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Erschienen in: Hebammen Wissen 1/2023

01.01.2023 | Hebammen | Hebammen Wissenschaft

Humanmilchbanken: Milchspenden für Frühchen

verfasst von: Dr. rer. medic. Nadine Scholten, Tim Ohnhäuser, Dr. med. Till Dresbach

Erschienen in: Hebammen Wissen | Ausgabe 1/2023

Hinweise

Supplementary Information

Zusatzmaterial online: Zu diesem Beitrag sind unter https://​doi.​org/​10.​1007/​s43877-022-0733-6 für autorisierte Leser zusätzliche Dateien abrufbar.
Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt Neo-MILK Wie steht es um die Ernährung von Frühgeborenen auf neonatologischen Intensivstationen? Spielt Humanmilch eine so entscheidende Rolle, wie es aufgrund ihrer protektiven Wirkung sein sollte? Falls nicht: Könnte die flächendeckende Etablierung von Humanmilchbanken auf den Stationen zusammen mit einer strukturierten Still- und Laktationsberatung dafür sorgen, dass alle Frühgeborenen vom ersten Lebenstag an mit Humanmilch versorgt werden? Mit diesen Fragen beschäftigt sich das öffentlich geförderte Forschungsprojekt Neo-MILK.
Schon seit längerer Zeit ist die Überlegenheit der Muttermilch mit ihren Inhaltsstoffen gegenüber der Formulanahrung wissenschaftlicher Konsens. Insbesondere Frühgeborene mit einem geringen Geburtsgewicht von unter 1.500 g profitieren von ihr. Denn für einige der typischen Komplikationen - unter ihnen die in 20-25 % aller Fälle tödlich verlaufende nekrotisierende Enterocolitis (NEC) - ist eine protektive Wirkung der Ernährung mit Humanmilch nachgewiesen (Lind et al. 2022). Humanmilch bildet dabei den Oberbegriff für die Milch der eigenen Mutter oder aber die Ernährung mit Spenderinnenmilch. Letztere ist dort möglich, wo Milchbanken existieren und eine geeignete Lagerung und Gabe an andere Frühgeborene gewährleistet werden können.

Milchbanken in Deutschland

Aktuell sind in Deutschland knapp 40 Milchbanken bekannt (Angabe laut FMBI, frauenmilchbankinitiative.de), bei einer Gesamtzahl von mehr als 200 Perinatalzentren (Level I+II). Seit einigen Jahren steigt die Zahl der Milchbanken, die auf eine wechselvolle Geschichte zurückblicken, wieder. Deren Verbreitung in Deutschland begann vor über 100 Jahren mit dem Aufbau der ersten "Frauenmilchsammelstelle" in Magdeburg 1919 (Sunder-Plaßmann 2016). Mit Beginn der massenhaft industriell gefertigten Säuglingsnahrung wurde Jahrzehnte später auch das Ende der Milchbanken eingeleitet, zumindest in Westdeutschland. In der DDR wurden die Sammelstellen jedoch beibehalten und so überdauerte auch die Expertise hierzu. Aktuell sind es vor allem hygienische und rechtliche Fragen sowie eine fehlende Vergütung, die den schnelleren Aufbau weiterer Banken behindern. Dabei empfiehlt auch die WHO in den Fällen, in denen keine oder nicht ausreichend Muttermilch zur Verfügung steht, die Gabe von Spenderinnenmilch. Trotz dieser Empfehlung und der erwähnten Evidenz, mangelt es in Deutschland nach wie vor an flächendeckenden Versorgungsstrukturen, so dass viele Frühgeborene noch immer mit Formula ernährt werden (Scholten et al. 2022). Der alleinige Aufbau von Milchbanken würde der Komplexität des Themas allerdings nicht gerecht, denn: Nur eine gute Stillförderung kann für ausreichende Milchmengen sorgen. Hier setzt das Forschungsprojekt Neo-MILK an. Es wird durch den Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) vier Jahre lang (2021-2024) gefördert und hat als langfristiges Ziel die Versorgung von Frühgeborenen unter 1.500 g mit Humanmilch vom ersten Lebenstag an.

Hebammen spielen eine zentrale Rolle bei der Informationsvermittlung

Zunächst wurde mittels einer Befragungen der aktuelle Stand der Still- und Laktationsförderung auf neonatologischen Intensivstationen erhoben. Pflegerisches und ärztliches Leitungspersonal wurde zu ihren Erfahrungen und Einstellungen befragt. Auch wenn fast alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Meinung waren, dass die Laktation nach der Geburt schnellstmöglich initiiert werden sollte, schätzten 25 % des Leitungspersonals die Erholung der Mutter als prioritär gegenüber einer frühzeitigen Milchgewinnung ein. Dazu gaben 20 % der ärztlichen sowie der pflegerischen Leitungen an, dass die initiale Milchgewinnung zumeist erst im Zeitraum sechs bis 24 Stunden nach der Geburt stattfindet.
Zugleich wurden über die im Projekt kooperierenden Krankenkassen auch Mütter von Frühgeborenen unter 1.500 g per Fragebogen zu ihren Erfahrungen bezüglich der Stillförderung und weiterer Themen rund um den Bereich "Muttermilch" befragt. Die unterschiedlichen Perspektiven ergeben zusammengeführt einen guten Überblick über den aktuellen Status quo der Stillförderung auf deutschen neonatologischen Intensivstationen. Mehr als ein Fünftel der Mütter (22 %) hat demnach beispielsweise keine Information zur Bedeutung der Muttermilchernährung nach der Geburt erhalten. Mütter, die Informationen erhalten hatten, haben wiederum signifikant früher mit dem Abpumpen begonnen (p=0.01). Die Informationsquellen der Mütter, die sich vor der Geburt über das Thema Muttermilch informiert haben, sind vielfältig - dabei spielen die Hebammen eine zentrale Rolle (Abb. 1). Ein noch deutlicheres Bild bezüglich der Relevanz der Hebammen zeigt sich bei der Thematisierung der möglichen Kolostrumgewinnung. Nur 62 % aller Mütter wurden im Vorfeld über die Möglichkeit der Kolostrumgewinnung informiert, als häufigste Quelle wurden auch hierbei die Hebammen genannt (Abb. 2). Es konnte ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Aufklärung über die Möglichkeit, Kolostrum zu gewinnen und der tatsächlich erfolgten manuellen Brustentleerung vor/nach Entbindung nachgewiesen werden (p<0.000).
Das erste Abpumpen beziehungsweise die erste manuelle Brustentleerung sollte innerhalb der ersten sechs Stunden nach Geburt erfolgen, um die Laktation bestmöglich zu initiieren (Parker et al. 2020). In unserer Befragung ist dies nur bei gut einem Drittel aller Mütter (36 %) erfolgt (Abb. 3, e-only). Hinsichtlich der Abpumpfrequenz zeigt sich, dass knapp 20 % der antwortenden Mütter in den ersten drei Tagen nach der Geburt nur ein- bis fünfmal Mal pro Tag abgepumpt und dazu die Brust gar nicht, nur vereinzelt oder unregelmäßig manuell entleert haben. Nur sehr wenige Mütter haben die Brust in den ersten drei Tagen ausschließlich manuell entleert (n=5). In der Folge erreichten über 60 % der Mütter nicht das empfohlene Milchmengenziel von mindestens 500 ml/Tag an Tag 14 post partum (Hoban et al. 2018) (Abb. 4, e-only).

Implementierung eines Konzeptes zur Stillförderung

Parallel zu den genannten Befragungen wurden umfangreiche Vorarbeiten geleistet, um Grundlagen für die Erstellung eines evidenzbasierten Konzeptes für eine strukturierte Still- und Laktationsförderung zu schaffen. Ein hygienisch-infektiologischer Standard zum Betrieb von Humanmilchbanken sowie ein juristisches Gutachten zum rechtlichen Status von Humanmilch komplettieren diese Grundlagenarbeit. Zurzeit befindet sich das Projekt in der Interventionsphase, in der die erarbeiteten Konzepte an 15 Perinatalzentren Level I in Deutschland implementiert und zugleich evaluiert werden. Die Intervention vor Ort beruht auf zwei Säulen:
  • dem Aufbau von Humanmilchbanken und
  • der Einführung des Still- und Laktationsförderungskonzeptes.

Unterstützung der Kliniken nach individuellem Bedarf

Selbstverständlich existieren bereits Konzepte, die zur Steigerung der Milchmenge und einem erfolgreichen Stillen beitragen sollen. Oftmals sind diese in Eigenregie in den Krankenhäusern selbst entwickelt worden. Wie die Befragung zeigt, verfügt nur etwa ein Drittel der Zentren über einen Leitfaden für die Aufklärungsgespräche, die auch das Thema Muttermilch berühren. Etwa die Hälfte der Kliniken verfügt zumindest über eine SOP (Standard Operating Procedure). Für deren Umsetzung ist von entscheidender Bedeutung, welchen Stellenwert die Still- und Laktationsförderung bei den ärztlichen und pflegerischen Leitungen genießt. Werden die anderen Stationen, Hebammen und auch Stillberaterinnen aktiv eingebunden? Oder geben zwar alle ihr Bestes, folgen dabei aber keinem festgelegten Konzept? Hier geben die in Neo-MILK entwickelten Materialien eine Orientierung. Dieses Angebot kann von den Kliniken unterschiedlich stark in Anspruch genommen werden - abhängig vom individuellen Bedarf. So werden zum Beispiel Schulungsvideos angeboten, die auf einem im Projekt entwickelten Handbuch zur Stillförderung basieren. Die Videos bieten in insgesamt 150 Minuten einen "Crashkurs" zu folgenden Themen:
  • Muttermilchernährung, Physiologie der Laktation
  • Kindliche orale Anatomie, Stillkompetenzen und Grenzen von Frühgeborenen
  • Bindungsförderung bei Frühgeborenen und deren Eltern
  • Initiierung und Aufrechterhaltung der Laktation
  • Begleitung der Mütter: Probleme erkennen, behandeln, lösen
  • Grundlagen der Kommunikation, Präpartales Aufklärungsgespräch
Die Schulung wird durch Module zu allen genannten Themen ergänzt. Eine Besonderheit ist, dass sich die Inhalte an alle Berufsgruppen gleichermaßen richten. So sollen nicht nur die Ärztinnen und Ärzte auf den neonatologischen Intensivstationen sowie das dortige Pflegepersonal erreicht werden, sondern ebenso die Kreißsaal-Teams, die dort tätigen Hebammen und Stillberaterinnen.
Die Schulungen werden mit einer Wissensabfrage abgeschlossen, an deren Ende ein Zertifikat steht. Mitgelieferte Poster und eine Polaroid-Kamera dienen dazu, dass sich das Team bzw. alle Absolvent*innen der Schulung hierüber vorstellen und als Kolleg*innen zeigen können, denen die Stillförderung und Begleitung der Mütter ein wichtiges Anliegen ist. In einem weiteren Schritt gilt es, die erlernten oder aufgefrischten Inhalte umzusetzen und in den Klinikalltag zu integrieren. Der Prozess soll dabei zum einen durch Poster auf den Stationen unterstützt werden, die die Mitarbeiter*innen regelmäßig an Kernthemen der Stillförderung erinnern, zum anderen gibt es ein "Pocketwissen" für die Kitteltasche oder eine Checkliste für die Aufklärungsgespräche.

Flyer, Zubehör und App: Vorbereitung für Mütter

Auch die Mütter sollen frühzeitig eingebunden werden. Sie erhalten dazu Informationsflyer über das Stillen von Frühgeborenen - unter anderem zu Technik und Rhythmus des Abpumpens, zur manuellen Brustentleerung, Kolostrumgewinnung oder auch zum Umgang mit auftretenden Problemen. Einige der Flyer wurden in fünf weitere Sprachen übersetzt und befinden sich zusammen mit Kolostrumspritzen und einem Brusttrichter in einer kleinen Tasche, die die Mütter an den teilnehmenden Kliniken erhalten. Auch ein Leitfaden zur Vorbereitung auf das präpartale Aufklärungsgespräch ist Teil der Materialien. Ziel ist eine möglichst gute Vorbereitung auf allen Ebenen zur Vermittlung der Relevanz von Muttermilch für Frühgeborene unter 1.500 g. Vermieden werden soll, dass die Mütter (zu) spät nach der Geburt mit dem Thema und der Dringlichkeit des Abpumpens konfrontiert werden.
Die vorgestellten Maßnahmen und Materialien werden außerdem durch eine App ergänzt, die ebenfalls im Rahmen des Projekts entwickelt wurde. Die Anwendung richtet sich an die Mütter bzw. Eltern von Frühgeborenen. Hier können sich die Nutzer*innen über eine Vielzahl unterschiedlicher Themen rund um das Stillen informieren. Im Vergleich zu den erwähnten Flyern helfen hier zusätzliche Videos bei der praktischen Anleitung. Außerdem können in der App alle Abpumpvorgänge per Stoppuhr und durch Angabe der Milchmenge dokumentiert werden. Die App bietet zudem eine individuelle Erinnerungsfunktion für die Abpumpvorgänge und die Möglichkeit, Tagebucheinträge für Mütter und Kinder zu erstellen.
Alle hier vorgestellten Maßnahmen verfolgen - im Verbund mit der einzurichtenden Humanmilchbank vor Ort - das Ziel, mehr Frühgeborenen den Zugang zu der für sie essentiellen Muttermilch zu ermöglichen. Steht Muttermilch nicht oder nicht in ausreichender Menge zur Verfügung, kommt Spenderinnenmilch zum Einsatz. Formulanahrung ist als letzte Ernährungsoption zu sehen.

Literatur

  • Lund AM, Domellöf M, Pivodic A, Hellström A, Stoltz Sjöström E & Hansen-Pupp I (2022) Mother's Own Milk and Its Relationship to Growth and Morbidity in a Population-based Cohort of Extremely Preterm Infants. JPGN 74(2) 292-300.
  • Sunder-Plaßmann A (2016) Wie wertvoll ist Muttermilch? Die Ernährung Früh- und Neugeborener seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. ZGN 220, S. 239-250.
  • Scholten N, Mause L, Horenkamp-Sonntag D, Klein M, Dresbach T (2022) Initiation of lactation and the provision of human milk to preterm infants in German neonatal intensive care units from the mothers' perspective. BMC pregnancy and childbirth 22(1) 158.
  • Parker LA, Sullivan S, Kruger C, Mueller M (2020) Timing of milk expression following delivery in mothers delivering preterm very low birth weight infants: a randomized trial. J Perinatol 40:1236-1245.
  • Hoban R, Bugger H, Schoeny M, Meier P, Patel AL Engstrom J (2018) Milk Volume at 2 Weeks Predicts Mother's Own Milk Feeding at Neonatal Intensive Care Unit Discharge for Very Low Birthweight Infants. Breast Med 13(2):135-141.

Fazit

Eine strukturierte Still- und Laktationsberatung sowie der Betrieb einer Humanmilchbank erfordern personelle Ressourcen - in Zeiten von Hebammen- und Pflegekräftemangel eine besondere Herausforderung für die Kliniken.
Eine der wichtigsten Aufgaben der nächsten Jahre wird sein, auf allen Ebenen das Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die Ernährung mit Muttermilch die wichtigste therapeutische Maßnahme für Frühgeborene ist. Dafür gilt es, eine geeignete räumliche und personelle Infrastruktur zu schaffen.
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Supplementary Information

Metadaten
Titel
Humanmilchbanken: Milchspenden für Frühchen
verfasst von
Dr. rer. medic. Nadine Scholten
Tim Ohnhäuser
Dr. med. Till Dresbach
Publikationsdatum
01.01.2023
Verlag
Springer Medizin
Schlagwort
Hebammen
Erschienen in
Hebammen Wissen / Ausgabe 1/2023
Print ISSN: 2730-7247
Elektronische ISSN: 2730-7255
DOI
https://doi.org/10.1007/s43877-022-0733-6

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