problem. Allerdings finden sich Hinweise aus einer Studie zu vermeidbaren Krankentransporten aus Pflegeheimen [26], wo ebenfalls ein hoher Anteil katheterassoziierter Probleme zu Transporten in KHN führte. Begleitforschung zu einem Pilotprojekt in Niedersachsen legt einen hohen Anteil durch präklinische Intervention vermeidbarer Vorstellungen in KHN nahe [27]. Hier spielen Probleme mit Harnwegskathetern eine erhebliche Rolle. Weitere systematische Untersuchungen zur Vermeidbarkeit von Vorstellungen pflegeabhängiger Patienten in KHN existieren unserer Kenntnis nach aus Deutschland nicht. In zwei Übersichten ausländischer Publikationen zur Prävention unnötiger Krankenhausvorstellungen von Pflegeheimpatienten spielt der Aspekt der urologischen Katheterversorgung keine Rolle [28, 29].
Zusammen mit erwähnten einfachen urologischen Dienstleistungen (DK-Anlage, SPK-Wiedereinlage) machten Präsentationen zur Versorgung einfacher Wunden oder zur klinischen Untersuchung nach Stürzen mehr als die Hälfte der Fälle aus. Die niedrige Dringlichkeit bei der Triage und der geringe diagnostische Aufwand legen nahe, dass auch diese Patienten in erster Linie aus infrastrukturellen Gründen in die KHN gebracht wurden. Wir sehen insbesondere den geringen diagnostischen Aufwand in den Notaufnahmen als Indikator für eine fehlende medizinische Notwendigkeit, Ressourcen der KHN für diese Patienten in Anspruch zu nehmen. Da die Vorstellungen ganz überwiegend zu normalen Praxiszeiten erfolgten, gehen wir davon aus, dass auch nicht die kontinuierliche zeitliche Verfügbarkeit der Notaufnahmen, sondern die bauliche Barrierefreiheit einen entscheidenden Faktor darstellt. Auch regulatorische Gründe können beigetragen haben. Zum Beispiel werden Transportkosten durch die deutschen Krankenkassen nur im Fall des Transports in eine Krankenhausnotaufnahme übernommen und die Disposition von Rettungsmitteln sieht eine Weiterbehandlung im KV-Bereich nicht vor.
Die Versorgung alter und kognitiv eingeschränkter Patienten in KHN kann zu Transportrisiken führen. Notaufnahmen können für Patienten auch hygienische Risiken bedeuten. Aufenthalte in Notaufnahmen und deren Dauer wurden darüber hinaus als Risiko für die Entwicklung eines Delirs nachgewiesen [30, 31]. Es ist also wahrscheinlich, dass medizinisch nicht notwendige Vorstellungen in KHN nicht nur keine effiziente Ressourcennutzung darstellen, sondern dass sie auch gesundheitliche Risiken für Patienten bergen können.
Eine Stärke dieser Studie besteht in der großen unselektionierten, datenbankbasierten Stichprobe. Während bei prospektiven Designs erhebliche Unterschiede zwischen Studienteilnehmern und einer typischen Notaufnahmepopulation auftreten können und somit die Repräsentativität der ermittelten Daten infrage gestellt wird, untersuchen wir ein Zufallssample aus der vollständigen Zahl an Patientenkontakten eines Jahres aus zwei Zentren. Wir beschränkten uns hierbei weitgehend auf objektiv erfassbare Parameter. Nachteile des retrospektiven Designs liegen in der Möglichkeit einer unvollständigen Datenerfassung gerade unter Notfallbedingungen. Parameter, wie die Bestandteile des Charlson Comorbidity Index, die aus der vorhandenen Aktenlage ermittelt, aber dort nicht standardisiert erfasst wurden, können hier besonders betroffen sein. Mit dem Rücktransport durch ein Krankentransportmittel wählten wir einen objektiv erfassbaren Parameter, dessen Gleichsetzung mit der Immobilität von Patientinnen und Patienten aber hinterfragt werden kann. Im Gegensatz zur Alarmierung eines Krankentransportmittels durch Laien wurde in diesen Fällen die Indikation für einen Rücktransport durch das medizinische Personal der KHN gestellt. Grundsätzlich sind auch andere Gründe als physische Immobilität für die Verordnung eines Krankentransportmittels denkbar. Diese können auch in funktioneller Immobilität, wie zum Beispiel durch eine Demenz, bestehen oder in anderen infrastrukturellen Notwendigkeiten, wie z. B. der Entlassung eines infektiösen Patienten oder eines sozial depravierten Patienten in einem Zustand, der andere Transportmittel nicht zulässt. Aufgrund der Bedeutung sozioökonomischer und ordnungspolitischer Faktoren ist zu erwarten, dass unsere Befunde abhängig von regionalen Gegebenheiten sind. Sie sollten deshalb lediglich als Anregung zu jeweils lokaler Erfassung verstanden werden. Die Zahl der Wiedervorstellungen umfasst nur die Wiedervorstellungen innerhalb des Vivantes-Krankenhausverbunds und wird die Zahl der Wiedervorstellungen in KHN deshalb systematisch unterschätzen.
Zusammenfassend sehen wir Hinweise auf eine Verschiebung von Betreuungsbedarf aus dem häuslichen und stationären Pflegebereich in die KHN. Neben anderen Beispielen aus der Literatur scheint in unserer Kohorte insbesondere die fehlende selbstständige bzw. selbstbestimmte Mobilität von Patientinnen den Ausschlag für eine Versorgung in KHN auch bei geringem diagnostischem oder therapeutischem Aufwand zu geben. Die gelegentlich vertretene Einteilung in medizinisch hochdringliche und zumindest a priori lebensbedroht erscheinende Patienten, die in KHN versorgt werden sollen, einerseits und Patienten mit Bagatellerkrankungen, die dem niedergelassenen Sektor überlassen werden sollen, andererseits, greift auch hier zu kurz. Sektorenüberschreitende Versorgungsmodelle durch eine sinnvolle Weiterentwicklung integrierter Notfallzentren wären eine naheliegende Antwort auf diesen Befund.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
G. Walter, M. Faust, S. Wenske, M. Raane, K. Umgelter, R.M. Schmid und A. Umgelter geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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