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Erschienen in: Pflegezeitschrift 8/2022

01.07.2022 | Gewalt | Pflege Praxis Zur Zeit gratis

Forensic Nurses (v)ermitteln

verfasst von: Dr. Julian Mausbach, Valeria Kägi, Julliette Galli, Prof. Dr. Michael Thali

Erschienen in: Pflegezeitschrift | Ausgabe 8/2022

Zusammenfassung

Forensic Nurses sind in Nordamerika im Gesundheitswesen bereits fest etabliert. Auch in der Schweiz sind erste Forensic Nurses in den Bereichen sexuelle und häusliche Gewalt sowie Kindesmissbrauch tätig. Sie können die forensische Versorgung bereits beim Erstkontakt mit einer gewaltbetroffenen Person durchführen sowie das Schnittstellenmanagement koordinieren. Angesichts der positiven Erfahrungen ist ein weiterer Ausbau dieser Spezialisierung in der Schweiz zu erwarten.
Hinweise

Supplementary Information

Zusatzmaterial online: Zu diesem Beitrag sind unter https://​doi.​org/​10.​1007/​s41906-022-1308-7 für autorisierte Leser zusätzliche Dateien abrufbar.
Spurensicherung durch Pflegende In den USA gibt es sie schon seit mehr als 30 Jahren und in der Schweiz werden sie seit 2015 im Gesundheitswesen etabliert: Forensic Nurses - Pflegende mit forensischen Fachkenntnissen. Sie sichern und dokumentieren die Spuren der Gewalt bei den Opfern und unterstützen so die Aufklärung von Verbrechen.
Forensic Nursing gehört in Europa zu den verhältnismäßig neuen Spezialsierungen in der Pflege. In den USA und in Kanada ist diese Disziplin bereits seit über 30 Jahren etabliert und fest im Gesundheitssystem verankert. Angefangen in den 1970er Jahren mit der wissenschaftlichen Untersuchung von Verstorbenen, wurde 1992 Forensic Nursing von der American Academy of Forensic Sciences offiziell als eine eigenständige Pflegewissenschaft anerkannt (OVC 2015) und gleichzeitig die International Association of Forensic Nurses (IAFN) gegründet (AFN 2022). 2018 folgte dann die Gründung der Academy of Forensic Nursing (AFN), die sich die Verknüpfung von Forschung und Praxis durch die Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Hauptaufgabe gemacht hat (ebd.). Heute werden Forensic Nurses in Nordamerika bei sexueller und häuslicher Gewalt, Kindesmissbrauch, Misshandlung von Betagten und Schutzbedürftigen, Todesuntersuchungen, in Institutionen des Freiheitsentzuges und der forensischen Versorgung nach (Natur-)Katastrophen eingesetzt. Außerdem spielen in Nordamerika die Forensic Nurses Death Investigators (FNDI) eine wichtige Rolle bei postmortalen forensischen Untersuchungen (Drake et al. 2020; Romano 2011). Sie übernehmen eigenverantwortlich sowohl die Todesfeststellung als auch notwendige Legalinspektionen. Entscheidend ist, dass die Untersuchung gründlich und zeitnah erfolgt. Denn eine fehlerhafte Feststellung der Todesursache kann erhebliche Auswirkungen auf die zivil- oder strafrechtliche Maßnahmen und sogar die öffentliche Sicherheit haben. Wenn ein forensisch ausgebildeter Arzt nicht verfügbar ist, kann in Nordamerika eine erfahrene und qualifizierte Forensic Nurse eine mögliche Alternative oder sinnvolle Ergänzung sein (Drake et al. 2020).

Forensic Nurses in der Schweiz

Betrachtet man den komplexen Verantwortungsbereich sowie die Anforderungen an eine Forensic Nurse in den USA und Kanada, ist die Verunsicherung bzw. der Widerstand bezüglich möglicher Verantwortungs- und Handlungsfelder einer Forensic Nurse in der Schweiz nachvollziehbar. Die traditionelle Trennung von medizinisch-klinischen Tätigkeiten in Bereiche, die als originär ärztlich definiert sind, ist in der Schweiz mittlerweile nicht mehr so scharf. Hier entwickelt sich über die allmähliche Aufwertung der Pflegeberufe eine Dynamik, die es gestattet, vermehrt medizinische-klinische Tätigkeiten über Delegationsmodelle für die Pflege zugänglich zu machen (Hooker 2020).
Für eine nachhaltige Implementierung von Forensic Nursing wurde deshalb in der Schweiz eine klar definierte Rollen- und Kompetenzbeschreibung formuliert und durch die Swiss Association Forensic Nursing (SAFN) in dem Profil Forensic Nurse niedergelegt (SAFN 2021). Demnach ist eine Forensic Nurse eine Pflegefachperson mit einem eidgenössisch anerkannten Berufsabschluss und der Zusatzausbildung in Forensic Nursing. Das Profil Forensic Nurse beinhaltet die vier Arbeitsprozesse: Datenerfassung, forensisches Assessment, Wissensmanagement und Organisationsprozess. Diese Arbeitsprozesse wiederum werden aus den einzelnen Handlungsfeldern abgeleitet, aus denen die jeweiligen fachlichen Kompetenzen und Wissenselemente entspringen. Auf diese Weise bietet das Profil eine Definition des Forensic Nursing, die es auch in bestehenden institutionellen Strukturen und Rahmenbedingungen ermöglicht, die forensische Versorgung abzubilden. Ergänzend setzt das Profil Forensic Nurse eine Berufspraxis voraus, die auch die Arbeit mit den Schnittstellenpartnern wie Polizei, ärztlichen Diensten und Opferberatung umfasst.
In der Grundanlage ist das Modell Forensic Nursing dabei als ergänzendes Tätigkeits- und Handlungsfeld einer Pflegefachperson vorgesehen, welche in ihrer Institution primär als Pflegende tätig ist und bedarfsweise ihr forensisches Fachwissen und die erworbenen Fähigkeiten zusätzlich anbieten und anwenden kann. Forensic Nurses stellen damit sicher, dass die forensischen Tätigkeitsfelder am Arbeitsort korrekt und unter der Berücksichtigung der internen und übergeordneten Richtlinien und Qualitätsnormen umgesetzt werden. Es gestattet dabei, dem Leitsatz "Man erkennt nur das, was man kennt" zu folgen und die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Schnittstellenpartnern zu koordinieren.
Das Profil fungiert des Weiteren als Basis für weiterführende Regelungen und Beschäftigungsvereinbarungen zwischen Forensic Nurses und ihrem Einsatzort sowie den involvierten inter- und intradisziplinären Schnittstellen im forensisch-medizinischen Kontext. Es ermöglicht den Beteiligten, die Ressourcen und Fähigkeiten von forensisch ausgebildeten Pflegefachpersonen in Situationen von forensischer Relevanz bedarfsgerecht und effizient anzuwenden. Dies unabhängig davon, ob sich die forensische Versorgung auf beschuldigte oder geschädigte Personen bezieht und ist losgelöst von der Frage einer Strafanzeige oder eines Strafantrags.
Die Tätigkeiten einer Forensic Nurse, insbesondere die Entscheidungs- und Verantwortungsprozesse sowie die Vorgehensweise in den Situationen bei vermuteter oder bestätigter Gewalt, werden dabei spezifisch nach Einsatzort geregelt. Entsprechende Prozesse wie die Zusammenarbeit mit Opferhilfeorganisationen, Strafverfolgungsbehörden oder Versicherungen sowie die konkrete Anwendung von Arbeitsinstrumenten und Dokumenten werden ebenfalls durch den jeweiligen Arbeitsort der Forensic Nurse definiert. Zur Festlegung des Handlungsspielraums von Forensic Nurses in der forensischen Betreuung von Patienten wird zudem eine Abstimmung mit den zuständigen Instituten für Rechtsmedizin empfohlen, vorausgesetzt ist dies jedoch nicht (SAFN 2021, S. 3).

Herausforderungen des Forensic Nursing

Zu Beginn der Implementierung des Profils Forensic Nurse zeigten sich offene Fragen. Insbesondere die Verwendung der Berufsbezeichnung Forensic Nurse bereitet in der Schweiz weiterhin Schwierigkeiten. Die Bezeichnung Forensic Nurse auf einem CAS-Niveau oder auf einer äquivalenten Stufe ist in der Schweiz nicht geschützt und darf somit nicht als eigenständiger Berufstitel verwendet werden. Der Zusatz CAS in Forensic Nursing bzw. Nachdiplomkurs (NDK) in Forensic Nursing kann hingegen ergänzend zur bereits erworbenen Hauptqualifikation der Pflegefachperson verwendet werden. Der heterogene Weiterbildungsbereich verhindert gegenwärtig eine standardisierte und geschützte Berufsbezeichnung zu etablieren. Weitere Fragen konnten aber weitgehend gelöst werden. Aktuell ist das Forensic Nursing in der Schweiz formal auf einem Stand, der es gewährleistet, Betroffene von vermuteter oder bestätigter interpersoneller Gewalt kompetent zu betreuen, zu beraten und forensisch relevante Befunde objektiv und gerichtsverwertbar festzuhalten. Der Handlungs- und Verantwortungsspielraum ist jedoch in der Regel stark limitiert, da medizinisch-klinischen Arbeitsabläufe Vorrang genießen (müssen). Bei einer ohnehin hohen Arbeitsauslastung stehen den Forensic Nurses in Fällen von forensischer Relevanz meist keine zusätzliche zeitliche und/oder personelle Ressourcen für eine forensisch-erweiterte Anamnese und körperliche Untersuchung inklusive aufwendiger Fotodokumentation und vollständigen Erhebung aller Befunde, geschweige der präzisen Beschreibung jedes einzelnen Befundes, zur Verfügung.

Besonderheit: Flying Forensic Nurse

Der hohe Bedarf an forensisch ausgebildeten Gesundheitsfachpersonen führt in der Schweiz auch dazu, dass Konzepte entwickelt werden, wie die vorhandenen Kompetenzen am ertragreichsten eingesetzt werden können. Insbesondere da die Implementierung von Gewaltambulanzen auf Seiten der politischen Entscheidungsträger nur zögerlich vorangetrieben wird. Ein Befund, der angesichts des darstellbaren Nutzens für die Gewaltprävention gerade in den Ballungsräumen nur schwerlich nachvollziehbar ist.
Als möglicher Lösungsansatz wäre ein Konzept zu Flying Forensic Nursing (Hofer et al. 2020) denkbar. Es basiert darauf, dass forensisch ausgebildete Gesundheitsfachpersonen ein bestimmtes Einzugsgebiet abdecken. So kann ganzjährig und zeitnah eine forensische Versorgung flächendeckend garantiert werden. Die einzelnen, kleineren Institutionen des Gesundheitswesens können dabei auf Forensic Nurses nach Bedarf zugreifen. Idealerweise werden die Leistungen der Flying Forensic Nurses dabei durch den Kanton oder durch ein Konkordat übernommen, so dass die Institutionen ihrerseits nicht befürchten müssen, auf Kosten der Forensik personelle Einbußen tragen zu müssen. So wird nicht nur die Qualität der forensischen Versorgung erhöht, sondern auch die Schwelle zur Aktivierung besonders niedrig gehalten. Insgesamt ermöglicht es dieses Konzept, zeitnah einen wertvollen Beitrag für die Gewaltprävention zu leisten. In größeren Gesundheitsinstitutionen, in denen mehrere ausgebildete Forensic Nurses auf verschiedenen Abteilungen tätig sind, könnte ein internes Pikettmodell, welches rund um die Uhr innerhalb von nützlicher Frist eine Forensic Nurse auf Abruf zur Verfügung stellt, einen sinnvollen Schritt zur Verankerung des Forensic Nursing Konzepts darstellen (Berishaj 2020). Ähnliche Modelle existieren beispielsweise beim hausinternen Care Team, Betriebssanität, Betriebsfeuerwehr oder bei Übersetzungsdiensten. Die Pflegefachpersonen als Generalisten einzusetzen, ist nicht nur effizient, sondern auch ressourcensparend und dem Leitsatz "Schnell ist gut, nah ist besser" vollumfänglich folgend. Über das Curriculum des Studiengangs Forensic Nursing in der Schweiz und den Bestrebungen einen Masterstudiengang für Forensic Nurses zu etablieren, erfahren Sie mehr im Beitrag "Forensische Kenntnisse lehren und lernen" (Seiten 42-44).
Die Literaturliste finden Sie im eMag der PflegeZeitschrift und auf springerpflege.de.

Certificate of Advanced Studies

Mit dem Certificate of Advanced Studies CAS werden berufsbegleitende Weiterbildungslehrgänge bezeichnet, für die mindestens 10 ECTS-Punkte erreicht werden müssen. Ein Lehrgang wird mit einem Zertifikat abgeschlossen und kann zu einem DAS (Diploma of Advanced Studies) oder einem MAS (Master of Advanced Studies) kombiniert werden.

Einsatzorte für Forensic Nurses:

  • Notfallstationen / Intensivmedizin / Intermediate Care Units (IMC)
  • Gynäkologie und Geburtshilfe
  • Pädiatrische Kliniken
  • Geriatrische Institutionen
  • Psychiatrische Institutionen
  • Behörden wie Polizei oder Kinder- und Erwachsenenschutzbehörden
  • Justiz- und Vollzugsanstalten
  • Klinisch-forensische Ambulanzen
  • Rettungsdienste
  • Kliniken für Brandverletzte
  • Präventions- und Beratungszentren
  • Gemeinschafts- und Grundversorgungspraxen
  • Institutionen für Menschen mit Behinderung
  • Rehabilitationskliniken
  • Spitalexterne Pflege
  • Institute für Rechtsmedizin im direkten oder indirekten Kontext

Fazit

In Fällen von Gewaltdelikten ohne erstattete Strafanzeige können Pflegefachpersonen dank einer forensischen Zusatzausbildung eine rasche, neutrale und professionelle Befunderhebung und -dokumentation wie auch eine sachgerechte Sicherstellung von Proben gewährleisten und ermöglichen somit gerichtsverwertbare Belege beziehungsweise objektive Befunde für die erlittene Gewalt.
Forensic Nurses haben das fundierte Wissen und die Fähigkeiten, um Gewaltbetroffene an der ersten Anlaufstelle zu erkennen, zu betreuen und geeignete Empfehlungen auszusprechen. Sie stellen ein wichtiges Bindeglied zwischen dem Rechtssystem und dem Gesundheitswesen dar.

Nutzen Sie Ihre Chance: Dieser Inhalt ist zurzeit gratis verfügbar.

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Metadaten
Titel
Forensic Nurses (v)ermitteln
verfasst von
Dr. Julian Mausbach
Valeria Kägi
Julliette Galli
Prof. Dr. Michael Thali
Publikationsdatum
01.07.2022
Verlag
Springer Medizin
Schlagwort
Gewalt
Erschienen in
Pflegezeitschrift / Ausgabe 8/2022
Print ISSN: 0945-1129
Elektronische ISSN: 2520-1816
DOI
https://doi.org/10.1007/s41906-022-1308-7

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