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Erschienen in: Pflegezeitschrift 12/2022

01.11.2022 | Diversity | Pflege Wissenschaft Zur Zeit gratis

Geschlechtliche Vielfalt erfassen

verfasst von: Sophie Horstmann, Prof. Dr. Gabriele Bolte

Erschienen in: Pflegezeitschrift | Ausgabe 12/2022

Zusammenfassung

Das Geschlecht ist ein komplexes und mehrdimensionales Konstrukt, das biologische wie auch soziale Aspekte umfasst. Für die Gesundheitsforschung resultiert daraus der Bedarf an Erhebungsinstrumenten, die in der Erfassung von Geschlecht über die übliche Kategorisierung in "männlich" und "weiblich" hinausgehen. Eine aktuelle Studie zeigt einen Anstieg der Anzahl und Variabilität methodischer Ansätze zur Berücksichtigung geschlechtlicher Vielfalt in den letzten 20 Jahren. Der Fokus liegt auf der Erfassung sozialer Geschlechteraspekte, ab 2010 allerdings verstärkt auch auf biologischen Aspekten oder Kombinationen aus verschiedenen Dimensionen. Jedoch bleiben viele der identifizierten Instrumente hinter den aktuellen theoretischen Erkenntnissen zurück.
Hinweise

Supplementary Information

Zusatzmaterial online: Zu diesem Beitrag sind unter https://​doi.​org/​10.​1007/​s41906-022-1960-y für autorisierte Leser zusätzliche Dateien abrufbar.
Biologische und soziale Aspekte berücksichtigen Das Geschlecht ist eine wichtige Variable in der Gesundheitsforschung, wird hierfür aber meist nur vereinfacht binär in die Kategorien "männlich" und "weiblich" unterteilt. Es braucht neue Ansätze zur Erfassung geschlechtlicher Vielfalt.
In der Gesundheitsforschung wird das Geschlecht in den meisten Studien routinemäßig erfasst und hierfür üblicherweise in die zwei Kategorien "männlich" und "weiblich" unterteilt (Döring 2013, Schellenberg & Kaiser 2017). Dies widerspricht den aktuellen Diskussionen, die momentan in den Natur- und Sozialwissenschaften geführt werden und das Geschlecht als komplexes und mehrdimensionales Konstrukt verstehen. Dieses umfasst sowohl physiologische und anatomische - beispielsweise äußere und innere Geschlechtsorgane - wie auch psychosoziale Aspekte, wie beispielsweise Geschlechtsidentität und Geschlechternormen. Diese verschiedenen Dimensionen von Geschlecht weisen eine große Variationsbreite auf und stehen miteinander in wechselseitiger Beeinflussung, ohne sich dabei gegenseitig zu bedingen (Bolte et al. 2021).
Die beschriebene binäre und statische Konzeptualisierung von Geschlecht scheitert daran, diese Variabilität angemessen abzubilden, basiert sie doch auf den zwei in sich homogenen und scheinbar eindeutig zu unterteilenden Kategorien "Mann" und "Frau", ohne eine weitere Differenzierung außerhalb und innerhalb dieser Gruppen zuzulassen. Personen, die sich keiner der beiden Kategorien zuordnen können, werden pathologisiert und ausgegrenzt, Variationen innerhalb der Gruppen werden übersehen (Fiedel et al. 2019, Schellenberg & Kaiser 2017).
Für eine geschlechtergerechte Forschung und die Entwicklung passgenauerer Angebote zeigt sich somit der Bedarf an weiterführenden Ansätzen, die Geschlecht in seinen verschiedenen biologischen und sozialen Dimensionen und deren Komplexität, Fluidität und wechselseitiger Beeinflussung berücksichtigen. Eine solche Weiterentwicklung wird allerdings sowohl durch die traditionell verankerte Unterteilung von Geschlecht als auch durch die methodischen Schwierigkeiten ihrer Operationalisierung erschwert (Schellenberg & Kaiser 2017).

Das Forschungsprojekt DIVERGesTOOL

Mit dem Ziel, eine anwendungsorientierte Toolbox zur Operationalisierung von geschlechtlicher Vielfalt für eine geschlechtersensible quantitative Gesundheitsforschung partizipativ zu entwickeln, startete im Mai 2020 das Projekt DIVERGesTOOL ("Toolbox zur Operationalisierung von geschlechtlicher Vielfalt in der Forschung zu Gesundheitsversorgung, Gesundheitsförderung und Prävention"). Um verschiedene Wissensbestände und Perspektiven miteinander zu verbinden, wird das vom Bundesministerium für Gesundheit geförderte Projekt in interdisziplinärer Zusammenarbeit der Bereiche Public Health & Epidemiologie, Medizin und Geschlechterforschung durchgeführt. Die geplante Toolbox soll einen allgemein nutzbaren Fragenkomplex zur Erfassung von Geschlecht in epidemiologischen Gesundheitsstudien enthalten. Zusätzlich sollen bedarfsgerecht Aufbauinstrumente zur Berücksichtigung bestimmter Studienpopulationen und Fragestellungen entstehen.
Um die Fragebogenitems auf die spezifischen Anforderungen der Praxis abgestimmt zu gestalten, erfolgt die Entwicklung in partizipativer Zusammenarbeit mit den potentiellen Nutzer*innen. Bei Workshops mit Mitarbeitenden epidemiologischer Studien in Deutschland wird über die Heraus- und Anforderungen großer Kohortenstudien und die Einsetzbarkeit und Nutzer*innenfreundlichkeit der Items diskutiert. Zusätzlich wurden Vertretungen des Bundesverband trans* und des Vereins Intergeschlechtliche Menschen e.V. eingeladen, die Items aus ihrer Perspektive zu bewerten.

Erhebungsinstrumente zur Geschlechtsidentität

In einem ersten Projektschritt wurde in Form eines Scoping Reviews ein Überblick über die aktuell in der gesundheitsbezogenen Forschung angewendeten Erhebungsinstrumente zur Erfassung geschlechtlicher Vielfalt erstellt. Hierfür wurde im August 2020 eine systematische Suche in den Datenbanken Scopus, Web of Science und Medline durchgeführt (9.935 Treffer). Nach der Entfernung von Duplikaten wurden 5.681 Publikationen von zwei unabhängigen Reviewerinnen auf ihre Relevanz überprüft, indem Titel und Abstracts gescreent und anschließend die Volltexte der als geeignet bewerteten Publikationen (n=273) gelesen wurden. Eingeschlossen wurden alle im Zeitraum von 2000 bis 2020 veröffentlichten, gesundheitswissenschaftlichen Originalstudien, in denen die Entwicklung, Anwendung oder Validierung von Instrumenten zur Erfassung geschlechtlicher Vielfalt in einer erwachsenen Bevölkerung beschrieben wurden. 170 Publikationen wurden inkludiert, in denen 77 Instrumente identifiziert werden konnten.
Abbildung 1 zeigt die Entwicklung der Anwendung von Instrumenten zur Erfassung von Geschlecht, die über die beschriebene binäre Unterscheidung der Kategorien "männlich" und "weiblich" hinausgehen für den Zeitraum von 2000 bis 2020. Insgesamt kann hier ein stetiger Anstieg der Anzahl und Vielfalt methodischer Ansätze beobachtet werden. War zunächst die Erfassung sozialer Aspekte von Geschlecht vorherrschend, so nahm in den späteren Jahren die Berücksichtigung biologischer Aspekte oder Kombinationen aus verschiedenen Dimensionen zu.

Maskulinitäts- und Femininitätsscores

Von 2000 bis 2004 wurden fast ausschließlich Instrumente angewendet, die Teilnehmende auf der Grundlage von bestimmten Eigenschaften und Verhaltensweisen als weiblich oder männlich einteilen, und auch in den folgenden Jahren macht diese Art von Instrumenten den größten Anteil der Anwendungen aus. Die Teilnehmenden werden hier gebeten, sich selbst bestimmte Eigenschaften oder Verhaltensweisen, die zuvor als maskulin oder feminin codiert wurden, zuzuordnen. Basierend auf diesen Angaben werden im Anschluss Maskulinitäts- bzw. Femininitätsscores berechnet (Horstmann et al. 2022).
Dieser Art der Instrumente liegt die Auffassung zu Grunde, das einzelne Eigenschaften und Verhaltensweisen bestimmten Geschlechterkategorien zugeordnet werden können (Schellenberg & Kaiser 2017). Die Zuordnung wurde innerhalb der für das Scoping Review identifizierten Instrumente meistens von einer hierfür rekrutierten Studienpopulation vorgenommen, häufig handelte es sich hierbei um Studierende amerikanischer Universitäten (Horstmann et al. 2022). Angesichts der Homogenität dieser Population und ihrer mangelnden Repräsentativität für die allgemeine Bevölkerung besteht die Gefahr, dass die Instrumente nur ein sehr spezifisches Verständnis von Geschlecht abdecken und daher nicht ohne weiteres auf andere Populationen übertragen werden können (Donnelly et al. 2017).

Die Erfassung des biologischen Geschlechts

Ab 2010 zeigt sich zudem eine Zunahme der Anwendung von Instrumenten zur Erfassung des biologischen Geschlechts. Dies geschieht zumeist in Form einer Abfrage des Geschlechtseintrags in der Geburtsurkunde (Horstmann et al. 2022), die auf einer kulturell geprägten Begutachtung der äußeren Geschlechtsorgane bei der Geburt beruht (Bolte et al. 2021). Auf der Grundlage der äußeren Erscheinung wird auf bestimmte innere Geschlechtsorgane, Chromosomen und auch Hormonkonzentrationen geschlossen. Dies birgt die Gefahr, die Variabilität der Ausprägungen nicht zu berücksichtigen und unter Umständen die Realität nicht angemessen abzudecken (Bauer et al. 2017). Auch ist zu beachten, dass in Deutschland lange Zeit ausschließlich die Kategorien "männlich" oder "weiblich" eingetragen werden konnten. Erst seit einer Änderung des Personenstandgesetzes 2018 ist es möglich, "divers" als Geschlecht anzugeben oder den Eintrag frei zu lassen.

Die zweistufige Abfrage von Geschlecht

Parallel nahm ab 2010 die Anwendung von Instrumenten zu, die es den Teilnehmenden erlaubt, sich selbst einer Geschlechtsidentität zuzuordnen (Horstmann et al. 2022). Eine Limitation dieser Methodik ist, dass trans*Personen durch eine solche Abfrage nicht erkannt werden, wenn sie sich nicht selbst als trans* identifizieren (Bauer et al. 2017). Daher hat sich die zweistufige Abfrage ("Two-Step Approach") etabliert, die eine kombinierte Erfassung von biologischen und sozialen Aspekten von Geschlecht ermöglicht. Hier geben die Teilnehmenden in zwei getrennten Fragen an, welches Geschlecht ihnen bei der Geburt zugeordnet wurde und welcher Geschlechtsidentität sie sich zugehörig fühlen. Dadurch ist es möglich, Personen zu identifizieren, für die diese beiden Angaben nicht übereinstimmen (Bauer et al. 2017, Johnson & Repta 2012).

Gender Indizes

Fünf der identifizierten Instrumente, deren Entwicklung und Anwendung im Jahr 2015 begann, sind sogenannte "Gender Indizes". Für ihre Berechnung werden aus einem bereits bestehenden Datensatz die Variablen ausgewählt, die einen statistischen Zusammenhang mit einer binären Geschlechtsvariable zeigen. Diese werden anschließend dazu verwendet, einen Gender Index zu ermitteln, der die Teilnehmenden auf einem Kontinuum von sehr maskulin bis sehr feminin einordnet (Pelletier et al. 2015). Diesen Instrumenten liegt ein bipolares Verständnis von Geschlecht zu Grunde, in dem Maskulinität und Femininität an den entgegengesetzten Achsen eines Kontinuums stehen und sich gegenseitig ausschließen. Auch besteht die Gefahr, dass mögliche Einzeleffekte der eingeschlossenen Variablen durch die Berechnung eines übergreifenden Scores maskiert werden.

Ausblick und die Notwendigkeit der Weiterentwicklung

Insgesamt lässt sich für die letzten 20 Jahre sowohl ein Anstieg der Anwendung von Instrumenten als auch eine größere Variabilität von berücksichtigten Geschlechterdimensionen beobachten. Allerdings bleiben die meisten dieser Ansätze bisher hinsichtlich methodischer und theoretischer Aspekte noch hinter den Anforderungen und Erkenntnissen der Geschlechterforschung und der Gendermedizin zurück. Viele der identifizierten Instrumente basieren auf einem binären Verständnis von Geschlecht, obwohl Maskulinität und Femininität in vielen Fällen nicht mehr als sich gegenseitig ausschließend konzipiert werden (Horstmann et al. 2022). Dies verdeutlicht den Bedarf an weiteren Instrumenten. Hierbei gilt es zu beachten, dass nicht jede Geschlechterdimension für jede gesundheitsbezogene Fragestellung von Interesse ist und es somit nicht ein Instrument gibt, das für jede Studie passt (Tate et al. 2013). Forschende sollten daher sorgfältig entscheiden, welche Aspekte von Geschlecht für ihre jeweilige, spezifische Forschungsfrage von Interesse sind, und geeignete Verfahren für deren Erfassung einsetzen.
Die Literaturliste finden Sie über das eMag der PflegeZeitschrift und auf springerpflege.de

Fazit

Die Diversität hat zugenommen. Gestiegen ist in den letzten 20 Jahren auch die Anzahl von Instrumenten zur Erfassung geschlechtlicher Vielfalt. Ein Großteil dieser Instrumente beruht auf einem binären Verständnis von Geschlecht.
Es bedarf weiterer Ansätze, um die sozialen und biologischen Aspekte von Geschlecht für die Gesundheitsforschung valide erfassbar zu machen.

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Metadaten
Titel
Geschlechtliche Vielfalt erfassen
verfasst von
Sophie Horstmann
Prof. Dr. Gabriele Bolte
Publikationsdatum
01.11.2022
Verlag
Springer Medizin
Schlagwörter
Diversity
Forschung
Erschienen in
Pflegezeitschrift / Ausgabe 12/2022
Print ISSN: 0945-1129
Elektronische ISSN: 2520-1816
DOI
https://doi.org/10.1007/s41906-022-1960-y

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