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Open Access 2021 | OriginalPaper | Buchkapitel

2. Gerechte Priorisierungen?

Pflegeethische Aspekte der COVID-19-Maßnahmen für pflegebedürftige Personen

verfasst von : Dr. Andreas Lob-Hüdepohl

Erschienen in: Pflege-Report 2021

Verlag: Springer Berlin Heidelberg

Zusammenfassung

Die Sars-CoV-2-Pandemie hat von Anfang an Priorisierungen erforderlich gemacht. Oberstes Ziel war und ist die Verhinderung schwerster und letaler Krankheitsverläufe sowie eines Kollapses der Gesundheitssystems. Die dazu erforderliche umfassende Strategie der körperlichen Distanz hat zu erheblichen Schäden geführt, die auch die gesundheitliche Versorgung vieler erkrankter und pflegebedürftiger Menschen betraf. Priorisierungen sind der Versuch, Bevorzugungen und die damit unweigerlich verbundenen Hintanstellungen von Personen durch eine nachvollziehbare, kriteriengeleitete Güterabwägung moralisch zu begründen. Oberstes und als einziges absolut geltendes Kriterium ist die Menschenwürde. Sie steht für die Selbstzwecklichkeit jedes Menschen und seinen Anspruch auf Zugehörigkeit zur menschlichen Gemeinschaft. Gerade im Bereich der Pflege wird die Zugehörigkeit über leibliche Berührungen zwischen den Pflegebedürftigen und ihren An- und Zugehörigen sowie den Pflegefachkräften erfahrbar. Genau diese Taktilität wird durch die soziale Isolation unterbunden. Und selbst die medizinische Triage wirkt sich bis in die Pflege aus.
Zusammenfassung
Die Sars-CoV-2-Pandemie hat von Anfang an Priorisierungen erforderlich gemacht. Oberstes Ziel war und ist die Verhinderung schwerster und letaler Krankheitsverläufe sowie eines Kollapses der Gesundheitssystems. Die dazu erforderliche umfassende Strategie der körperlichen Distanz hat zu erheblichen Schäden geführt, die auch die gesundheitliche Versorgung vieler erkrankter und pflegebedürftiger Menschen betraf. Priorisierungen sind der Versuch, Bevorzugungen und die damit unweigerlich verbundenen Hintanstellungen von Personen durch eine nachvollziehbare, kriteriengeleitete Güterabwägung moralisch zu begründen. Oberstes und als einziges absolut geltendes Kriterium ist die Menschenwürde. Sie steht für die Selbstzwecklichkeit jedes Menschen und seinen Anspruch auf Zugehörigkeit zur menschlichen Gemeinschaft. Gerade im Bereich der Pflege wird die Zugehörigkeit über leibliche Berührungen zwischen den Pflegebedürftigen und ihren An- und Zugehörigen sowie den Pflegefachkräften erfahrbar. Genau diese Taktilität wird durch die soziale Isolation unterbunden. Und selbst die medizinische Triage wirkt sich bis in die Pflege aus.
From its very beginning, the SARS-CoV-2 pandemic necessitated prioritisations. The primary goal was and still is to prevent the most severe and lethal clinical courses of the disease as well as a collapse of the health care system. The all-encompassing strategy of physical distancing caused considerable harm that affected the health care of ill and care-depending persons. Prioritisation is the attempt to morally justify preferences – and subordinations which are inevitably related with them – by a comprehensible, criteria-based balancing of interests. The only criterion which applies unconditionally is human dignity. Every human being is an end in itself and entitled to belong to the human community. In the care sector, this belonging is experienced especially through physical contact and touch – between each other, with caregivers, relatives or other close people. Social isolation prevents precisely this tactility. And even medical triage has an impact on the care sector.

2.1 Körperliche Distanz und soziale Isolierung: das Grunddilemma der COVID-19-Schutzmaßnahmen

Priorisierungsentscheidungen von bislang ungeahnter Tragweite prägen die staatlich verordneten COVID-19-Maßnahmen seit Beginn der Sars-CoV-2-Pandemie. Die erste und zweifelsohne einschneidendste Priorisierung führte im März 2020 in nahezu allen betroffenen Ländern zu einem Lockdown, der weite Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens erfasste. Auch in Deutschland hatten die Verhinderung eines kollabierenden Gesundheitssystems und insbesondere der Schutz intensivmedizinischer Versorgungkapazitäten vor einer dramatischen Überlast oberste Priorität. Zentrales Instrument war und ist eine möglichst umfassende Strategie der körperlichen Distanz im privaten wie öffentlichen Leben.1
Wie jede Priorisierung führte auch diese Entscheidung zwangsläufig zur Hintanstellung anderer Güter, die neben einem funktionierenden Gesundheitssystem für ein gelingendes Leben aller betroffenen Menschen und deren Lebensqualität ebenfalls sehr erheblich sind. Diese Hintanstellung zog teils schwere Begleitschäden nach sich: Für alle Bürgerinnen und Bürger bedeutete der Lockdown eine weitreichende Einschränkung elementarer Freiheits- und politischer Partizipationsrechte. Bestimmte Berufsgruppen im produzierenden Gewerbe ebenso wie im Bereich der Kultur, der Gastronomie oder des Tourismus trafen die Maßnahmen empfindlich und gefährde(te)n sogar deren Existenz. Ganz besonders traf es aber Personen, die zu den verletzlichsten Gruppen zählen und schwerwiegenden psychosozialen sowie gesundheitlichen Risiken ausgesetzt wurden: Patientinnen und Patienten, deren medizinische Behandlung als nicht zwingend gewichtet („posteriorisiert“) und deshalb verschoben wurde; Frauen und Kinder, die im Lockdown durch den enormen sozialen Stress von häuslicher Gewalt bedroht sind; Personen, die Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, der Behindertenhilfe oder der Sozialpsychiatrie nutzen, denen aber Besuchskontakte wie Arbeits-, Bildungs- und Therapieangebote weitgehend vorenthalten wurden (DER 2020b). Solche und weitere Beschränkungen und Verbote „sorgen auf vielen Ebenen für psychische, soziale und spirituelle Belastungen mit Auswirkungen auf die Gesundheit“ (DGP 2020, S. 1).
Die Begleitschäden der Strategie körperlicher Distanz trafen auch Pflegebedürftige in der stationären wie ambulanten Langzeitpflege ebenso wie deren An- und Zugehörige oder Pflegefachpersonen mit voller Härte (ZQP 2020; Koppelin 2020; Seidler et al. 2020). Die Dramatik der Situation zeigt sich in folgendem Dilemma: Einerseits tragen pflegebedürftige Personen ein vielfach erhöhtes Risiko, sich mit dem Sars-CoV-2-Erreger anzustecken, an COVID-19 schwer zu erkranken sowie sogar zu versterben. Alle bislang verfügbaren Daten deuten darauf hin, dass über die Hälfte der tödlichen COVID-19-Erkrankungen Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen betreffen (IPP 2020). Von daher benötigen sie den größten Schutz. Neben den üblichen Hygienemaßnahmen des Pflegefachpersonals schienen nur eine strenge Abschirmung der Pflegebedürftigen von Außenkontakten sowie interne Kontaktsperren in den Einrichtungen diesen Schutz wenigstens einigermaßen zu gewährleisten – mindestens so lange, wie andere präventive wie therapeutische Schutzmaßnahmen (wirksamer Impfschutz, effektive Behandlungsmöglichkeiten usw.) noch nicht zur Verfügung stehen. Andererseits führen genau diese internen wie externen Kontaktsperren – neben An- und Zugehörigen werden auch den haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von externen Dienst- und Versorgungsleistungen (SAPV, Ergo-, Logo- oder Physiotherapie, Besuchsdienste, seelsorgerische Begleitung usw.) der Zugang erschwert oder sogar verunmöglicht – zu einer sozialen Isolation, die schwere Schäden verursachen und sogar zu einer erhöhten Sterblichkeit der Pflegebedürftigen führen kann (Seidler et al. 2020). Daran zeigt sich die Tragik des Dilemmas: Es kollidieren miteinander solch bedeutsame Schutzgüter, deren substantielle Gefährdung für sich genommen unmöglich akzeptiert werden könnte, die aber bei Priorisierung des Einen als hintangestelltes Anderes verletzt werden.

2.2 Ethische Rechtfertigung von Priorisierungsentscheidungen im Raum der Pflege

Moralische Dilemma-Situationen sind weder gesamtgesellschaftlich noch für die Pflege ungewöhnlich. Sie nötigen regelmäßig zu einer Güterabwägung, die anerkannten ethischen Prinzipien und Prozeduren folgt. Darin erzeugen sie ethische Legitimität. Das gilt gerade in Zeiten der Corona-Pandemie. Schon ganz zu Beginn der Pandemie hat der Deutsche Ethikrat auf die Pflicht steter Rechtfertigung solcher Güterabwägungen beziehungsweise Priorisierungsentscheidungen hingewiesen: „Der ethische Grundkonflikt“ im Rahmen der COVID-19-Maßnahmen „erfordert die Abwägung des erhofften Nutzens einer Strategie der körperlichen Distanz für die dauerhaft belastbare Aufrechterhaltung des Gesundheitssystems mit den befürchteten oder unmittelbaren Schäden für die politische, soziale, wirtschaftliche oder kulturelle Lebenslage derjenigen Personen oder Personengruppen, die von dieser Strategie unmittelbar oder mittelbar betroffen sind. Solche Abwägungen, die immer auch Nützlichkeitserwägungen einschließen, sind“, so der Ethikrat, „ethisch einerseits unabdingbar, andererseits nur insofern zulässig, als sie keine Grund- und Menschenrechte oder weitere fundamentale Güter auf Dauer aushöhlen oder gar zerstören.“ Selbst der Schutz des Lebens gilt nicht absolut: „Ihm dürfen nicht alle anderen Freiheits- und Partizipationsrechte sowie Wirtschafts-, Sozial- und Kulturrechte bedingungslos nach- bzw. untergeordnet werden.“ (DER 2020b, S. 6)
Die Komplexität solcher Abwägungsprozesse wird dann erhöht, wenn grund- und menschenrechtliche Ansprüche miteinander konfligieren. Für den Bereich der Pflege lässt sich ein solcher Konflikt am Recht auf „körperliche und seelische Unversehrtheit, Freiheit und Sicherheit“ illustrieren, wie es die Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen im Artikel 2 zusammenfasst: „Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht, vor Gefahren für Leib und Seele geschützt zu werden.“ (BMFSFJ 2018, S. 10) Daraus folgt einerseits der Anspruch von Pflegebedürftigen, vor Infektionen mit dem Sars-CoV-2-Erreger wirksam geschützt zu werden – notfalls eben auch durch eine Strategie der körperlichen Distanz. Andererseits gehört zum Schutz seelischer Unversehrtheit, „dass keine freiheitseinschränkenden Maßnahmen angewendet“ werden dürfen. Beschränkungen der Bewegungs- oder auch Kontaktfreiheit sind nur dann erlaubt, wenn die Gefährdung nicht anders abgewehrt werden kann und die Betroffenen – ersatzweise ihre rechtlichen Vertreter – dieser Einschränkung zustimmen (ebd., S. 11). Wie in einem Brennglas bündelt diese Kollision von situationsbezogen gegenläufigen Schutzansprüchen das, was gelegentlich mit sekundärer Vulnerabilität bezeichnet wird (DER 2018, S. 51 f): Maßnahmen, die eine primäre Verletzlichkeit von Menschen – hier: die Ansteckungs-, Erkrankungs- und Todesgefahr – verhindern (wollen), bergen unweigerlich auf einer anderen Ebene schwere Risiken, ebenfalls für Leib und Leben.
Die gebotene Güterabwägung bringt zunächst das medizin- beziehungsweise pflegeethische Prinzip der Nichtschädigung ins Spiel (SBK 2013). Freilich fordert dieses Prinzip nicht nur die Abwehr von Selbstschädigung, sondern auch die Abwendung von Fremdschädigungen. Läge in einem Pflegeheim nur die Gefahr einer Selbstschädigung der einzelnen Pflegebedürftigen vor, dann müsste ihnen – und letztlich nur ihnen – die Entscheidung obliegen, welches Schutzgut sie priorisieren: den vorrangigen Schutz ihrer körperlichen oder aber ihrer psychosozialen und seelischen Unversehrtheit. Das Problem der Corona-Pandemie besteht aber nicht nur in der Gefahr eigener Ansteckung und Erkrankung, sondern auch im hohen Risiko der Transmission des Erregers auf andere. Insofern hätten Priorisierungsentscheidungen, die jede/r Einzelne für sich träfe, unmittelbare Auswirkungen auf die Gefährdungslage vieler anderer und damit deren Anspruch auf Nichtschädigung. Selbst wenn ich als Pflegebedürftiger das Risiko eigener schwerer oder vielleicht sogar tödlich verlaufender COVID-19-Erkrankung zugunsten etwa der Aufrechterhaltung meiner sozialen Kontakte als Akt meiner Selbstbestimmung akzeptieren würde, wäre diese Entscheidung prinzipiell limitiert durch die Schutzinteressen eben jener anderen, die fast schon sprichwörtlich „auf Gedeih oder Verderb“ mit mir zusammenleben. Und zu diesen anderen zählen nicht nur die Mitbewohnenden eines Pflegeheims, sondern prinzipiell auch dessen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – auch wenn diese im Rahmen ihrer Berufsausübung selbst beziehungsweise ihre Arbeitsgeber für geeignete Schutzausrüstungen Sorge zu tragen haben. Diesen Ausgleich von Nichtschädigungsansprüchen gebietet das Prinzip der Gerechtigkeit: Gleiche sind gleich zu behandeln. Zwar mag die persönliche Priorisierungsentscheidung zugunsten seelischer Unversehrtheit das Wohlbefinden des Einzelnen befördern und insofern dem pflegeethischen Prinzip der Wohltätigkeit zur Geltung verhelfen. Im Konfliktfall fordert aber das Prinzip der Gerechtigkeit den Vorrang des elementaren Basisschutzes möglichst aller vor dem maximalen Bestschutz einiger weniger.
Das Prinzip der Selbstbestimmung Pflegebedürftiger kommt im Rahmen von Güterabwägungen und Priorisierungsentscheidungen nochmals anders zum Tragen. Persönliche Selbstbestimmung ereignet sich auch da, wo Personen sich gemeinschaftlich auf solche Entscheidungen verständigen, die sie gemeinsam betreffen. Auf der gesellschaftlichen Makroebene sind es die gewählten Mandatsträger in den Parlamenten, die solche gemeinschaftlichen Beschlüsse – dann sogar rechtsverbindlich – über einschneidende Priorisierung treffen. Auf der Mikroebene etwa eines Pflegeheimes wäre entsprechend zu fordern, dass die einrichtungsbezogenen Schutzkonzepte und die ihnen zugrundeliegenden Priorisierungsentscheidungen im Rahmen des rechtlich Zulässigen wenigstens unter der entscheidungsrelevanten Mitwirkung der Pflegebedürftigen gemeinschaftlich legitimiert und nicht allein von der Heimleitung oder dem Träger erlassen werden. Bei allem Respekt vor deren rechtlicher Letztzuständigkeit: Sie ist aber nicht zu verwechseln mit einer Alleinzuständigkeit. Bei „Gefahr im Verzuge“ mag auf solche Legitimationsverfahren von Priorisierungen unter unmittelbarer oder mittelbarer Beteiligung der Betroffenen verzichtet werden können; insofern sind Notfälle immer die „Stunde der Exekutivgewalt“ – im Kleinen wie im Großen. Mittel- und langfristig kann und darf die Exekutivgewalt die eigentlichen Legitimationsinstanzen aber nicht ersetzen. Was der Deutsche Ethikrat in seiner Ad-hoc-Stellungnahme zur Corona-Pandemie insgesamt gefordert hat, nämlich die Rückbindung an den demokratischen Souverän, gilt erst recht für Priorisierungsentscheidungen in kleinen sozialen Gebilden. Kein Heimvertrag und keine Allgemeinverordnung kann und darf die Legitimation von derart einschneidenden, grund- und menschenrechtsrelevanten Restriktionen durch die unmittelbar Betroffenen ersetzen – und verliefe die Legitimation über den Weg eines parlamentarischen Pandemiegesetzes, das solche Priorisierungen unter Beteiligung der Betroffenenvertretungen verbindlich regeln würde.

2.3 Pflege und die Taktilität menschlicher Würde

Üblicherweise folgen ethische Güterabwägungen sogenannten „Vorzugsregeln“. Solche Priorisierungen können sich entweder an der Grundsätzlichkeit („Fundamentalität“) oder an der Bedeutsamkeit („Dignität“) der konkurrierenden moralischen Güter (gesundheitliche Schutzansprüche, Freizügigkeit usw.) orientieren. Die Vorzugsregel der Fundamentalität könnte beispielweise dem physischen Überleben gegenüber dem moralischen Gut der selbstbestimmten Freizügigkeit und Freizeitgestaltung innerhalb einer Pflegeeinrichtung deshalb mindestens vorübergehend den Vorzug geben, weil das physische Überleben unabweisbare Bedingung der Möglichkeit ist, die persönliche Freizügigkeit zu realisieren. Oder es mag den Schutz einer Gemeinschaftseinrichtung der individuellen Freizügigkeit ihrer Bewohnerinnen und Bewohner deshalb vorziehen, weil jede Person, die eigentlich ihre Freizügigkeit begehrt, aufgrund ihrer Lebenslage selbst auf die Funktionstüchtigkeit dieser Wohneinrichtung angewiesen ist. Umgekehrt kann die Vorzugsregel der Dignität etwa der Ausübung freier Alltagsgestaltung deshalb gegenüber dem Schutz des rein biologischen Überlebens den Vorrang einräumen, weil ein Leben ohne physische oder soziale Kontakte kein Mindestmaß an Lebensqualität ermöglicht, die für ein gelingendes Leben in Würde unerlässlich scheint.
Priorisierungsentscheidungen, die durch Güterabwägungen ihre ethische Legitimation erfahren, setzen darauf, dass selbst höchste moralische Güter im Konfliktfall gegeneinander abgewogen werden können und auch dürfen. Und tatsächlich gilt dies auch für grund- und menschenrechtliche Ansprüche, wie sie verfassungsrechtlich niedergelegt sind. Allerdings sind alle solche den Nutzen einkalkulierende Güterabwägungen begrenzt. Sie dürfen nie kategorische, also unbedingt verpflichtende moralische Schutzgüter zur Disposition stellen. Dabei sticht ein kategorisches moralisches Gut hervor: die Würde des Menschen. Sie ist – schon der Verfassung wegen – unantastbar. Ethisch gewendet: Es ist keine ethisch legitime Priorisierung denkbar, die die Würde eines der betroffenen Menschen substantiell verletzt. Die Menschenwürde ist absolut abwägungsresistent.
Menschenwürde bezeichnet das Um-seiner-selbst-willen-Dasein jedes einzelnen Menschen. Niemand darf als bloßes Mittel für andere instrumentalisiert, sondern jeder muss immer als Selbstzweck geachtet werden. Und dieser Achtungsanspruch ist strikt egalitär: Er gilt für jede und jeden – unabhängig von seiner situativen Verfassung, ihres Alters, seines Geschlechts, ihrer Herkunft usw. Würde ist nie davon abhängig, ob – und wenn ja, wie viel – ein Mensch (noch) wie lange einen Wert für sich oder für andere haben mag. Würde ist jeder Person inhärent. Sie wird keiner Person erst von anderen zugesprochen. Deshalb kann sie ihr auch niemals von anderen abgesprochen werden. Allerdings besitzt menschliche Würde gewissermaßen eine Erfahrungsdimension: Dass sie um ihrer selbst willen geachtet und anerkannt werden, müssen Menschen in zwischenmenschlichen Beziehungen konkret und leibhaftig erfahren können. Ansonsten verkümmerte die Menschenwürde zum bloß theoretischen Anspruch ohne Bezug zur Lebenswirklichkeit der betroffenen Personen. Diesen Aspekt greifen Menschenrechtskonventionen der jüngeren Zeit vermehrt auf. Die UN-Behindertenrechtskonvention spricht immer wieder von einem „starken Gefühl der Zugehörigkeit“ (UN-BRK 2006, Präambel), das durch gesellschaftliche Einbeziehung („inclusion“) und Teilhabe („participation“) bewirkt werden soll.
Das ethische Fundamentalprinzip der Achtung der Menschenwürde weist eine Komponente auf, die gerade im Kontext der Langzeitpflege besonders zum Tragen kommt: die Taktilität zwischenmenschlicher Beziehungen. Pflege besitzt eine spezifisch „leibliche Dimension, in der sich ihr besonders enger Personenbezug manifestiert: in den leiblich gebundenen Äußerungen sowohl der Gepflegten, wie der Pflegenden in Mimik, Gestik und Haptik/Taktilität ihrer jeweiligen Körpersprache“ (DER 2020a, S. 26). Was der Deutsche Ethikrat im Frühjahr 2020 nur wenige Tage vor Verhängung des Corona-bedingten Lockdowns als einen essentiellen Maßstab für den Einsatz von „Robotik für gute Pflege“ zur Geltung gebracht hat, gewinnt in Zeiten der Pandemie-Bekämpfung durch physische Distanz eine beklemmende, ja dramatische Aktualität. „Pflege“, erinnert zu Recht die Deutsche Gesellschaft für Pflegewissenschaft in ihrer S1-Leitlinie „Soziale Teilhabe und Lebensqualität in der stationären Altenhilfe unter den Bedingungen der COVID-19-Pandemie“, „ist von direktem Kontakt gekennzeichnet, in dem Berührung eine substantielle Rolle spielt: Berührung als Teil der Körperpflege sowie als Teil zur Begrüßung, Beruhigung, Stütze und Unterstützung.“ (DGPf 2020, S. 17) Und solche leiblichen Berührungen ereignen sich auch da, wo allein die körperliche Anwesenheit anderer Personen im selben Raum erspürt und somit als wenigstens aufblitzende Momente von Beistand und Zugehörigkeit erfahren wird. Deshalb sind neben den Außenkontakten nicht zuletzt die internen Kontakte in Pflegeheimen wie das gemeinsame Essen, Erzählen oder Zuhören usw. so bedeutsam.
Solche Berührungen unmittelbarer wie mittelbarer Art vermitteln soziale Nähe in einer Weise, die durch keine virtuelle Kommunikation substituiert werden können. Es gibt im Verlauf jedes Lebens immer wieder Phasen, in denen diese Bemühungen unterbleiben (müssen) und Menschen physisch alleine sind. Aber Phasen selbstgewählten oder notgedrungenen Alleinseins müssen sorgfältig von der Erfahrung der Einsamkeit unterschieden bleiben. Einsamkeit wohnt das Moment des sozialen Verlassenseins, des Verlustes leibhaft erfahrener Zugehörigkeit inne. Wo diese sich ausbreitet, gerät die Würde jedes Menschen unweigerlich unter Druck. Wo allein das Taktile zwischenmenschlicher Beziehungen solche Einsamkeit und Verlassenheit zu durchbrechen vermag – und das ist gerade in den Situationen der Pflege eher die Regel denn die Ausnahme –, da müssen leibliche Kontakte der Pflegebedürftigen über die professionellen Sorgebeziehungen hinaus mit den wichtigsten An- und Zugehörigen ermöglicht werden. Denn sie vermitteln die Erfahrung von Zugehörigkeit zur menschlichen Gemeinschaft. Physische Distanz („physical distancing“) fällt in diesen Konstellationen beinahe mit sozialer Distanz („social distancing“) zusammen. Sie dürften deshalb die höchste Priorität besitzen – mindestens um der Würde der Pflegebedürftigen willen.
Das hat erhebliche Rückwirkungen auf alle Priorisierungsentscheidungen. So dürfen die legitimen Schutzinteressen aller nicht durch Maßnahmen gesichert werden, die die Substanz einer menschenwürdigen Lebensführung bei bestimmten Personen beschädigen. Das aber ist bei einer nahezu vollständigen sozialen Isolation von Bewohnerinnen und Bewohnern innerhalb einer Einrichtung der Langzeitpflege oder gegenüber Außenkontakten ersichtlich der Fall. Hier müssen andere Wege gefunden werden, die die relevanten Schutzgüter miteinander versöhnen. Solche Wege bestehen: Die Transmission des Sars-CoV-2-Erregers in die Einrichtungen erfolgt überwiegend über die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Eine konsequente Teststrategie (insbesondere durch Schnelltests) kann offensichtlich das Infektionsrisiko und in der Folge das Risiko schwerer und tödlicher Erkrankung deutlich reduzieren. Damit kann dem Schutzinteresse aller Bewohner wie Mitarbeiter von Einrichtungen ohne solche Maßnahmen Rechnung getragen werden, die für viele Bewohner schlechterdings unzumutbar sind. Hier zeigt sich, dass kleinräumlichere Priorisierungsentscheidungen oftmals untrennbar mit grundsätzlichen Priorisierungen einer Gesellschaft verbunden sind. Denn von solchen grundsätzlichen Entscheidungen hängt ab, wo die ebenfalls knappen Testkapazitäten bevorzugt eingesetzt werden; konkret: ob für die Reiserückkehrer aus Risikogebieten zwecks Vermeidung einer ansonsten anstehenden Quarantäne oder aber bevorzugt für das Pflegepersonal sowie für An- und Zugehörige, um soziale Isolierungen in der Langzeitpflege abzuwenden.

2.4 Der Ernstfall medizinischer Triage und seine Auswirkung auf Pflegebeziehungen

Die Menschenwürde Pflegebedürftiger wird auch dann bedroht, wenn Priorisierungsentscheidungen elementare Gerechtigkeitsgrundsätze verletzen und zu individuellen oder auch strukturellen Diskriminierungen führen. Diese Gefahr besteht derzeit auch bei der neuentfachten Debatte zur sogenannten „medizinischen Triage“. Hier zeichnet sich eine ethisch gefährliche Akzentverschiebung im entscheidenden Priorisierungskriterium von der „höheren Dringlichkeit“ zur „besseren Erfolgsaussicht“ sowie eine ebenso ethisch bedenkliche Erweiterung zur sogenannten Ex-post-Triage ab.
Die traumatischen Bilder völlig überlasteter Intensivstationen in der oberitalienischen Stadt Bergamo vor Augen, standen auch in Deutschland intensivmedizinische Versorgungseinrichtungen vor dem Szenarium, welchen lebensbedrohlich erkrankten Patientinnen und Patienten in der Situation extremer Knappheit etwa der letzte Beatmungsplatz zugewiesen werden soll und welche Patienten hintangestellt und damit dem Tod ausgeliefert werden dürfen.2 Unbestritten ist der erste Grundsatz klassischer medizinischer Triage: In Zeiten extremer Knappheit tritt die medizinethisch eigentlich gebotene Orientierung an der Bestversorgung jedes einzelnen Patienten zurück und weicht dem Grundsatz der Basisversorgung, um möglichst vielen Behandlungsbedürftigen das Überleben zu sichern. Dafür darf die Behandlung jener Patienten zurückstellt werden, deren Status keine sofortige Versorgung erfordert. Diese Priorisierung ist mittlerweile Standard in der Katastrophen- und Notfallmedizin, in der Notaufnahme von Krankenhäusern, ja selbst in den Empfehlungen zum Umgang mit Influenza-Pandemien (Christ et al. 2010; Schoeller und Fuchs 2011). Sie wird auch schon in der COVID-19-Pandemie praktiziert: Aufschiebbare Operationen usw. sollen ausfallen, damit die Kapazitäten für lebensbedrohlich an COVID-19 Erkrankte vorsorglich freigehalten werden können. Diese Priorisierung folgt dem Kriterium der „höheren Dringlichkeit“: sofort, rasch, verzögert.
Die aktuell diskutierten Empfehlungen (DIVI 2020; BÄK 2020) erweitern die Triage um das Kriterium der „besseren Erfolgsaussicht“. Eine Priorisierung erscheint nun auch innerhalb der Gruppe sofort intensivmedizinisch Behandlungsbedürftiger erforderlich. Hier kann das Kriterium „höhere Dringlichkeit“ nicht mehr greifen. Das neueingeführte Kriterium der „besseren Erfolgsaussicht“ hat erhebliche Kritik ausgelöst. Unstrittig ist: Die Erfolgsaussicht einer (intensiv-)medizinischen Therapie muss immer ein wesentliches Element jeder medizinischen Indikationsstellung sein. Eine Behandlung, die keine hinreichende Aussicht auf Erfolg – also auf ein Überleben des Patienten ohne fortgesetzte intensivmedizinische Maßnahme – bietet, ist sinnlos und medizinisch nicht angezeigt. Strittig hingegen ist, ob der Vergleich zwischen besseren oder schlechteren Erfolgsaussichten darüber entscheiden darf, wer eine Überlebenschance durch Behandlung erhält oder wer ausscheidet (und deshalb verstirbt) – obwohl er eine hinreichende Erfolgsaussicht besitzt und seine (Weiter-) Behandlung nach wie vor medizinisch indiziert ist.
Diese Priorisierungsregel ist ethisch kaum zu rechtfertigen. Zwar ist die Fokussierung auf den Gesamtnutzen und mit ihr die Bevorzugung von Patientinnen und Patienten mit jeweils besseren Erfolgsaussichten zunächst plausibel. Immerhin werden bei zehn Personen mit einer durchschnittlichen Erfolgsaussicht von 75 % mehr Leben gerettet als bei zehn Personen mit einer durchschnittlichen Erfolgsaussicht von 60 %. Freilich wird diese numerische Erhöhung des Erfolgs nicht etwa durch ein langsameres Genesen der Patienten mit einer schlechteren Aussicht erwirtschaftet, sondern mit dem Verlust deren Lebens. Das aber widerspricht schon dem Gerechtigkeitsprinzip: Jeder behandlungsbedürftige Patient hat ein gleiches Anrecht auf die Chance einer therapiegestützten Genesung. Aus der Perspektive der Betroffenen ist es zweitrangig, ob ihre Überlebenswahrscheinlichkeit 75 % oder nur 60 % beträgt. Natürlich freut sich jeder über eine bessere Prognose; dennoch wollen fast alle auch bei einer schlechteren Aussicht ihre faire Chance. Zudem führt das Kriterium der „besseren Erfolgsaussicht“ zu einer strukturellen Benachteiligung jener Personen, die aufgrund ihres Alters, ihrer Behinderung oder ihrer Vorerkrankung besonders vulnerabel sind. Auch wenn diese nur als ein Faktor in die Erfolgsprognose eingehen und keinesfalls „pauschal“ zum Ausschluss führen sollen; dennoch belasten sie die jeweilige Erfolgsprognose. Bei einem Vergleich mit anderen müssen sie diesen Nachteil durch besonders begünstigende Vorteile an anderer Stelle ausgleichen.
Noch ethisch bedenklicher wirkt das Kriterium der „besseren Erfolgsaussicht“, wenn es im Verlauf einer Ex-post-Triage zum Behandlungsabbruch bei nach wie vor behandlungsgeeigneten Patientinnen und Patienten kommen sollte. Denn das sehen die Empfehlungen etwa der DIVI vor: Auch nach begonnener intensivmedizinischer Behandlung muss sich jeder Patient immer wieder dem Ranking der besseren Erfolgsaussicht stellen. Hat er oder sie nach wie vor eine Erfolgsaussicht, die zwar eine weitere Behandlung medizinisch rechtfertigt, die aber der besseren Erfolgsprognose eines neueingelieferten Patienten unterliegt, dann wäre die intensivmedizinische Behandlung abzubrechen und stattdessen eine palliative Versorgung einzuleiten (DIVI 2020). Was bedeutet es aber für die nunmehr Hintangestellten und ihre Angehörigen, wenn sie jederzeit befürchten müssen, dass der schlichte Zufall von Krankenhauseinweisungen ihnen besser prognostizierte Patienten an die Seite stellt und sie mit tödlichen Folgen aus dem Rennen des Überlebens drängt? Wer will ihnen oder ihren bangenden Angehörigen mitteilen, ihre durchaus noch erfolgversprechende Behandlung müsse abgebrochen werden, damit bei besser prognostizierten sich die eingesetzten Ressourcen ebenfalls besser rechneten? Zwar besteht kein Zweifel, dass das übliche Prinzip des „first-come-first-save“ tragische Situationen nicht verhindert. Es ist und bleibt immer bitter, zu spät zu kommen, nicht behandelt werden zu können und vom Schicksal in dieser Weise gestraft zu werden. Aber wird – im umgekehrten Falle – der später Genese ohne Bitternis sein Leben führen, wenn er weiß, dass sich dieser glückliche Umstand dem medizinisch nicht notwendigen Behandlungsabbruch und dem Tod eines vom Schicksal weniger begünstigten Patienten verdankt?
Die Diskussion um die neuen Kriterien medizinischer Triage bleibt nicht ohne Auswirkungen auf den „normalen“ Alltag der Langzeitpflege. Denn gilt das Kriterium der besseren Erfolgsaussicht, so werden an COVID-19 erkrankte Pflegebedürftige womöglich gar nicht mehr in intensivmedizinische Einrichtungen überstellt. Solche subtilen und von den Beteiligten oftmals nicht bemerkten Formen von Altersdiskriminierung, die sich in die Lagebeurteilungen von Pflegefachpersonen oder des medizinischen Personals einschleichen, können keinesfalls ausgeschlossen werden (Reiter-Theil und Albisser Schleger 2007). Ohnehin mag es verwundern, dass über die Hälfte der COVID-19-Toten in den Pflegeheimen gestorben sind, ohne vorher auf intensivmedizinische Abteilungen von Krankenhäusern verlegt worden zu sein.3 Zwar ist durchaus damit zu rechnen, dass eine Reihe der betroffenen Pflegebedürftigen eine Verlegung ins Krankenhaus oder intensivmedizinische Maßnahmen von sich aus ablehnen. Eine solche Willenserklärung ist ethisch wie rechtlich in jedem Fall bindend und deshalb unbedingt zu ermitteln und zu respektieren. In diesem Zusammenhang empfehlen mittlerweile viele medizinische und pflegerische Fachgesellschaften (DIVI 2020; DGP 2020), gerade im Rahmen eines Advance Care Planning die jeweiligen Präferenzen und persönlichen Priorisierungen der Pflegebedürftigen behutsam zu ermitteln und beispielsweise in einer Patientenverfügung schriftlich zu fixieren. Zwar ist ein solches „Behandlung im Voraus Planen“ durchaus ein probates Mittel, mit dem schwererkrankte Pflegebedürftige ihr Selbstbestimmungsrecht wirksam wahrnehmen können. Gleichwohl besteht die Gefahr, dass ältere Pflegebedürftige auf intensivmedizinische Behandlungsoptionen allein deshalb verzichten, um den Druck der Priorisierungsnotwendigkeiten abzumildern. Das aber wäre eine Form von prekärer Selbstbestimmung, der man um der Würde pflegebedürftiger Patienten willen gerade auch in allen Arrangements der Pflege entgegenwirken muss (Lob-Hüdepohl 2019).

2.5 Kurzer Ausblick: Pflegefachpersonen und An- und Zugehörige

Pflegebedürftige stehen zu Recht im Zentrum pflegeethischer Erwägungen. Das darf freilich nicht dazu führen, ihre wichtigsten Bezugspersonen aus den Augen zu verlieren: die Pflegefachpersonen ebenso wie die An- und Zugehörigen. Auch deren Situation hat sich durch die COVID-19-Pandemie erheblich verschlechtert. Jedenfalls konfrontieren erste empirische Befunde mit teils besorgniserregenden Tatbeständen: Knapp ein Viertel der Pflegefachpersonen zeigt starke Symptome vermehrter Depressivität, Angst oder Schlaflosigkeit (DGPf 2020, S. 25); Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Isolierbereichen und Intensivstationen („frontline healthcare professionals“) erleben die Zuspitzungen von andauernden Großschadensereignissen wie einer Pandemie als traumatisierend (DGP et al. 2020); An- und Zugehörige müssen wegbrechende ambulante Unterstützungsleistungen kompensieren, was insbesondere bei dementiell erkrankten Pflegebedürftigen zur signifikanten Zunahme von belastenden Gefühlen und Konflikten führt (ZQP 2020); und insbesondere in Situationen höchster Lebensbedrohung oder des Sterbens erfahren die aus Einrichtungen oder Intensivstationen ausgesperrten An- und Zugehörigen nicht nur ihre ganze Hilflosigkeit, sondern oftmals die Wucht eines schlechten Gewissens, ihre Angehörigen nicht einmal beim Sterben durch leibhafte Präsenz begleiten zu können.
Neben solchen Erfahrungen von Ohnmacht und Überforderungen stellen sich bei Pflegefachpersonen ebenso wie bei An- und Zugehörigen nicht selten die Gefühle von Schuld und Scham ein. In diesen Situationen ist es müßig darauf hinzuweisen, dass keinesfalls sie die dramatische Situation einer Pandemie verursacht haben und deshalb persönliche Schuld trifft. Doch Scham und Schuld folgen nicht immer dem Prinzip der persönlichen Verursachung eines Übels. Gerade Care-ethische Betrachtungen weisen auf die Bedeutsamkeit einer persönlichen Verantwortung hin, die sich allein von der Sorgebedürftigkeit eines Gegenübers in die Pflicht genommen weiß – völlig unabhängig davon, ob dessen Misere auf ein Fehlverhalten der Besorgten zurückzuführen ist oder nicht. Deshalb wird es gerade für Pflegefachpersonen darauf ankommen, sich von einer „Heldenmoral“ vermeintlicher Alleskönner zu verabschieden, an und vor der sie nur scheitern können. Stattdessen hätten sie die bleibende Begrenztheit und Kontingenz auch ihrer eigenen beruflichen Handlungskompetenz zu akzeptieren und deren Grenzen behutsam zu weiten.
Das entspräche der professionellen Grundhaltung einer ernsthaften Gelassenheit. Ernsthaft ist diese Gelassenheit, weil sie das Schmerzhafte alles Brüchigen und Verletzlichen nicht einfach beiseiteschiebt, sondern zum Anlass nimmt, die Dramatik und Tragik etwa einer COVID-19-Pandemie gerade für Pflegebedürftige soweit als möglich zu verhindern oder abzumildern. Alles andere wäre nur zynisch und obszön. Gelassen ist eine solche Ernsthaftigkeit aber darin, dass sie Allmachtsvorstellungen der eigenen Profession oder Allzuständigkeitserwartungen von Seiten Dritter zurückweist und stattdessen Räume eröffnet, in denen die Sprachlosigkeit von Schuld und Scham eine Sprache finden kann – und sei es im Modus jenes beredten Schweigens, dessen Trauer über die leidvoll erfahrenen Schicksale nur durch die protestierende Klage einer Fassungslosigkeit unterbrochen wird, die sich durch die Wucht von Priorisierungsentscheidungen und deren Schäden für die Pflegebedürftigen unweigerlich einstellt.
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Fußnoten
1
Irrigerweise wurde diese Strategie lange Zeit als social distancing bezeichnet. Freilich geht es ihr allein um die konsequente Vermeidung körperlicher Nähe bzw. Kontaktnahme, keinesfalls aber um die Vermeidung sozialer Kommunikation und Nähe (Lob-Hüdepohl 2020a).
 
2
Zum Folgenden ausführlich Lob-Hüdepohl 2020b.
 
3
Vgl. Robert Koch-Institut, COVID-19-Lagebericht vom 17.12.2020, S. 6. Zugegriffen: 18. Dezember 2020.
 
Literatur
Zurück zum Zitat BÄK (Bundesärztekammer) (2020) Orientierungshilfe der Bundesärztekammer zur Allokation medizinischer Ressourcen am Beispiel der SARS-CoV-2 Pandemie im Falle eines Kapazitätsmangels. (Zugegriffen: 7. November 2020) BÄK (Bundesärztekammer) (2020) Orientierungshilfe der Bundesärztekammer zur Allokation medizinischer Ressourcen am Beispiel der SARS-CoV-2 Pandemie im Falle eines Kapazitätsmangels. (Zugegriffen: 7. November 2020)
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Metadaten
Titel
Gerechte Priorisierungen?
verfasst von
Dr. Andreas Lob-Hüdepohl
Copyright-Jahr
2021
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-662-63107-2_2