Hinführung und Methodik
Interaktive Arbeit, insbesondere in helfenden Berufen, ist mit einer Vielzahl von Belastungsfaktoren verbunden, die zu erhöhtem Stress und psychischen Beanspruchungen führen können [
13,
32]. Einsatzkräfte im Rettungsdienst sind dabei einer besonders hohen Anzahl und Intensität von Stressoren ausgesetzt, die sich über mehrere Dimensionen erstrecken und zu einer kumulativen Belastung führen können [
44,
45]. Die Arbeit im Rettungsdienst zeichnet sich durch ein hohes Maß an emotionaler und kognitiver Beanspruchung aus, verbunden mit der ständigen Konfrontation mit Notfällen, Leid und potenziell traumatisierenden Ereignissen [
53]. Um das Arbeitsvermögen und die Arbeitszufriedenheit der Einsatzkräfte nachhaltig zu fördern, ist der Aufbau von gesundheitsfördernden Strukturen eine der wesentlichen Herausforderungen der kommenden Jahre [
44,
45]. Dabei sind sowohl Änderungen der strukturellen Rahmenbedingungen als auch die Einführung spezifischer Präventionsangebote von zentraler Bedeutung, um den besonderen Anforderungen dieser intensiven Form der Interaktionsarbeit gerecht zu werden [
13,
44,
45].
Der Beitrag basiert auf einer systematischen Literaturrecherche und -bewertung. Die Recherche wurde in den wissenschaftlichen Datenbanken PubMed, PsycINFO und Scopus durchgeführt. Hierbei kamen Kombinationen aus Schlüsselwörtern wie „psychische Gesundheit“, „Rettungskräfte“, „Stressbewältigung“, „Burnout“, „Peer-Support“ und „Prävention“ zum Einsatz. Ergänzend wurden die Literaturverzeichnisse relevanter Artikel manuell durchsucht (Schneeballverfahren). Um die Aktualität der Ergebnisse sicherzustellen, wurden für die empirischen Befunde nur Veröffentlichungen aus dem Zeitraum von 2010 bis 2024 berücksichtigt. Zur Sicherstellung der Relevanz wurden spezifische Einschluss- und Ausschlusskriterien angewendet. Eingeschlossen wurden Peer-Review-Artikel, die sich auf psychische Gesundheit oder psychosoziale Interventionen bei Rettungskräften fokussieren und in deutscher oder englischer Sprache verfasst sind. Ebenfalls berücksichtigt wurden Artikel, die sich mit bereits erprobten Interventionen in angrenzenden Zielgruppen (bspw. Feuerwehr, Polizei und Militär) auseinandersetzen. Die gewonnenen Erkenntnisse aus diesen Untersuchungen zeigen auf, welche Maßnahmen bereits als zielführende Handlungsstrategien erprobt wurden. Da sich die Belastungsfaktoren der verschiedenen Berufsgruppen stark überschneiden, können hier auch wichtige Erkenntnisse für die Arbeit im Rettungsdienst abgeleitet werden. Ausgeschlossen wurden Artikel ohne wissenschaftliche Methodik, rein theoretische Arbeiten sowie ohne empirische Grundlagen. Bei der Bewertung wurden insbesondere Studiendesigns wie randomisierte, kontrollierte Studien (RCT), Kohortenstudien und systematische Reviews bevorzugt. Relevanz und Transparenz wurden anhand des Bezugs zur Zielgruppe und der Fragestellungen sowie der klaren Darstellung von Methoden und Ergebnissen beurteilt.
Neben den theoretischen Standardmodellen und Originalstudien sind auch systematische Reviews und Metaanalysen gezielt berücksichtigt worden, um eine fundierte und umfassende Basis für die Analyse der psychischen Belastungen und Interventionsstrategien im Rettungsdienst zu schaffen. Diese Übersichtsarbeiten bieten eine wertvolle Evidenzgrundlage, da sie die Ergebnisse zahlreicher Einzelstudien zusammenfassen und systematisch analysieren. Beispiele hierfür sind die Metaanalysen von Berger et al., die die weltweite Prävalenz und Korrelate von PTBS bei Rettungskräften untersuchen [
9], sowie die Arbeit von Petrie et al., die sich auf die Prävalenz von PTBS und anderen psychischen Erkrankungen bei Ambulanzpersonal konzentriert [
53]. Ergänzend liefert die systematische Übersicht von Haugen et al. eine differenzierte Analyse zu den Barrieren der Inanspruchnahme von psychischer Gesundheitsversorgung im Rettungsdienst und der Stigmatisierung [
23,
24]. Sowie Hummel et al., die in ihrem Scoping-Review untersuchten, welche Relevanz Peer-to-Peer-Ansätze haben [
65].
Belastungsfaktoren und ihre Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von Rettungskräften
Zu den wesentlichen Belastungsfaktoren im Rettungsdienst gehören vor allem körperliche Anstrengungen, die Organisation der Einsätze, lange Arbeitszeiten sowie die hohe Verantwortung und fehlende Kontrolle über das Arbeitsumfeld [
10,
12]. Besonders belastend können Einsätze sein, bei denen Säuglinge und Kinder oder Personen aus dem eigenen sozialen Umfeld betroffen sind [
1]. Hinzu kommen fehlende Erholungszeiten, sowohl zwischen den einzelnen Alarmierungen während einer Schicht als auch nach besonders belastenden Einsätzen oder zwischen den Schichten (ebd.). Die hohe Alarmierungsfrequenz verstärkt zudem die Wahrnehmung anderer Belastungsfaktoren, wie beispielsweise Konflikte [
29,
30].
Eine weitere Dimension der Belastungsfaktoren umfasst emotionale Belastungen. Einsätze, die ein Handeln gegen die eigenen Überzeugungen erfordern oder mit negativen Emotionen wie Wut, Angst oder Hilflosigkeit verbunden sind, können zu Belastungsreaktionen führen [
20,
21]. Wiederholte kritische Einsatzsituationen, die als potenziell traumatisch eingestuft werden, erhöhen das Risiko einer psychischen Erkrankung [
4‐
7]. Dies kann dazu führen, dass die Arbeitserfahrung der Einsatzkräfte selbst zu einem Belastungsfaktor wird [
1].
Einsatzkräfte im Rettungsdienst sind häufiger von psychischen Erkrankungen betroffen als Personen in ähnlichen Tätigkeitsfeldern, wie Polizei oder Feuerwehr. Eine mögliche Erklärung hierfür ist, dass Polizei und Feuerwehr zu weniger Notfällen ausrücken als der Rettungsdienst [
9]. Die wesentlichen Erkrankungen, die im Zusammenhang mit dem Einsatzdienst untersucht wurden, sind die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und Burn-out. Teegen und Yasui [
60,
61] stellten bereits vor einigen Jahren fest, dass Einsatzkräfte häufig Anzeichen einer PTBS zeigen, die sich durch die erschwerte Verarbeitung belastender Einsätze äußern. Zudem werden Einsatzsituationen mit ähnlichen Rahmenbedingungen als besonders belastend erlebt, und es treten weitere Symptome wie Schlafstörungen, Reizbarkeit und wiederkehrende Gedanken auf (ebd.). Für Einsatzkräfte, die bereits erste Symptome einer PTBS bemerken, können auch alltägliche Arbeitsbelastungen zu immer größeren Hindernissen werden (ebd.). Es überrascht nicht, dass die Einsatzkräfte im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung ein deutlich höheres Erkrankungsrisiko aufweisen [
9].
Ähnlich verhält es sich mit dem Auftreten einer Burn-out-Symptomatik. In einer Studie von Baier et al. [
2,
3] zeigten Einsatzkräfte hohe Indikationen für emotionale Erschöpfung und depersonalisierende Symptome. Vor allem die emotionale Erschöpfung hat einen direkten Einfluss auf das Wohlbefinden und die mentale Gesundheit der Einsatzkräfte [
15,
16]. Verstärkende Faktoren für die Entstehung eines Burn-outs finden sich nicht nur im Rahmen des Einsatzgeschehens. Hering und Beerlage [
27,
28] benennen in ihrer Untersuchung vor allem auch Belastungen durch Schnittstellenkonzepte und die fehlende Transparenz innerhalb der Organisation als Risikofaktoren. Neben den Auswirkungen von emotionaler Erschöpfung auf die eigene Gesundheit können auch Veränderungen im Umgang mit Patient:innen verzeichnet werden. Hier ist anzumerken, dass bei emotional erschöpften Einsatzkräften das Risiko für nachlassende Arbeitsqualität steigt [
2,
3] und sie generell weniger empathisch auf die Bedürfnisse der Patient:innen reagieren können [
27,
28]. Eine Burn-out-Symptomatik hat dementsprechend sowohl Auswirkungen auf die Zufriedenheit und Gesundheit der Einsatzkräfte als auch auf die Qualität der Arbeit.
Ein weiterer zentraler Belastungsfaktor, der speziell im Rettungsdienst eine Rolle spielt, ist die sogenannte „moral injury“. Dieser Begriff beschreibt die psychischen Schäden, die entstehen, wenn Personen in beruflichen Kontexten Handlungen ausführen müssen oder Zeugen von Ereignissen werden, die ihre moralischen oder ethischen Werte tiefgreifend verletzen. Anders als beim Burn-out, das primär durch chronische emotionale individuelle Erschöpfung und Depersonalisierung infolge von Arbeitsüberlastung geprägt ist, resultiert die „moral injury“ aus Konflikten zwischen beruflichen Anforderungen und persönlichen Überzeugungen [
66,
67].
Rettungsdienstpersonal kann beispielsweise eine „moral injury“ erleiden, wenn sie aufgrund von Kompetenz- oder Zuständigkeitskonflikten nicht die gewünschte Versorgung bieten können, medizinische Entscheidungen treffen müssen, die mit ihren ethischen Grundsätzen kollidieren, oder wenn sie sich in Hierarchien gefangen fühlen, die sie an der optimalen Patientenversorgung hindern. Diese Belastung wird durch unklare Regelungen medizinischer Fragen, fehlende Abstimmungen innerhalb des Teams und eine unzureichende Zusammenarbeit mit der ärztlichen Leitung verstärkt. Die Festlegung klarer Zuständigkeiten und Kompetenzen, insbesondere im Hinblick auf die Delegation ärztlicher Tätigkeiten, spielt daher eine entscheidende Rolle. Ein gemeinsames Verständnis von Berufsaufgaben und Verantwortungsbereichen könnte solche Konflikte deutlich reduzieren. Eine engere Zusammenarbeit mit der ärztlichen Leitung ist nicht nur für die Klärung medizinischer Fragen relevant, sondern auch, um den Rettungsdienst als interdisziplinäres Team zu stärken. Regelmäßige Fallbesprechungen und ethische Supervisionen können hier eine Brücke zwischen unterschiedlichen Perspektiven schlagen und die gemeinsame Entscheidungsfindung fördern. Gleichzeitig ist es entscheidend, das Berufsverständnis des Rettungsdienstpersonals zu stärken und seine Rolle im Gesamtsystem der medizinischen Versorgung klar zu definieren. Dies erfordert eine kontinuierliche Fortbildung, in der neben medizinischen Inhalten auch ethische und organisatorische Fragestellungen thematisiert werden.
Die Abgrenzung zwischen Burn-out und „moral injury“ ist daher nicht nur akademisch, sondern auch für die berufliche Praxis relevant, da die Prävention und Behandlung dieser beiden Entitäten unterschiedliche Ansätze erfordern. Während Burn-out-Interventionen oft auf individuelle Erholung und Resilienzaufbau abzielen, erfordern Maßnahmen gegen „moral injury“ eine Verbesserung der beruflichen Rahmenbedingungen, eine klare Festlegung von Zuständigkeiten und Kompetenzen sowie zwingend ethische Unterstützung, etwa durch Supervision oder ethische Fallbesprechungen [
67].
Handlungsstrategien zur Stressbewältigung im Rettungsdienst: Analyse theoretischer und empirischer Modelle
Anhand der Analyse empirischer sowie theoretischer Forschungsstände lassen sich viele Handlungsstrategien herausarbeiten, die bei der Etablierung von Interventionen unterstützen können. Ein Blick auf vorherrschende Stresstheorien bietet wichtige Ansatzpunkte. In ihrem transaktionalen Stressmodell stellen Lazarus und Folkman [
46] Stress als wechselseitigen Prozess zwischen Umwelt und Individuum dar. Dabei stellt die kognitive Bewertung von Stressoren der Umwelt einen bedeutenden Faktor dar. Ob ein Stressor als Bedrohung erfasst wird, hängt von persönlichen Merkmalen des Individuums und den Rahmenbedingungen der Situation ab. Wesentliche Kriterien sind hierbei der Einfluss der Faktoren auf die Umwelt und die Dauer bzw. die Häufigkeit, mit der der Stressor auftritt (ebd.). Zudem wirken persönliche Dispositionen auf den Bewertungsprozess ein. Hier sind vor allem Verpflichtungen und Überzeugungen zu nennen, die die Wahrnehmung beeinflussen. Vor allem die Überzeugung des Individuums, eine Situation kontrollieren bzw. beeinflussen zu können, die als Bedrohung oder Herausforderung wahrgenommen wird, hat einen wesentlichen Einfluss auf die Einordnung. Zudem spielen bereits erlebte ähnliche Situationen und daraus gewonnene Erfahrungen eine wichtige Rolle (ebd.).
Bezieht man diese Erkenntnisse auf das Stresserleben der Einsatzkräfte, wird schnell deutlich, dass das Arbeitsumfeld von einer Vielzahl von Faktoren geprägt ist, die Einsatzsituationen als bedrohlich wahrnehmbar werden lassen. Gleichzeitig finden sich Stressoren auch im vermeintlich ruhigen Arbeitsalltag auf den Rettungswachen, welche sich nicht durch besondere Schwere, sondern vielmehr durch dauerhafte Irritationen auszeichnen [
37,
38]. Hierzu gehören beispielsweise Tagesaufgaben außerhalb der medizinischen Expertise, die dauerhafte Alarmbereitschaft oder kurzfristige Dienstantritte und dadurch reduzierte Erholungszeiten (ebd.). Diese Belastungsfaktoren außerhalb von konkreten Einsatzsituationen haben einen wesentlichen Einfluss auf die Entstehung von psychischen Erkrankungen [
8].
Im Anforderungs-Kontroll-Modell von Karasek und Theorell [
34] findet sich ebenfalls die Erkenntnis, dass die Wahrnehmung von Kontrolle über das Arbeitsumfeld ein wesentlicher Faktor des Empfindens von Stress ist. Dieses Gefühl von Kontrolle lässt sich vor allem durch die Eröffnung von Gestaltungsspielräumen stärken. Erfahren Einsatzkräfte die Möglichkeit, sich eigenständig und nach individuellen Strukturen mit den Anforderungen des Arbeitsalltags auseinanderzusetzen, steigert dies die Selbstwirksamkeitsüberzeugung. Dadurch werden herausfordernde Situationen weniger belastend erlebt (ebd.). Zudem werden durch das aktive Auseinandersetzen mit den Stressoren Fähigkeiten erlernt und Erfahrungen gewonnen, die sich wiederum positiv auf die Wahrnehmung auswirken können (ebd.).
Ein weiteres Modell der Stressforschung, welches sich auf die Belastungssituation von Rettungskräften beziehen lässt, ist das Modell der beruflichen Gratifikationskrise von [
54]. In diesem Modell werden vor allem emotionale Komponenten berücksichtigt, die im Anforderungs-Kontroll-Modell vernachlässigt werden. Daher ergänzen sich beide Modelle für eine ganzheitliche Betrachtung von Stress im Arbeitskontext. Eine berufliche Gratifikationskrise wird in der Regel dann ausgelöst, wenn keine nachhaltige Balance zwischen Arbeitsleistung und Belohnung wahrgenommen wird [
55,
56,
58,
59]. Dies ist vor allem dann wahrscheinlich, wenn berufliche Bedürfnisse der Mitarbeiter:innen, beispielsweise das Selbstwert- oder Zugehörigkeitsgefühl, verletzt werden (ebd.). Weitere Faktoren sind beispielsweise unsichere Arbeitsverhältnisse oder fehlende Aufstiegsmöglichkeiten, die eine gewisse Ausweglosigkeit erfahrbar werden lassen [
54]. Eine übersteigerte Verausgabungsneigung bei unzureichender Anerkennung kann die Entstehung einer Krise weiter begünstigen (ebd.). In einer Untersuchung von ukrainischen Einsatzkräften von Böcklemann et al. [
11] konnte festgestellt werden, dass die ausbleibende Belohnung bei hoher Verausgabung die Entstehung einer Burn-out-Symptomatik steigert. So lässt sich ableiten, dass vor allem die Steigerung der wahrgenommenen Kontrolle über den Arbeitsalltag und die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts von Anforderungen und Belohnungen zu den wesentlichen Ansatzpunkten bei der Gestaltung psychosozialer Arbeitsbedingungen im Rettungsdienst gehören sollten.
Perpetuierung dysfunktionaler Systeme im Rettungsdienst
Die Befundlage zeigt, dass der Rettungsdienst lange Zeit durch dysfunktionale Systeme gekennzeichnet war, die hohe Anforderungen und geringe Ressourcen miteinander kombinierten. Diese strukturellen Probleme führten häufig zu Überforderung und beeinträchtigten nicht nur die Arbeitszufriedenheit, sondern auch die psychische Gesundheit der Mitarbeitenden. In Folge der ungesunden Arbeitssysteme entstehen Burn-out und „moral injury“ sowie andere stressbedingte Erkrankungen [
50]. Veraltete Managementpraktiken, die wenig Raum für Mitarbeiterfeedback oder Beteiligung an Entscheidungsprozessen bieten, stellen einen weiteren Aspekt dysfunktionaler Systeme dar. Diese hierarchischen Strukturen können das Gefühl der Machtlosigkeit verstärken und die berufliche Zufriedenheit mindern, was oft die Implementierung notwendiger Veränderungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen behindert [
64]. Aktuelle Entwicklungen zeigen jedoch, dass insbesondere Rettungsdienste von Hilfsorganisationen wie z. B. dem Roten Kreuz in den letzten Jahren wesentliche Fortschritte erzielt haben. In diesen Organisationen sind Peer-Support-Systeme fest etabliert und haben sich als tragfähige Maßnahmen zur Unterstützung der psychischen Gesundheit bewährt [
68‐
70]. Auch der ökonomische Wert von psychisch gesunden Mitarbeiter:innen durch Peer-Support-Programme in deutschen Krankenhäusern wurde modelliert [
71].
Eine differenzierte Betrachtung zeigt jedoch, dass diese Fortschritte nicht einheitlich sind. Viele Bereiche scheinen weiterhin stärker von dysfunktionalen Strukturen geprägt zu sein, etwa durch starre Hierarchien und fehlende Unterstützungssysteme [
19]. Dies mag auch mit der spezifischen (Un‑)Organisationskultur zusammenhängen, die traditionell stärker auf Stoizismus und Hierarchie ausgerichtet ist (exemplarisch [
72]). Die Arbeitskultur in vielen Rettungsdiensten betont häufig Stoizismus und die Notwendigkeit, emotionale Reaktionen zu unterdrücken. Diese Kultur kann dazu führen, dass Mitarbeiter:innen ihre eigenen psychischen Bedürfnisse vernachlässigen und Hilfe weniger in Anspruch nehmen, was langfristig zu ernsthaften gesundheitlichen Problemen führen kann [
8]. Studien, die den Einfluss von Organisationstyp und Kultur auf die Einführung moderner Unterstützungsstrukturen analysieren, sind hier dringend erforderlich.
Die Einführung von Peer-Support-Systemen hat sich bei den Hilfsorganisationen als besonders effektiv erwiesen, um Mitarbeitende zu entlasten und die Teamkultur zu stärken. Die RettungsStudie 2023 identifizierte Peer-Support-Programme als wichtigen Ansatz zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Rettungsdienst. Konkret vorgeschlagen werden Programme mit erfahrenen Kollegen und Experten als Ansprechpartner sowie gezielte Schulungen [
73]. So konnte etwa das Rote Kreuz durch regelmäßige Supervision und kollegiale Fallbesprechungen nicht nur die Resilienz der Mitarbeitenden steigern, sondern auch die Qualität der Patientenversorgung verbessern [
69,
70]. Um diese „ungesunden Systeme“ zu durchbrechen, sind umfassende strategische Änderungen erforderlich. Dazu gehören die Verbesserung der Kommunikation innerhalb der Organisation, die Einrichtung von Mechanismen für regelmäßiges Mitarbeiterfeedback, die Förderung einer Kultur, die psychische Gesundheit unterstützt, und die Bereitstellung adäquater Ressourcen für die Mitarbeiter [
19,
50]. Diese Fortschritte könnten als Modell dienen, um verbleibende dysfunktionale Systeme in anderen Organisationen zu adressieren.
Unterstützungsmöglichkeiten und Interventionen
Die Landschaft der Unterstützungsmöglichkeiten für Einsatzkräfte ist vielfältig und bietet eine große Anzahl an Interventionen, die zur Förderung der mentalen Gesundheit eingesetzt werden können. Diese lassen sich in präventive Maßnahmen, akute Versorgungsmaßnahmen und langfristige Unterstützungsmöglichkeiten unterteilen. Prinzipiell sollte ein mehrdimensionaler Ansatz verfolgt werden, um eine ganzheitliche Verbesserung der Situation zu erzielen. Das bedeutet, dass Einfluss auf die organisatorischen Rahmenbedingungen, beispielsweise durch eine verbesserte Ausstattung an den Rettungswachen sowie die Sicherstellung von Erholungszeiten, genommen werden sollte. Zusätzlich sollten aber auch Angebote zur Stärkung der Resilienz der Einsatzkräfte und dem Umgang mit Belastungen etabliert werden [
35,
36].
Zur Stärkung dieser Widerstandsfaktoren bieten sich Angebote an, die eine Stärkung des Selbstwerts, der Selbstwirksamkeit und des Zugehörigkeitsgefühls mit sich bringen [
56‐
58]. Die Förderung von Selbstwirksamkeit spielt vor allem nach potenziell traumatisierenden Einsätzen eine wichtige Rolle und kann langfristige negative Auswirkungen auf die Einsatzkraft verhindern [
31]. Zudem bieten sich Informationsveranstaltungen und Workshops an, um die Einsatzkräfte für Anzeichen von Belastungsreaktionen zu sensibilisieren und gleichzeitig gegen die vorherrschende Tabuisierung mentaler Erkrankungen in der Arbeitswelt vorzugehen [
33]. Im Rahmen von Workshops, die sich auf das Stresserleben fokussieren, können gemeinsam Faktoren analysiert werden, die Belastungsreaktionen hervorrufen, und die individuellen Auswirkungen betrachtet werden. Dadurch können unterschiedliche Strategien herausgearbeitet werden, die beim Umgang mit diesen Stressoren genutzt werden können [
25,
26]. Zudem können auch Routinen und Rituale erarbeitet werden, die zu einer langfristigen Reduzierung der Belastung führen können (ebd.). Trainings für emotionale Kompetenzen können genutzt werden, um sich mit den eigenen Emotionen und Auslösern zu befassen [
7].
Neben diesen Workshops können auch Simulationen von spezifischen Fallbeispielen dazu beitragen, dass Einsatzkräfte sich innerhalb von realen Einsatzsituationen weniger überfordert fühlen. Häske et al. [
22] geben an, dass durch das Trainieren von Einsatzsituationen in einem geschützten Rahmen Fehler gemacht und analysiert werden können, die dann in einem realen Einsatz verhindert werden können. Gleichzeitig kann hier auch das Gefühl der Kontrolle gesteigert werden und die Neuartigkeit einer Situation, welche laut Lazarus ein wesentlicher Belastungsfaktor ist, gemindert werden (ebd.).
Im Rahmen der direkten Unterstützung für Einsatzkräfte besteht die Möglichkeit der Implementierung eines Peer-to-Peer-Programms. Hier werden Einsatzkräfte zu sogenannten Peers ausgebildet und werden so zu kompetenten Ansprechpersonen auf Augenhöhe. Inhalte der Ausbildung beziehen sich auf das Erlernen von Gesprächstechniken und das Anbieten von Unterstützung in bestimmten Szenarien [
39,
40]. Keyser et al. [
39,
40] konnten in ihrer Untersuchung zur Etablierung eines Peer-to-Peer-Supports feststellen, dass das Angebot verstärkt genutzt und an die Rahmenbedingungen unterschiedlicher Berufsgruppen angepasst werden sollte. Dies gilt auch für den Einsatzdienst. Eine weitere Untersuchung in Schweden durch [
51,
52] zeigte ähnliche Ergebnisse. Der regelmäßige Austausch, welcher durch Peers moderiert wurde, konnte zu einer positiveren Einstellung gegenüber der Arbeit führen. Gleichzeitig konnten im Rahmen der Treffen verschiedene Strategien erarbeitet werden, die den Betroffenen dabei helfen, mit Stresssituationen umzugehen (ebd.). Tessier et al. [
62,
63] heben als weiteren Vorteil von Peer-to-Peer-Programmen die wahrgenommene Wertschätzung und Unterstützung der Teilnehmer:innen hervor.
Vor allem nach kritischen Einsätzen bieten sich weitere spezifische Seminare an, welche sich mit dem Erlebten beschäftigen. Laut Korpela und Nordquist [
41] konnten sich Einsatzkräfte durch die Teilnahme intensiver mit der eigenen Gesundheit beschäftigen und so wichtige Coping-Strategien erlernen. Im Rahmen der Teilnahme wurden auch positive Effekte auf die Zusammenarbeit mit anderen und die allgemeine Arbeitsatmosphäre verzeichnet. Ebenso waren Einsatzkräfte nach einer erfolgreichen Teilnahme in der Lage, ihre eigenen Emotionen besser wahrzunehmen und entsprechend zu handeln. Dadurch konnte auch die Arbeitsmoral und Motivation gesteigert werden (ebd.). Der Peer-to-Peer-Ansatz zeigt sich auch im Rahmen von psychosozialer Erste Hilfe als tragfähig und zeigt positive Resonanzen [
62,
63]. Dabei ist die direkte und niederschwellige Verfügbarkeit der Unterstützung von besonderer Bedeutung. Laut Tessier et al. [
62,
63] gehört hier auch die Vermarktung der Unterstützung innerhalb der Organisation dazu, um den Zugang für Einsatzkräfte zu erleichtern. Zudem ist zwischen einer direkten Intervention unmittelbar nach dem Einsatz und einer langfristigen Begleitung bzw. der Sicherstellung einer weiteren Versorgung durch Fachpersonal zu unterscheiden (ebd.). Eiche et al. [
17,
18] vermuten, dass durch die angebotene Krisenintervention und psychosoziale Notfallversorgung im Einsatzdienst in Deutschland die Zahl der von psychischen Erkrankungen betroffenen Einsatzkräfte gesenkt wird.
Ein weiterer spannender Aspekt des Peer-to-Peer-Ansatzes, der bisher wenig erforscht ist, betrifft dessen Potenziale im Rahmen von Multiplikatorenkonzepten. Laut Hummel et al. [
65] bietet dieser Ansatz die Möglichkeit, Stress- und Emotionsregulation durch die gezielte Schulung von Peer-Supportern strukturell im Arbeitsalltag zu verankern. In ihrem Scoping-Review stellen die Autor:innen heraus, dass Peer-to-Peer-Programme nicht nur psychosoziale Widerstandsressourcen wie Resilienz und Selbstwirksamkeit stärken können, sondern auch dazu beitragen, Barrieren für die Inanspruchnahme von Unterstützungsangeboten zu reduzieren. Diese Programme fördern die Akzeptanz durch ihre Niedrigschwelligkeit und die Unterstützung auf Augenhöhe, die von Rettungskräften besonders geschätzt wird. Gleichzeitig bleibt der Peer-to-Peer-Ansatz im spezifischen Kontext des Rettungsdiensts unterrepräsentiert.
Die Erkenntnisse von Hummel et al. [
65] unterstreichen die Relevanz, diesen Ansatz weiter zu erforschen und für Rettungsdienste anzupassen. Dabei könnten regelmäßige Schulungen, Supervisionen und eine organisatorische Verankerung in ein betriebliches Gesundheitsmanagement entscheidende Erfolgsfaktoren sein. Diese Ergänzungen zeigen, dass der Peer-to-Peer-Ansatz über ein bloßes Unterstützungsangebot hinausgehen kann, indem er ein integraler Bestandteil der betrieblichen Gesundheitsförderung wird und langfristig zur psychischen Gesundheit und Arbeitszufriedenheit beiträgt.
Um eine Nutzung der angebotenen Leistungen zu erreichen, sollten vor allem die Wünsche der Einsatzkräfte beachtet werden. In einer Befragung von Halpern et al. [
20,
21] konnten wesentliche Anforderungen an die Versorgungsstrukturen eruiert werden. Hierzu zählt zum Beispiel die Möglichkeit, das Geschehene durch Nachbesprechungen im direkten Anschluss an den Einsatz gemeinsam zu reflektieren. Zudem wurden Erholungszeiten nach kritischen Einsätzen gefordert (ebd.). Darüber hinaus gilt es, den Umgang mit mentalen Belastungen zu entstigmatisieren. Die Befürchtung, durch Führungskräfte oder Kolleg:innen als weniger belastbar wahrgenommen zu werden, gilt weiterhin als ausschlaggebend, weshalb Hilfeleistungen nicht in Anspruch genommen werden [
23,
24].
Dieser Ansatz schließt nahtlos an weitere Handlungspunkte innerhalb des Teams an, welche zu einer Förderung der psychischen Gesundheit beitragen können. Dabei gilt es vor allem, den sozialen Zusammenhalt zu stärken und eine der größten Ressourcen, die Teamstrukturen, weiter zu fördern [
42,
43]. Zudem sollten vor allem Wachleitungen und Führungskräfte in Bezug auf den Umgang mit und das Erkennen von Belastungen im Team geschult werden [
20,
21]. Dadurch können Führungskräfte Mitarbeiter:innen identifizieren, die gegebenenfalls weitere Unterstützung benötigen und bei adäquater Anwendung der gelernten Inhalte als Vorbild fungieren (ebd.).
Eine weitere Form der Unterstützung bieten digitale Angebote in Form von Foren oder Apps, welche parallel zu anderen Angeboten genutzt werden können. Vorteile von digitalen Angeboten finden sich vor allem in deren flexiblen Einsatzmöglichkeiten und geringem organisatorischem Aufwand. Gleichzeitig kann eine tatsächliche Wirksamkeit bislang noch nicht empirisch untermauert werden [
47].
Gleichzeitig zeigt sich, dass viele Fortschritte, wie die Einführung von Peer-Support-Systemen, inzwischen in Organisationen erfolgreich etabliert wurden. Diese Entwicklungen verdeutlichen, dass die Anforderungen an Unterstützungsangebote nicht nur die Einführung neuer Maßnahmen umfassen sollten, sondern auch deren kontinuierliche Evaluation und Anpassung an die spezifischen Bedürfnisse der Einsatzkräfte. Nur so können langfristig Arbeitszufriedenheit, Gesundheit und Resilienz der Rettungskräfte sichergestellt werden.
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