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Erschienen in: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 3/2017

Open Access 31.03.2017 | Geriatrie | CME

Geriatrisches Assessment bei Patienten mit hämatologischen Neoplasien

verfasst von: Benedikt Hofer, Laurenz Nagl, Florian Hofer, Univ.-Prof. Dr. Reinhard Stauder, MSc

Erschienen in: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie | Ausgabe 3/2017

Zusammenfassung

Der wachsende Anteil älterer Menschen in der Bevölkerung führt zur signifikanten Zunahme von Patienten mit Alterserkrankungen wie hämatologischen Neoplasien. Diese Entwicklung hat wichtige Folgen für die Medizin. So nimmt der Bedarf an Instrumenten, mit denen der funktionelle und der globale Status von älteren Patienten evaluiert werden können, zu. Der Einsatz dieser Instrumente erlaubt dem Hämatoonkologen, Patienten nach Risikoprofilen für bestimmte Medikamentennebenwirkungen zu stratifizieren, Therapiemöglichkeiten besser abzustimmen, supportive Maßnahmen und Interventionen bedarfsgerecht zu implementieren, um Toxizitäten zu minimieren, und Behandlungspläne individualisiert zu gestalten. Für das geriatrische Assessment existieren mehrere Instrumente, und ein komplettes geriatrisches Assessment kann viele bisher unbekannte Probleme aufdecken. Die gezielte Intervention verbessert die Prognose und die Folgebereitschaft bei Therapien älterer Patienten mit hämatologischen Erkrankungen.
Hinweise

Redaktion

M. Gosch, Nürnberg
H.-J. Heppner, Schwelm
W. Hofmann, Neumünster
B. Hofer ist Erstautor und Verfasser, L. Nagl und F. Hofer sind Koautoren, R. Stauder ist Seniorautor.

Lernziele

Nach der Lektüre dieses Beitrags …
  • kennen Sie die Merkmale des älteren Patienten, die das Erfordernis einer besonderen Betreuung in der Hämatoonkologie erklären.
  • können Sie die verschiedenen Instrumente des geriatrischen Assessments sowie deren Bedeutung für die Prognose hämatoonkologischer Erkrankungen beim älteren Patienten und für die Einleitung geriatrischer Interventionen beschreiben.
  • fühlen Sie sich sicher darin, die Risikofaktoren für die Entwicklung einer chemotherapieassoziierten Toxizität bei Älteren zu erkennen.
  • wissen Sie, welche Modelle zur interdisziplinären Zusammenarbeit in der Versorgung von älteren Patienten mit hämatologischen Erkrankungen existieren.

Hintergrund

Derzeit sind 30 % aller Patienten bei Erstdiagnose einer hämatologischen Krebserkrankung über 75 Jahre alt [1]. Bei den Erstdiagnosen des myelodysplastischen Syndroms (MDS) und des multiplen Myeloms beträgt das mediane Alter der Betroffenen 75 Jahre. Akute myeloische Leukämie, diffus großzelliges B‑Zell-Non-Hodgkin-Lymphom und chronisch lymphatische Leukämie werden erstmals bei Patienten im medianen Alter von 70 Jahren diagnostiziert [2]. Komorbiditäten, funktioneller Status, Depression, Kognition, Ernährungszustand und Sozialanamnese haben einen nachgewiesenen Effekt auf das Überleben dieser älteren Patienten [3]. Um diese Faktoren zu erfassen, sollte das „Comprehensive Geriatric Assessment“ (CGA) ein wesentlicher Teil der Therapieplanung bei älteren Patienten sein [3].
Bei Erstdiagnose einer hämatologischen Krebserkrankung sind 30 % der Patienten über 75 Jahre alt

Definition des „älteren Patienten“

Die European Medicines Agency (EMA) legt 65 Lebensjahre als den Grenzwert fest, ab dem die Bezeichnung „älterer“ Patient zutrifft [4]. In der klinischen Praxis stellt jedoch das Patientenalter von 70 Jahren eine relevantere Schwelle dar, denn ab diesem Alter treten verschiedene altersbezogene Veränderungen gehäuft auf [4]. Diese stellen Risikofaktoren für eine veränderte Pharmakokinetik und -dynamik dar, was wiederum zu veränderter bzw. zumeist erhöhter medikamenteninduzierter Toxizität führen kann [4].
Altersbezogene Veränderungen treten gehäuft bei Menschen ab 70 Jahren auf

Altersbedingte Veränderungen

Aufgrund der demografischen Entwicklung in unserer Gesellschaft sind bereits heute 60 % aller Patienten mit malignen hämatologischen Erkrankungen älter als 65 Jahre [5]. Die Tendenz wird in den kommenden Jahren noch weiteransteigen, da chronische Leiden, wie Krebs und viele hämatologische Erkrankungen, nach dem 50. Lebensjahr exponentiell zunehmen [5]. Dieses Phänomen kann als Resultat folgender Einflüsse betrachtet werden [5]:
  • intrinsisch: Alterung des Immunsystems, genetische und epigenetische Veränderungen sowie
  • extrinsisch: höhere kumulative Exposition gegenüber Karzinogenen und chronische Stimulation des Immunsystems durch Antigene.
Viele hämatologische Erkrankungen nehmen nach dem 50. Lebensjahr exponentiell zu
Ein Hauptproblem älterer Patienten stellen hämatologische maligne Erkrankungen dar, wie MDS (Tab. 1), Leukämie, Lymphome und Myelome. Jedoch sind auch hämatologische benigne Störungen nicht zu vernachlässigen. Hierzu zählt eine Anämie oder eine medikamentös induzierte Gerinnungshemmung, die zur kardiovaskulären Prävention notwendig ist. Diese erfordern ebenfalls die Aufmerksamkeit des betreuenden Hämatologen, da sie einen wesentlichen Faktor der Lebensqualität des Betroffenen ausmachen und das Gesamtüberleben mitbestimmen [5].
Tab. 1
Häufigkeit des myelodysplastischen Syndroms (MDS) in den Vereinigten Staaten zwischen 2001 und 2008, unterteilt nach Altersgruppen. (National Cancer Institute [2])
Lebensjahre
MDS-Fälle/100.000 Personen und Jahr
0–20
0,1
20–40
0,5
40–60
5
60–80
≤50
Altern geht zum einen mit genetischen Veränderungen einher. Zum anderen akkumulieren sich die toxischen Effekte von Umweltfaktoren. Daraus folgen eine generell erhöhte Vulnerabilität des älteren Patienten, verminderte Funktionen verschiedener Organsysteme und ein erhöhtes Auftreten chronischer Erkrankungen [5].
Beim älteren Patienten akkumulieren sich die toxischen Effekte von Umweltfaktoren
Im Speziellen ist die hämatopoetische Stammzelle (HSC) von diesen Alterungsprozessen betroffen. Altersbedingte Veränderungen wie DNA-Schäden, Verkürzung der Telomere, oxidativer Stress und verminderte „Homing“-Fähigkeit (Fähigkeit der Stammzelle, in ihre Stammzellnische im Knochenmark zurückzukehren) wurden an HSC beobachtet [5]. Aus diesen genetischen und epigenetischen Schäden der HSC können sich maligne hämatologische Erkrankungen entwickeln, was als eine Erklärung für ihr gehäuftes Auftreten in der älteren Population herangezogen wird [5]. Zusätzlich ist zu bedenken, dass bei älteren Patienten mit hämatologischen Neoplasien oft zytogenetische Aberrationen vorliegen, die mit einer sehr schlechten Prognose assoziiert sind [5]. Des Weiteren werden bei älteren Patienten mit hämatologischen Erkrankungen häufig im Vergleich zu jüngeren abweichende Behandlungsansprechraten und abweichende Behandlungseffizienzen beobachtet [4].
Aus altersbedingten Schäden der HSC können sich maligne hämatologische Erkrankungen entwickeln
Die European Hematology Association (EHA) erklärte Altern zum Thema des Jahres 2013 und richtete mit folgender Begründung hierzu eine Arbeitsgruppe ein:
The impact of demographic aging within the European Union is likely to become of major significance … The share of those aged 80 years or above is predicted to almost triple between 2011 and 2060 [5].
Dies unterstreicht das Erfordernis einer besonderen Betreuung, die altersbedingte Veränderungen berücksichtigt, sowie die Bedeutung des Alterns in der Medizin generell und insbesondere im Fachgebiet der Hämatologie.

Geriatrisches Assessment

Comprehensive Geriatric Assessment

Ziele

Während manche ältere Patienten eine Chemotherapie genauso gut tolerieren können wie jüngere Patienten, erleiden andere schwere chemotherapieassoziierte Toxizitäten, die eine Dosisreduktion oder sogar den Therapieabbruch erfordern können [4].
Ein Instrument, mit dessen Hilfe ein individualisierter und proaktiver Therapieplan für ältere Patienten erstellt werden kann, ist das Comprehensive Geriatric Assessment (CGA), das ursprünglich von Geriatern entwickelt und verwandt wurde [6, 7]. Das CGA ermöglicht die Evaluation des allgemeinen und des funktionalen Status des älteren Patienten. So trägt es dazu bei, sowohl die Behandlungsentscheidungen als auch die Prognose des Patienten zu verbessern [6, 7]. Im Rahmen der Abschätzung des funktionellen Zustands des Patienten (Tab. 2) integriert das CGA vorhandene Komorbiditäten, das mentale und das emotionale Befinden des Patienten sowie seine soziale Situation [6, 7]. Ebenso wird der Ernährungsstatus des älteren Patienten berücksichtigt und auch eine bestehende Polypharmazie erfasst.
Mithilfe des CGA wird der umfassende Status des älteren Patienten evaluiert
Letztlich kann anhand des CGA-Befunds auch das Vorhandensein geriatrischer Syndrome abgeschätzt werden. Geriatrische Syndrome bezeichnen Zustände und Funktionsdefizite wie Gebrechlichkeit („frailty“), Immobilität bzw. Mobilitätsstörungen, rezidivierende Stürze, Inkontinenz und soziale Isolation. Es handelt sich also um multifaktorielle Krankheitszustände des älteren Menschen, die nicht in diskrete Krankheitskategorien eingeteilt werden können. Sie machen den Betroffenen aufgrund der angehäuften Beeinträchtigungen in mehreren Organsystemen besonders vulnerabel für neue situative Herausforderungen [6, 7].
Tab. 2
Instrumente des Comprehensive Geriatric Assessment [4]
Assessments
Instrument
Durchführung
Funktionale Aktivitäten
Activities of Daily Living (ADL)
Eigenerhebung
Instrumentelle funktionale Aktivitäten
Instrumental Activities of Daily Living (IADL)
Eigenerhebung
Depression
Geriatric Depression Scale (GDS)
Eigenerhebung
Kognition
Mini-Mental State Examination (MMSE)
Fremderhebung
Komorbiditäten
Charlson Comorbidity Index (CCI)
Cumulative Illness Rating Scale for Geriatrics (CIRS-G)
Hematopoietic Cell Transplantation-specific Comorbidity Index (HCT-CI)
Eigen- oder Fremderhebung
Ernährung
Mini Nutritional Assessment (MNA)
Body-Mass-Index (BMI)
Fremderhebung
Mobilität
Timed „Up and Go“-Test
Tinetti-Test
Fremderhebung
Anhand des CGA-Befunds kann das Vorhandensein geriatrischer Syndrome abgeschätzt werden
Die mithilfe des CGA erhobenen Gesundheitsparameter erlauben die Abschätzung einer medikamenteninduzierten Toxizität [8]. Das CGA ist außerdem der Beurteilung eines Patienten allein aufgrund seines chronologischen Alters und seines Performance Status (PS) überlegen, da es auch Hilfsbedürftigkeit und Einschränkungen, wie beispielsweise in der Kognition oder Stimmungslage erfassen und damit das Überleben besser vorhersagen kann [9].

Effektivität und Vorhersagekraft

Die Vorhersagekraft des CGA wurde in einer Metaanalyse von 28 kontrollierten Studien belegt [7]. Hieraus ging hervor, dass das CGA die Identifikation von Problemen im Frühstadium ermöglicht. Die daraus abgeleiteten Interventionen konnten die Rehospitalisationsrate und die Mortalität von älteren Patienten deutlich reduzieren [7].
Die Anwendung des CGA ermöglicht die Identifikation von Problemen im Frühstadium
Zwei randomisierte Studien, die den Einfluss von Interventionen untersuchten, die aufgrund von CGA-Befunden vorgenommen wurden, zeigten einen verbesserten funktionellen Status der behandelten Patienten und auch einen statistisch signifikanten Überlebensvorteil [10, 11]. Die Fitness der Patienten und letztlich ihre Lebensqualität konnten in diesen Studien durch die Identifikation klinischer Einschränkungen im Frühstadium und darauf aufbauende Interventionen verbessert werden [10, 11]. Allerdings wurden diese Daten an Patienten mit soliden Tumoren generiert. Zu Patienten mit hämatologischen Neoplasien existieren weniger Studienergebnisse, dennoch ist höchstwahrscheinlich die Übertragbarkeit auf Patienten mit hämatologischen Neoplasien zulässig.

Kategorien

Durch Anwendung des CGA können die älteren Patienten in folgende 3 Kategorien eingeteilt werden [6]:
  • fitte Patienten in gutem Allgemeinzustand, die keine Komorbidität und keine funktionellen Einschränkungen aufweisen,
  • Patienten, die in ihren „instrumental activities of daily living“ (IADL) leicht eingeschränkt sind und ggf. unter einer ernsten Begleiterkrankung leiden und dann als vulnerabel gelten sowie
  • gebrechliche Patienten, bei denen funktionelle Einschränkungen und ernste Begleiterkrankung zu finden sind.
Gebrechliche Patienten erhalten üblicherweise eine bestmögliche supportive Therapie oder eine palliative Chemotherapie. Vulnerable Patienten, die die größte Gruppe darstellen, benötigen individuell angepasste Therapiekonzepte [12]. Patienten in gutem Allgemeinzustand können beinahe jeder Form von Chemotherapie zugeführt werden; sie tolerieren diese üblicherweise ähnlich gut wie jüngere Patienten und können sogar auf ähnliche Überlebenschancen hoffen [13].
Vulnerable Patienten benötigen individuell angepasste Therapiekonzepte

Kurze Screeningmethoden

Da das CGA für den Einsatz im klinischen Alltag relativ aufwendig ist, wurden einige kürzere Screeningmethoden entwickelt, wie z. B. die Vulnerable Elders Survey (VES-13; [14]), der Groningen Frailty Indicator (GFI; [15]) und das G8 [16].

Vulnerable Elders Survey-13

Die VES-13 setzt sich aus 13 Fragen zusammen, die den funktionellen und den physischen Status sowie das Patientenalter erhebt. Ein weiterer wichtiger Parameter ist Eigenwahrnehmung des Patienten seinen gesundheitlichen Zustand betreffend [14].

Groningen Frailty Indicator

Der GFI beinhaltet 15 Einheiten, die physische, kognitive und psychosoziale Kompetenzen erfassen, um das Ausmaß der Gebrechlichkeit eines Patienten zu bestimmen [17].

G8

Das Instrument G8 (Tab. 3) wiederum stellt eine sehr einfache Assessmentmethode dar, die „7 Fragen aus dem Mini Nutritional Assessment – Full Version“ und das Patientenalter (<80, 80–85, >85 Jahre) erfasst. Hierbei werden Punktsummen von 17 (guter Zustand) bis 0 (schlechter Zustand) vergeben [16]. Eine Studie an 364 Patienten, die 70 Jahre oder älter waren, zeigte eine 60 %ige Spezifität und eine 90 %ige Sensitivität des G8 bei einem Grenzwert ≤14 Punkte [16].
Tab. 3
Das G8-Instrument [16]
Items
Possible responses (score)
Has food intake declined over the past 3 months due to loss of appetite, digestive problems, chewing, or swallowing difficulties?
0: severe decrease in food intake
1: moderate decrease in food intake
2: no decrease in food intake
Weight loss during the last 3 months?
0: weight loss >3 kg
1: does not know
2: weight loss between 1 and 3 kg
3: no weight loss
Mobility?
0: bed or chair bound
1: able to get out of bed/chair but does not go out
2: goes out
Neuropsychological problems?
0: severe dementia or depression
1: mild dementia
2: no neuropsychological problems
Body mass index (BMI)? (Weight in kg)/(height in m2)
0: BMI < 19
1: BMI 19 to <21
2: BMI 21 to <23
3: BMI ≥ 23
Takes more than three prescription drugs per day
0: yes
1: no
In comparison with other people of the same age, how does the patient consider his/her health status?
0.0: not as good
0.5: does not know
1.0: as good
2.0: better
Age
0: >85
1: 80–85
2: <80
Total score 0–17
Cut-off ≤14
G8 beinhaltet 7 Fragen aus dem Mini Nutritional Assessment – Full Version

Abbreviated Comprehensive Geriatric Assessment

Außerdem ist mittlerweile eine verkürzte Form des CGA, das Abbreviated Comprehensive Geriatric Assessment (aCGA), verfügbar, die in retrospektiver Analyse gut mit dem Original-CGA korreliert [18]. Das aCGA erfasst Kognition, Stimmungslage, ADL und IADL, nicht jedoch Ernährungsstatus, Komorbiditäten, soziale Situation und das Vorliegen einer Polypharmazie. Es ist valide in der Vorhersage der Verschlechterung von ADL und IADL (Sensitivität von 97 % bzw. 92 %, Spezifität jeweils 47 % bzw. 69 %). Allerdings ist die Sensitivität für die Erkennung von kognitiver Dysfunktion oder Depression gering bzw. moderat (23 % bzw. 69 %). Das aCGA kann letztlich die Vulnerabilität bei Älteren nur mit einer medianen Sensitivität von 51 % aufdecken; deshalb können die Autoren des vorliegenden Beitrags dieses Instrument nicht generell empfehlen [19].
Das aCGA sagt valide eine Verschlechterung der Aktivitäten des täglichen Lebens voraus

Fazit

In der Zusammenschau der Effektivität und Vorhersagekraft der oben beschriebenen Instrumente ist letztlich die Anwendung des CGA beim älteren Patienten mit hämatologischen Erkrankungen zu empfehlen [19]. Hinweise auf Defizite beim älteren Patienten, die anhand eines Screeningverfahrens aufgedeckt wurden, sollten daher auch immer in ein CGA münden. Dieses sollte von Geriatern durchgeführt und interpretiert werden.
Bei Hinweisen auf Defizite des Patienten sollte ein CGA durchgeführt werden

Chemotherapieassoziierte Toxizität

Ältere Patienten sind besonders anfällig für toxische Nebenwirkungen einer Chemotherapie [20, 21]. Verschiedene Parameter eines geriatrischen Assessments können unabhängig voneinander das Risiko für die Entwicklung einer solchen chemotherapieassoziierten Toxizität vorhersagen [20].

Risikofaktoren aus dem CGA

Alter.
Ein wichtiger Faktor ist das Patientenalter. Ab einem Alter >71 Jahre besteht eine „odds ratio“ (OR) von 1,85 für die Entwicklung einer chemotherapieassoziierten Toxizität [20].
Laborparameter.
Ebenso stellen Hämoglobinwerte (Hb-Wert) <11 g/l bei Männern bzw. <10 g/l bei Frauen einen Risikofaktor dar; hier beträgt die OR sogar 2,31 [20]. Eine Kreatinin-Clearance <34 ml/min ist mit einer OR von 2,46 für die Entwicklung einer Chemotherapietoxizität vergesellschaftet [20].
Aktivitäten des täglichen Lebens.
Des Weiteren gilt die Zahl von Stürzen (einer oder mehrere), die der Patient in den letzten 6 Monaten erlitten hat, als Risikofaktor; hier beträgt die OR 2,47 [20].
Die Selbstversorgungsfähigkeit eines Patienten, die anhand der IADL und ADL festgestellt werden kann, stellt einen bedeutenden Parameter zur Vorhersage chemotherapieassoziierter Toxizitäten dar. Zum Beispiel ergibt sich eine OR von 1,5 für eine chemotherapieassoziierte Toxizität, wenn ein Patient Medikamente nur mit Fremdhilfe oder gar nicht mehr einnehmen kann [20]. Auch die eingeschränkte Fähigkeit, eine Wegstrecke von einem Block zu Fuß zurückzulegen, ist mit dem erhöhten Risiko einer chemotherapieassoziierten Toxizität assoziiert (OR von 1,71; [20]).
Organfunktionseinbußen.
Generell ist zu beachten, dass im Alterungsprozess mehrere Organe Funktionseinbußen erleiden und dass daraus eine veränderte Pharmakokinetik resultieren kann, was wiederum negativen Einfluss auf die Verträglichkeit und die Toxizität einer Chemotherapie nimmt [4]. Betroffene Organe sind z. B. Nieren, Knochenmark und Verdauungstrakt [4]. Die glomeruläre Filtrationsrate (GFR) verringert sich mit zunehmendem Alter, was die Ausscheidung von Medikamentenabbauprodukten wie von Platinderivaten oder Methotrexat verschlechtert. Daher sollte anhand der Kreatinin-Clearance eine Abschätzung der GFR erfolgen, um ggf. eine Dosisanpassung des Chemotherapeutikums vornehmen und das Auftreten einer chemotherapieassoziierten Toxizität verhindern zu können.
Eine veränderte Pharmakokinetik kann sich negativ auf die Verträglichkeit einer Chemotherapie auswirken
Die funktionelle Reserve des Knochenmarks nimmt mit zunehmendem Alter ab, und dementsprechend steigt die Empfindlichkeit für myelotoxische Substanzen [22]. Das Risiko für Neutropenien und neutropenieassoziierte Infektionen kann zunehmen; in diesen Fällen wird bei älteren Patienten die prophylaktische Gabe hämatopoetischer Faktoren empfohlen [23]. In einer 2007 publizierten Metaanalyse sank das Risiko für febrile Neutropenie, Infektionen und infektionsassoziierte Mortalität, wenn rekombinanter koloniestimulierender Faktor verabreicht wurde [23]. Die Verhinderung einer Anämie ist ebenfalls ein wichtiger Aspekt in der Behandlung älterer Patienten; für Transfusionen beim älteren Patienten gilt sowohl für männliche als auch für weibliche Patienten der Ziel-Hb-Wert von 12 g/l und kann ggf. durch Bluttransfusionen oder die Gabe von erythropoesestimulierenden Faktoren (ESF) erreicht werden [23].
Die funktionelle Reserve des Knochenmarks nimmt mit zunehmendem Alter ab
Medikamentendosis.
Ein sehr wichtiger Aspekt zur Vermeidung einer chemotherapieassoziierten Toxizität bei älteren Patienten betrifft die mögliche verringerte Therapieeffektivität bei adaptierter Dosis [4]. Sowohl die Reduktion der Dosis als auch die Wahl eines weniger toxischen, jedoch oft dann auch weniger wirksamen Therapeutikums können den Therapieerfolg beeinträchtigen [4].
Eine möglicherweise verringerte Therapieeffektivität bei adaptierter Medikamentendosis muss beachtet werden

Weitere ergänzende Erhebungsinstrumente

Zwei innovative Instrumente, die nicht Bestandteil des geriatrischen Assessments sind, sind:
  • Risikostratifikationsschema der Chemotherapy and Ageing Research Group (CARG; [20]) und
  • Chemotherapy Risk Assessment Scale for High-Age Patients (CRASH, [24]; Tab. 4).
Beide integrieren die oben genannten Faktoren und ermöglichen die Abschätzung des Risikos für die Entwicklung einer chemotherapieassoziierten Toxizität bei älteren Krebspatienten. Die Autoren des vorliegenden Beitrags empfehlen diese Scores als komplementäre Instrumente, die bei der Planung von therapeutischen Interventionen die Lebensqualität und die Prognose des Patienten verbessern können.
Tab. 4
Scores der Chemotherapy Risk Assessment Scale for High-Age Patients zur Prädiktion einer chemotherapieassoziierten Toxizität [20]
Anteil (%) der Patienten mit Chemotherapietoxizität
Punktwert
25
0–3
32
4–5
50
6–7
54
8–9
77
10–11
85
12–19

Modelle der interdisziplinären Zusammenarbeit

„Multidisciplinary care“ (MDC) und unter diesem Begriff arbeitende „multidisciplinary teams“ (MDT) sind Strukturen bzw. Gruppen, die zur Verbesserung der Kommunikation, der Koordination und der Entscheidungsfindung zwischen unterschiedlichen Professionen beitragen sollen (z. B. Geriater, Pflege, Hämatoonkologe, Chirurg, Radiologe, Pathologe; [25]). Es gilt als erwiesen, dass die Implementierung von MDT häufig zu einer Revision von Diagnosen und Therapieplänen führt [26]. Außerdem scheinen bei Einbeziehung eines MDT evidenzbasierte Therapierichtlinien eher eingehalten zu werden [26]. Zudem wurde die Zufriedenheit von Patienten mit MDT untersucht, MDT scheinen von den Patienten sehr gut angenommen zu werden, und die meisten Patienten sind äußerst zufrieden mit diesem Konzept [27].
Die Implementierung von MDT führt häufig zur Revision von Therapieplänen
Multidisciplinary teams halten regelmäßige Treffen ab und diskutieren prospektiv Therapiepläne von Patienten. Sie konzentrieren sich auf ein Organ oder auf einen Krankheitssubtyp. Für nicht an ein entsprechendes Zentrum angebundene Krankenhäuser besteht die Möglichkeit, über Telefonkonferenzen die mit dem MDT-Konzept verbundenen Vorteile zu nutzen [28].
Multidisciplinary teams konzentrieren sich auf einen Krankheitssubtyp
Abseits von Zentren mit MDT und MDC ist in jedem Fall die enge Kooperation mit Geriatern empfohlen. Hier kommt wieder das CGA zur Anwendung, um die Patienten gut zu stratifizieren, ggf. individualisierte Interventionen zu planen und auszuführen sowie letztlich den funktionellen Status und die globale Gesundheit des Patienten zu stabilisieren und, wenn möglich, zu verbessern. Hierzu kooperieren Geriater wiederum mit Physiotherapeuten, Psychologen, Sozialarbeitern, Diätassistenten und anderen therapeutischen Disziplinen [6].
Ein weiteres Modell stellt die Betreuung durch den dual trainierten geriatrischen Onkologen dar. Die Expertise in diesem Bereich ist jedoch aufgrund der äußerst geringen Zahl an geriatrischen Onkologen noch sehr gering, und außerhalb sehr großer Zentren lässt sich ein solches Modell aufgrund zu geringer Ressourcen derzeit noch nicht aufbauen. Jedoch steht fest, dass Ärzte, die diese duale Ausbildung absolviert haben, den höchstmöglichen Therapiestandard und die höchstwertige Behandlung für ältere oder gebrechliche Patienten bereitstellen können, was wiederum ein starkes Argument für diese neue Weiterbildungsform bedeutet [29].
Ein interdisziplinäres Modell stellt die Betreuung durch den dual trainierten geriatrischen Onkologen dar

Fazit für die Praxis

  • Für die Wahl der Therapie von älteren Patienten mit einer hämatologischen Krebserkrankung ist es wichtig, deren Allgemeinzustand zu beachten. Mithilfe mehrerer Instrumente und Assessments können der Patientenstatus stratifiziert sowie das Gesamtüberleben, das Risiko für eine chemotherapieassoziierte Toxizität und die Sinnhaftigkeit geriatrischer Interventionen individuell eingeschätzt und verbessert werden.
  • Derzeit stellt unter den verfügbaren Assessments das CGA den Goldstandard mit der höchsten Sensitivität und Spezifität für die Aufdeckung eines vulnerablen Zustands beim älteren Patienten mit einer hämatologischen Krebserkrankung dar.
  • Hinweise auf Defizite des Patienten, seien sie durch ein Screeningverfahren aufgedeckt oder klinisch auffällig geworden, sollten daher immer in ein CGA münden, das durch geriatrisch Ausgebildete durchgeführt und interpretiert werden sollte.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

B. Hofer, L. Nagl, F. Hofer und R. Stauder geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren.
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Literatur
9.
Zurück zum Zitat Repetto L, Audisio R (2002) Comprehensive geriatric assessment adds information to Eastern Cooperative Oncology Group performance status in elderly cancer patients: an Italian Group for Geriatric Oncology Study. J Clin Oncol 20:494. doi:10.1200/jco.20.2.494 CrossRefPubMed Repetto L, Audisio R (2002) Comprehensive geriatric assessment adds information to Eastern Cooperative Oncology Group performance status in elderly cancer patients: an Italian Group for Geriatric Oncology Study. J Clin Oncol 20:494. doi:10.​1200/​jco.​20.​2.​494 CrossRefPubMed
19.
Zurück zum Zitat Hamaker et al (2012) Frailty screening methods for predicting outcome of a comprehensive geriatric assessment in elderly patients with cancer: a systematic review. Lancet Oncol. doi:10.1016/S1470-2045(12)70259-0 PubMed Hamaker et al (2012) Frailty screening methods for predicting outcome of a comprehensive geriatric assessment in elderly patients with cancer: a systematic review. Lancet Oncol. doi:10.​1016/​S1470-2045(12)70259-0 PubMed
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Zurück zum Zitat Extermann et al (2012) Predicting the risk of chemotherapy toxicity in older patients: the Chemotherapy Risk Assessment Scale for High-Age Patients (CRASH) score. Cancer 118:3377. doi:10.1002/cncr.26646 CrossRefPubMed Extermann et al (2012) Predicting the risk of chemotherapy toxicity in older patients: the Chemotherapy Risk Assessment Scale for High-Age Patients (CRASH) score. Cancer 118:3377. doi:10.​1002/​cncr.​26646 CrossRefPubMed
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Zurück zum Zitat Bjegovic-Weidman M, Kumar S (2010) Establishing a community-baser lung cancer MD clinic as part of a large integrated health care system: Aurora Health Care. J Oncol Practice 6(6):e27. doi:10.1200/jop.2010.000022 CrossRef Bjegovic-Weidman M, Kumar S (2010) Establishing a community-baser lung cancer MD clinic as part of a large integrated health care system: Aurora Health Care. J Oncol Practice 6(6):e27. doi:10.​1200/​jop.​2010.​000022 CrossRef
28.
Zurück zum Zitat Victoria Department of Health & Human Services (2007) Achieving best practice cancer care: a guide for implementing Multidisciplinary care Victoria Department of Health & Human Services (2007) Achieving best practice cancer care: a guide for implementing Multidisciplinary care
29.
Zurück zum Zitat Cohen H, Arati V (2016) Geriatric oncology, an issue of clinics in geriatric medicine. Elsevier, New York Cohen H, Arati V (2016) Geriatric oncology, an issue of clinics in geriatric medicine. Elsevier, New York
Metadaten
Titel
Geriatrisches Assessment bei Patienten mit hämatologischen Neoplasien
verfasst von
Benedikt Hofer
Laurenz Nagl
Florian Hofer
Univ.-Prof. Dr. Reinhard Stauder, MSc
Publikationsdatum
31.03.2017
Verlag
Springer Medizin
Schlagwörter
Geriatrie
Onkologie
Erschienen in
Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie / Ausgabe 3/2017
Print ISSN: 0948-6704
Elektronische ISSN: 1435-1269
DOI
https://doi.org/10.1007/s00391-017-1222-6

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