Implikationen der Gendermedizin (Teil 2) Obwohl Frauen seltener in schwere Unfälle verwickelt sind als Männer, zeigen Trauma-Patientinnen häufiger schwerere Verletzungen. Doch das scheint kein Grund für eine bessere und raschere Versorgung zu sein. Studienergebnisse deuten an, dass das weibliche Geschlecht mit einem erhöhten Risiko für eine unzureichende Notfall-Versorgung assoziiert ist. Warum?
Das Geschlecht als zentrale Einflussgröße für die Erklärung von Unterschiedlichkeiten im Geschehen und Erleben von Krankheit und Gesundheit anzuerkennen, ist das Ziel der Gendermedizin. Hieraus ergeben sich auch Implikationen für die Notfallversorgung: Im Rahmen einer schwedischen Studie (n=383 Patienten) sollte untersucht werden, ob geschlechtsspezifische Unterschiede in der prähospitalen Versorgung von schwer verletzten Traumapatient*innen bestehen. Bei männlichen Patienten war die Wahrscheinlichkeit (OR), dass sie die höchste Prioritätsstufe der prähospitalen Versorgung erhielten, um 2,75 höher (95 %-KI: 1,2-6,2) als bei weiblichen Patienten, wenn der Verletzungsmechanismus und die Vitalparameter am Unfallort berücksichtigt werden. Männer erhielten vom Rettungspersonal signifikant häufiger die Versorgungspriorität 1 zugebilligt und wurden signifikant häufiger direkt in eine Traumaambulanz transportiert, so die zentralen Ergebnisse von Rubenson Wahlin et al. 2016.
Wer hat Vorrang?
Auch in einer Kohorten-Studie mit 26.861 Trauma-Patienten, in der untersucht wurde, welcher Einfluss dem Geschlecht beim Zugang zur Versorgung in einem Traumazentrum zukommt, wurden ähnliche geschlechtsspezifische Unterschiede dargelegt. Frauen wurden (bei gleichen Verletzungen) signifikant seltener in einem Traumazentrum behandelt als Männer (OR = 0,87; 95%-KI: 0,79-0,96) und signifikant seltener vom Einsatzort in ein Traumazentrum transportiert - unabhängig davon, ob der Rettungsdienst (OR = 0,88; 95%-KI: 0,81-0,97) oder Ärzt/innen (OR = 0,85; 95%-KI: 0,73-0,99) mit der Erstversorgung betraut waren (Gomez et al. 2012). Beide Studien berücksichtigten nicht das Geschlecht der Behandler. Aus anderen Versorgungsaspekten ist aber bekannt, dass der Einfluss des Geschlechts von behandelnden Ärzt*innen auf die Outcomes deutlich geringer ist als das Geschlecht der Patient*innen: So konnten Chen et al. (2008) nachweisen, dass bei akuten Abdominalschmerzen Frauen bei vergleichbarem Schmerz-Score signifikant seltener ein adäquates Analgetikum verschrieben bekamen als Männer, wobei jeweils das Geschlecht der Ärzt*innen die Wahrscheinlichkeit ein Schmerzmedikament verschrieben zu bekommen nicht signifikant beeinflusste.
Notfallversorgung und Geschlechts-Stereotype
Vermutlich sind die beobachteten geschlechtsspezifischen Unterschiede beim Zugang zur Versorgung in Traumazentren multifaktoriell bedingt. Bewusste oder unbewusste geschlechtsspezifische Voreingenommenheit auf Seiten der behandelnden Ärzt*innen wurde dabei auch als mögliche Ursache für die beobachteten geschlechtsspezifischen Unterschiede identifiziert: Borkhoff et al. (2008) untersuchten, ob die Entscheidung, Patient*innen für eine Knie-Totalendoprothese zu überweisen oder diese durchzuführen, von deren Geschlecht beeinflusst wurde. Nach Auswertung der Daten von standardisierten Patient*innen mit identischen klinischen Szenarien, die sich nur hinsichtlich des Geschlechts unterschieden, empfahlen sowohl Hausärzt*innen als auch orthopädische Chirurg*innen Männern eher eine Knie-Totalendoprothese als Frauen. Unklar blieb, ob die Entscheidung auf einer bewussten Diskriminierung rekurrierte oder auf einen unbewussten Unterschied in der Wahrnehmung des potenziellen Nutzens.
Einfluss auf die Ungleichbehandlung von Frauen und Männern nehmen Geschlechts-Stereotype, die im Rahmen der Sozialisierung von uns allen erlernt wurden und die in sozialen Diskursen unbewusst reproduziert werden (Eckes 2008). Zu den Stereotypen das männliche Geschlecht betreffend gehört die Annahme, dass Männer häufig kränker sind als sie zugeben und daher bei einem Unfall mit höherer Priorisierung eine Traumaversorgung benötigen (Feykes, 2021). In der Tat ist aus Studien bekannt, dass das männliche Geschlecht mit einem höheren Risiko für Unfälle assoziiert ist und demnach auch mit einem höheren Risiko für Traumata (Rubenson Wahlin et al. 2016). Die Versorgung von Unfällen ist aber nur ein Teil des Versorgungs-Repertoires der Notfallmedizin. Eine retrospektive Studie aus Düsseldorf ergab, dass von 43.821 Patientenkontakten der zentralen Notaufnahme des dortigen Universitätsklinikums der Anteil an weiblichen Patienten 48% betrug, Frauen und Männer sich hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit, eine notfallmedizinische Betreuung zu benötigen, ergo nicht unterscheiden (Michael et al. 2023).
Zu den das weibliche Geschlecht betreffenden Stereotypen gehört die Annahme, dass Frauen bei der Schilderung von Symptomen übertreiben, sie also weniger krank sind als sie kommunizieren. Dies hat zur Folge, dass (bei gleichen Krankheitsbildern) Beschwerdeäußerungen von Frauen häufiger als psychovegetative Störungen diagnostiziert und mit der Verordnung psychoaktiver Substanzen therapiert werden und Frauen bei gleicher Symptomatik häufiger eine psychische, Männer hingegen eine somatische Diagnose erhalten (Sieverding & Kendel, 2012). Für die Notfallversorgung resultiert hieraus, dass Frauen mit Verdacht auf Myorkardinfarkt eine signifikant niedrigere Priorität für den Rettungsdienst haben als Männer, was mit einer signifikant längeren Gesamt-Ischämiezeit und entsprechend ungünstigeren Outcomes (z.B. bezogen auf die Mortalität) verbunden ist (Melberg et al. 2013).
Geschlechterstereotype führen zu geschlechtsspezifischer Kategorisierung, die als adaptive Strategie darauf abzielt, kognitive Ressourcen durch Vereinfachung komplexer Situation freizusetzen, um eine schnelle Entscheidungsfindung zu ermöglichen. Im Kontext von rettungsdienstlichen Einsätzen müssen Patient*innen in Situationen, die für das Rettungsdienst-Personal mit hohem Stress und Zeitdruck verbunden sind, schnell in Behandlungspfade eingeordnet werden. Geschlechter-Stereotype und die daraus resultierende Voreingenommenheit können dazu führen, dass Frauen in weniger dringende oder sogar nicht traumaspezifische Behandlungspfade eingeteilt werden (Gomez et al. 2012; Macrae et al. 1994).
Die Folge: Schlechtes Outcome
Aus der ungünstigeren Priorisierung im Rahmen der Notfallversorgung ergeben sich für Frauen häufig schlechtere Outcomes: So ist das weibliche Geschlecht bei Traumapatient*innen mit einer höheren Mortalität verbunden, obwohl Frauen seltener in schwere Unfälle verwickelt sind als Männer. Weibliche Trauma-Patienten zeigen schwerere Kopfverletzungen, häufiger Wirbelsäulen- und Beckenverletzungen und werden bei Autounfällen häufiger eingeklemmt - u.a., weil die Ergonomie von Autositzen selten geschlechtsspezifisch, sondern auf die Physiologie des männlichen Köpers passend entwickelt wurde (Schoeneberg et al. 2013; Nutbeam et al. 2022). Im Rahmen der Notfallversorgung erhalten Frauen dann seltener die oberste Priorität zugeordnet und werden seltener leitliniengerecht traumatologisch versorgt, erhalten im Vergleich zu männlichen Traumapatienten aber auch seltener Infusionen verabreicht (Schoeneberg et al. 2013; Gomez et al. 2012).
Notfallversorgung nur wenig geschlechtssensibel organisiert
Studien deuten an, dass das Geschlecht der Patient*innen also Einfluss darauf nimmt, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine leitliniengerechte traumatologische Versorgung erfolgt bzw. mit welcher Priorität eine Einweisung in die Notfallambulanz durchgeführt wird. Eine mangelnde geschlechtsspezifische Notfallversorgung resultiert auch daher, dass das Rettungswesen bis vor wenigen Jahren männlich dominiert war, nicht nur bezogen auf die Geschlechtsverteilung innerhalb der beteiligten Berufsfelder (Notärzt*in, Notfallsanitäter*in, Rettungssanitäter*in), sondern auch bezogen auf die in der Ausbildung vermittelten Standards: So nahmen Lehrbücher beispielsweise bei der Beschreibung des Myokardinfarkts insbesondere auf Symptome Bezug, die sich bei Männern zeigen (Klimmer 2021), obwohl bekannt ist, dass sich Männer und Frauen bei der Leitsymptomatik unterscheiden (Keteepe-Arachi & Sharma 2017).
Auch dem Handeln von Professionellen im Gesundheitswesen liegen unbewusst Geschlechterstereotype zugrunde, die in der Notfallversorgung dazu beitragen, dass Frauen seltener eine adäquate Versorgung erhalten. Für alle am Rettungswesen beteiligten Berufsgruppen ergibt sich daraus die Notwendigkeit, für eine geschlechtssensible Versorgung sensibilisiert zu werden. Dies setzt erstens eine Reflexion darüber voraus, wie tagtäglich im Versorgungsalltag geschlechtsbezogene Ungleichheit reproduziert wird (Chang & Yang 2021; Stommel et al. 2022). Zweitens muss vermittelt werden, dass sich Frauen und Männer in ihrer Art zu kommunizieren, unterscheiden und zwar sowohl auf Ebene der Patient*innen als auch auf Ebene der Professionellen: Das Geschlecht der Patient*innen hat Einfluss darauf, wie Beschwerden verbal und nonverbal kommuniziert werden und damit, welche Behandlungspfade eingeschlagen werden (Bensing et al. 2005). Gleichzeitig beeinflusst das Geschlecht von Ärzt*innen die Art der Informationen, welche Patient*innen in der Anamnese kommunizieren (Roter et al. 2002). Schon im Studium unterscheiden sich die Kommunikationskompetenzen von weiblichen und männlichen Medizinstudierenden (Graf et al. 2017), für die Pflege sind ähnliche wechselseitige Effekte anzunehmen. Daher sind Aspirant*innen im Rahmen der Ausbildung bzw. des Studiums für die Aspekte der Gendermedizin zu sensibilisieren.
Versorgung im Kreißsaal
Besonders interessant ist nicht zuletzt die Betrachtung von Akutversorgungsbereichen im klinischen und ambulanten Kontext, die nahezu ausschließlich Frauen offenstehen, wie der Kreißsaal oder Geburtshäuser. Gendereffekte nehmen Einfluss auf den gesamten Versorgungsalgorithmus, also auch bei Schwangeren auf die Phase vor Erreichen des Kreißsaales oder der Notfallambulanz. Auch in der Schwangerschaft kann es zu Notfallsituationen kommen, wobei noch nicht untersucht ist, inwiefern Geschlechtsstereotype hier auf die prähospitale Versorgung bzw. dessen Dauer Einfluss nehmen. Bei Verdacht auf Myokardinfarkt konnte festgestellt werden, dass das Eintreffen von Krankenwagen bzw. erstem medizinischen Kontakt nach Absetzten des Notrufes signifikant länger dauert, wenn die Person, die den Notruf sendet, weiblich ist (Sederholm Lawesson et al. 2018). Zu beachten ist zudem, dass besonders im deutschsprachigen Raum die meisten Begriffe der Geburtshilfe frauenbezogen sind, obwohl genderspezifische Risiken auch auf Transpersonen zutreffen. Lösungsansätze werden beispielsweise seit 2019 in Berlin versucht, wo ein transsensibles und queerfeministisches Hebammenkollektiv die queere Community in einer vulnerablen Lebensphase begleitet (Kaempf et al. 2022).
Die Literatur finden Sie online und im eMag der PflegeZeitschrift